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gegen würde dem Fortschritt ein Hemmschuh angelegt, wenn jede neue Schöpfung noch abhängig gemacht werde von der besondern Zustimmung des Volkes. Es sei auch ein Ding der Unmöglichkeit, dem gemeinen Manne, der sein Brod sauer verdienen muss, zuzumuthen sich über Rechtsmaterien, technische Fragen u. s. w. auszusprechen, bezüglich deren ihm jede nähere Kenntniss abgehe. Die blosse Belehrung in Vereinen und der Presse könne diesfalls kaum genügen. Die grosse Mehrzahl werde einzig und blindlings nach der Parole stimmen, die von Leuten ausgehe, welche an der Spitze einer Partei sich befinden und dabei oft andere Zwecke verfolgen, als nur jene, die Gesetzes vorlage auf ihre materielle Güte und Nützlichkeit für das allgemeine Wohl zu prüfen. Das Referendum, wenn es in kleinern Kreisen von Bürgern desselben Kantons ausgeübt werde, habe zudem einen andern Sinn als im Bunde, wo betreffend Abstammung, Sprache, Sitte, Konfession und Bildungsgrad der Menge die verschiedenartigsten Verhältnisse bestehen. Uederdiess walte die besondere Gefährde, dass aus ökonomischen Gründen Gesetze verworfen würden, die im Geiste des Fortschritts erhöhte Opfer fordern. Es habe sich bisher noch nie ein Zwiespalt zwischen dem Volke und seinen Vertretern geltend gemacht, der die Einführung des Referendums als wünschenswerth darstellen. würde. Die in den Kantonen gemachte Erfahrung spreche selbst auch dagegen, im Referendum ein Werkzeug des Fortschritts begrüssen zu können; diese rathe vielmehr dazu, bei dem Repräsentativsystem stehen zu bleiben, mit welchem man in stetiger Weise vorwärts kommen könne, während das Volk in seiner freien und selbständigen Wahl der Vertreter seine richtige Stellung wahren könne. *)

Man hätte nun annehmen können, die ultramontane Partei in den eidgenössischen Räthen werde gleichfalls an dem bisherigen Repräsentativsystem voll und ganz festhalten. Dem war aber nicht

Dieselbe war bereit, das Referendum anzunehmen, jedoch in dem Sinn, dass solches gleichzeitig dem Volk und den Kantonen eingeräumt werde, wovon wir später sprechen werden. Sie schloss sich bei der Schlussabstimmung in den Räthen der Beibehaltung des bisherigen Repräsentativsystems nur deswegen an, weil neben *) Pr. Nat. R. 1871, S. 430-435, 437-439, 444-446. - Pr. Nat. R.Komm. 1873, S. 50. Pr. Nat. R. 1873/74, S. 210, 211, 225, 226.

dem Volksreferendum ein besonderes Ständereferendum nicht beliebt worden.

Wesentlich unter der Anführung der beiden grossen Kantone Bern und Zürich mit wirksamer Unterstützung Seitens der Vertretung des demokratischen Kantons Glarus (Landammann Heer) wurde dem gegenüber die Nothwendigkeit eines für direkte Betheiligung des Volkes an der Gesetzgebung zu machenden Zugeständnisses warm befürwortet. Man stehe vor einer politischen Nothwendigkeit. In der derzeitigen Revisionsbewegung habe man nur eine Fortsetzung derjenigen von 1830 zu erkennen, welche in dem Satz gipfle, dass das Volk König sein müsse. In der Regenerationsperiode habe man geglaubt, die Verwirklichung der Staatsidee in dem Repräsentativsystem gefunden zu haben. Der jenem System zu Grunde liegende Gedanke habe sich jedoch zur Demokratie fortentwickelt, welche in einer Reihe von Kantonen Eingang gefunden und Wurzeln geschlagen habe. Nachdem die Kantone St. Gallen (1830) und Schaffhausen (1852) das Veto eingeführt, seien seither 9 andere Kantone zum Referendum übergegangen, und hätten, soweit es Finauzfragen betreffe, 3 Kantone der französischen Schweiz (Waadt, Wallis und Neuenburg) die Mitwirkung des Volkes gleichfalls in die Verfassung aufgenommen. So lange das Repräsentativsystem in den meisten und grössten Kantonen vorgewaltet, habe dasselbe auch im Bunde seine richtige Stellung gehabt. Nachdem nun aber die Demokratie dort das Uebergewicht errungen, werde der Bund nachfolgen müssen, wenn er seinen Einfluss bewahren wolle, selbst wenn diese Nachfolge mit Schwierigkeiten verbunden sei. Wie die frühern Bestrebungen in der Bundesverfassung von 1840 ihren Ausdruck gefunden, so müsse es auch jetzt geschehen, wenn die Verfassung Halt haben solle. Es sei übrigens kaum zu erwarten, dass, nachdem die Betheiligung des Volkes an der Gesetzgebung, in der Form des Referendums in den meisten Kantonen festen Fuss gefasst, eine weitergehende Centralisation und Abtretung von Rechten an den Bund in der Volksabstimmung durchdringe, wenn nicht gleichzeitig eine Erweiterung der Volksrechte anerkannt werde. Freilich werde man in der Gesetzgebung etwas langsamer vorwärts kommen und sei es auch richtig, dass nach den bisherigen Erfahrungen in den Kantonen selbst gute Gesetze bei Volksabstimmungen Schiffbruch erlitten

