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Ich glaubte, die ästhetischen Schöpfungen mit den wissenschaftlichen darum zusammenstellen zu dürfen, weil ihnen beiden jenes Moment psychischer Erregung und äusserster Reizbarkeit gemeinsam ist, welches die Gegensätze und die entferntesten Dinge einander nähert und den zweifelhaften neues Leben einhaucht, kurz jenes treffend als schöpferisch bezeichnete befruchtende Etwas, worin Dichter und Gelehrte einander näher stehen, als man gemeinhin annimmt.

Welch hoher Gedankenflug offenbart sich nicht in den Experimenten Spallanzanis, in den ersten Versuchen Herschels und in Schiapparellis und Leverriers grossen Entdeckungen, die ihr Entstehen einer Hypothese verdanken, welche Berechnung und Beobachtung in Grundsätze verwandelten! Die Entdeckung der Vesta, sagt LITTROW, ist weder ein Werk des Zufalls, noch auch des Genius allein, sondern des vom Zufalle begünstigten Genius. Der Stern, den Piazzi entdeckte, war schon von Zach gesehen, aber nicht beachtet worden, vielleicht weil Zach weniger Genie als Piazzi, oder gerade damals weniger Scharfblick hatte. Zur Entdeckung der Sonnenflecken, schreibt SECCHI,2 gehörte Zeit, Geduld oder Glück, jedoch bedurfte es des Genies für die wahre Theorie.

Wie vielen gelehrten Physikern, bemerkt dazu ARAGO, die einen Fluss entlang gefahren sind, hat nicht das Hin- und Herwehen der auf dem Mast der Barke befindlichen Fahne auffallen müssen, ohne dass sie, wie Bradley, das Gesetz der Abweichung vom normalen Zustande entdeckten.

Und wie viele Künstler, könnte man hinzusetzen, waren in der Lage, hässliche Köpfe von Lastträgern oder Orangen zu schauen, ohne dass in ihnen der Plan zu einem „Judas“, wie der Leonardo da Vincis, oder zur Schöpfung einer Arie, wie die in Mozarts Don Juan", aufstieg!

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Es gilt indes noch einen letzten und zwar einen scheinbar ernsteren Einwand. Fast alle grossen Geistesschöpfungen und Entdeckungen der modernen Physik sollen nämlich das

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Endergebniss eines langsamen und fortgesetzten Denkprozesses des Gelehrten, und sogar seiner Vorgänger sein. Sie würden also eine Art Sammlung bilden, deren Chronologie zu bestimmen deshalb schwierig wäre, weil das Datum, daran wir uns halten, eher das ist, welches den Augenblick der Geburt anzeigt, als den des Gedankens.

Ein solcher Einwand jedoch würde nicht bloss auf unseren Satz anwendbar sein; vielmehr kann man von allen menschlichen Erscheinungen, selbst von den plötzlichsten, behaupten, dass sie in diese Kategorie gehören. Die Befruchtung selber ist eine mit der Ernährung und Erblichkeit des organischen Wesens eng verknüpfte Erscheinung, Tod und Wahnsinn stehen selbst da, wo sie durch plötzliche oder zufällige Umstände veranlasst werden, einerseits mit den Lufterscheinungen und andererseits mit den Zuständen der Organe in Beziehung, so dass sich das genaue Datum in sehr vielen Fällen von der Geburt an nachweisen lässt.

Zweites Kapitel.

Klimatische, meteorologische und sociale Einflüsse
auf das Entstehen begabter Männer.

Nach BUCKLE liefern die Länder mit feuerspeienden Bergen die meisten Künstler; durchaus anders verhält es sich betreffs der Gelehrten.1

In einer vor kurzem erschienenen sehr schönen Schrift behauptet JACOBY, die meisten Intelligenzen seien in den dichtbevölkerten Städten zu finden.2

Es ist unleugbar, dass die Rasse (bei uns z. B. in den Ländern lateinischer und griechischer Rasse, die einen Ueberfluss an bedeutenden Männern haben), die politischen und

1

BUCKLE, Hist. of civiliz., I.

2 JACOBY, Étude sur la Sélection etc., Paris 1881.

wissenschaftlichen Kämpfe, der Reichthum, die litterarischen Mittelpunkte einen grossen Einfluss auf das Erscheinen begabter Männer ausüben. Wer kann leugnen, dass die politischen Kämpfe im Verein mit einer unbegrenzten Freiheit zu Athen, Siena und Florenz dazu beigetragen haben, in alten Zeiten eine grössere Fülle von Genie ans Tageslicht zu fördern, als zu anderen Zeiten und in anderen Ländern?

Gedenkt man indes des mächtigen Einflusses der Meteore auf das geistige Schaffen, so steht es unzweifelhaft fest, dass den atmosphärischen und klimatischen Verhältnissen die wichtigere Rolle zufällt.

1. Grosse Centren. Rasse und warmes Klima. Um uns ein Bild davon machen zu können, ist es erforderlich, die Vertheilung der grossen Künstler auf Europa, und namentlich auf Italien, uns näher anzusehen.

Als Material benutzte ich für Musik die Arbeiten von FETIS1 und CLÉMENT, für Malerei und Bildhauerei die beiden Wörterbücher TICOZZIS. Das Ergebniss lautet:

3

Musiker in Europa:

1

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Biographie universelle des musiciens, Paris 1868-80.

Histoire des musiciens célèbres, Paris 1878.

3 Dizionario dei pittori (italiani) 1858.

Die Länder mit der grössten Anzahl Musiker wären hiernach nächst Italien: Belgien, Deutschland und Frankreich; diejenigen also, in denen die Bevölkerung eine dichtere ist; die an Musikern ärmsten: Irland, Russland und Schweden, die beiden letzteren mit sehr schwacher Bevölkerung. Vergleicht man die schwachen Prozentsätze Spaniens und Griechenlands mit denen Deutschlands, so erscheint der Einfluss, welchen der vulkanische Boden und die lateinische Rasse ausüben, sehr gering.

Betrachtet man dagegen die Vertheilung der Künstler auf die verschiedenen Theile Italiens1 etwas genauer, so sieht man sofort, dass die heissesten, festländischen Gegenden die erste Stelle einnehmen. Danach kommt die Emilia und Venetien. In bemerkenswerth schwacher Weise sind Piemont, die Marken und Umbrien vertreten; Sardinien fehlt vollständig. Aber obgleich die Ziffern grösser sind, kann man sich bezüglich des horographischen Einflusses eine genügend richtige Ansicht doch nur durch Vergleichung mit den Zahlen der einzelnen Bezirke bilden.

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Da sehen wir die volkreichsten Centren, wie fast alle