hätten. Allein solchem Umstande dürfe man nicht zu grosses Gewicht beilegen. Denn schon oft habe man sich bei ruhiger Ueberlegung gestehen müssen, dass das Volk doch nicht zu so gross Unrecht gehabt hatte, wenn es auf manche noch so gut gemeinte Gesetze nicht eingetreten, indem dieselben eben jeweilen nicht allen Verhältnissen genügende Rechnung getragen. Im Uebrigen sei die Heranziehung des Volkes zum Ausbau der Gesetzgebung nicht allein ein Bildungsmittel für dasselbe von hoher politischer Bedeutung, sondern werde dasselbe auch ein treffliches Mittel sein, dem Staate gegen politische und soziale Stürme die nachhaltigste Sicherheit zu gewähren.

Das Gefühl, dem Zuge der Zeit nachgeben und dem kräftiger gewordenen demokratischen Volksgeiste Rechnung tragen zu müssen, wie auch die Befürchtung, ohne daheriges Zugeständniss das ganze Referendumswerk mit allen seinen gehofften segensreichen Folgen neuerdings scheitern zu sehen, gaben den Ausschlag. Schon in dem von beiden Räthen im Jahr 1872 angenommenen Revisionsentwurf war der Grundsatz der vom Volke auszuübenden Betheiliguug an Erlassung der Gesetze aufgenommen worden, freilich im Nationalrathe bei erster Schlussabstimmung, bei gleichstehenden Stimmen 52 gegen 52, nur durch den Stichentscheid des Nationalrathspräsidenten Brunner von Bern. Bei der Revisionsberathung von 1873/74 unterlag der Versuch an dem reinen Repräsentativsystem voll und ganz festzuhalten, im Nationalrath neuerdings mit 46 gegenüber 72 Stimmen, und wurde damals im Ständerath ein gegentheiliger Antrag selbst nicht einmal mehr gestellt. *)

Eine zweite Frage war jedoch, in welcher Weise diese Betheiligung des Volkes sich geltend machen sollte, ob in der Form des Veto, nach welchem ein Gesetz als angenommen betrachtet wird, wenn innert einer gewissen Zeitfrist von dessen Veröffentlichung an nicht von der Mehrheit der stimmfähigen Bürger Einsprache (Veto) dagegen erhoben wird, oder in der Form des obligatorischen Referendums, der direkten Abstimmung des Volkes über jede Gesetzesvorlage. Das erstere System, trotzdem es im Nationalrathe, wie in der ständeräthlichen Kommission, beredte

*) Pr. Nat. R. - Komm. 1871, S. 165. Pr. Nat. R. 1871, S. 4, 416, 417, 424, 428, 442, 450-454, 464. Pr. Nat. R. - Komm. 1873, S. 49-52. Pr. Nat. R. 1873, S. 16, 17, 216, 227.

Vertreter gefunden hatte, war schon in der Revisionsperiode von 1871/72 fallen gelassen worden, im Nationalrathe mit 69 gegen 19 Stimmen. Die Gründe, aus denen diess geschah, waren folgende. Das Veto trage einen bloss negativen Charakter, weil nur auf Verwerfung gerichtet, gebe keinen richtigen Ausdruck des wahren Volkswillens, indem es auf die Indolenz eines grossen Theils der Bürger spekulire und gleichzeitig annehme, dass diejenigen, die nicht »Nein« sagten, mit Allem einverstanden seien. Es rufe zudem in weit höherem Masse als das Referendum der Agitation und dem Apell an die Leidenschaften, ohne die Vorzüge damit zu verbinden, die dem Referendum eigen sind; überhaupt habe sich das Veto überlebt und sei darum auch in den Kantonen vom Referendum überholt worden. Nachdem im Nationalrathe das Veto mit so grosser Mehrheit abgelehnt worden, kam man im Ständerath auf dasselbe nicht mehr zurück und wurde auch in der Revisionsperiode 1873/74 in keinem der beiden Räthe ein hierauf zielender Antrag mehr gestellt. *)

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Dagegen wurde von Anfang an dem obligatorischen Referendum (Vorlage sämmtlicher gesetzlicher Erlasse an das Volk zur Annahme oder Verwerfung) das sogenannte fakultative Referendum entgegengestellt, dahin gehend, dass eine Volksabstimmung nur dann geschehen solle, wenn eine bestimmte Anzahl von Bürgern oder Kantonen solches verlangen würde. Hier entbrannte nun nochmals, wie bei der Frage über Beibehaltung des bisherigen Repräsentativsystems, ein grosser Kampf, ob die Volksabstimmung obligatorisch zu erklären sei und andererseits, ob eine Abstimmung über Annahme oder Verwerfung der Gesetze einzig vom Volke oder auch unter den Kantonen (Ständen) stattzufinden habe, der Art, dass ein Gesetz nur dann als angenommen betrachtet werden dürfe, wenn es die Zustimmung nicht allein von der Mehrheit des Volkes, sondern auch der Mehrheit der Kantone gefunden habe. Letztere Richtung wurde von der föderalistischen Partei vertreten, vorab von einem grossen Theil der Abgeordneten der welschen Schweiz, welche wegen Beschränkung der Souveränität der Kantone ihre Befürchtungen hegten und in dieser Beziehung den Vertretern der ultramontanen Partei erwünschte *) Pr. Nat. R. - Komm. 1871. S. 158, 159. Pr. St. R.-Komm. 1871, Pr. Nat. R. 1871, S. 417, 421, 423, 425, 458.

S. 60.

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Unterstützung verschafften, wenn auch theilweis in Begründung abweichend. Und zwar war diess geschehen sowohl in der Revisionsperiode von 1871/72, wie in derjenigen von 1873/74.

Die

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Zur Rechtfertigung des Ständevotums wurde angeführt: Situation der grossen und kleinen Kantone sei gegenüber dem ausschliesslichen Volksreferendum eine gänzlich verschiedene. Die Bevölkerung eines grossen Kantons könne durch ihre Stimmabgabe ihr Eigenwesen, ihre Ueberlieferung, wie ihre Wünsche, mit ganz anderer Wucht zur Geltung bringen, während die Volksstimme kleinerer Kantone vollständig majorisirt und ganze Gruppen derselben durch die Stimmabgabe eines einzigen grossen Kantons absorbirt würden. Bei der Zusammensetzung des Ständerathes, ohne Standesinstruktion, könne die wirkliche Standesstimme nur durch das Standesvotum zu ihrem wirklichen Ausdrucke gelangen. Zur Zeit des frühern Staatenbundes habe in der Eidgenossenschaft die Souveränität unbestritten auf den Ständen beruht, welche damals nur eine Geschäftsführung, jedoch keine Bundesgewalt im konstitutionellen Sinn des Wortes gehabt hätten. Auch nach der Bundesverfassung von 1848 gebe es kein souveränes Schweizervolk, das einen realen Begriff bilden würde, sondern nur souveräne Kantone, von denen einzelne ihrer Souveränitätsrechte zu Gunsten der Bundesgewalt abgelöst worden seien. In diesem Bundesstaate seien der Bund und die Stände das Subjekt, und diese Faktoren müssten gleich repräsentirt sein. Laut Geschichte, wie gemäss Art. 1 der bestehenden Bundesverfassung, sei die Gliederung der Eidgenossenschaft eine zweitheilige: die Mehrheit des Volkes und die Mehrheit der Stände, und demgemäss habe Uri in einzelnen Fällen so viel zu bedeuten als das grosse Bern. Rüttle man an diesem Prinzipe, so eile man dem Einheitsstaate zu. Der leitende Gedanke in Europa sei zwar wohl derzeit ein demokratischer und drehe sich die ganze soziale und politische Wissenschaft um die Organisation der Demokratie. Es gebe aber auch eine absolute Demokratie, von welcher uns namentlich Frankreich ein Abbild geliefert. Gegen solche absolute Demokratie gebe es kein wirksameres Mittel als die föderative Republik, welche der Schweiz in providentieller Weise zum Angebinde gegeben worden, und welche als der Moderator der kantonalen Verfassungen zu erkennen sei. Diese wesentliche Grundlage unserer Republik würde in ihrem

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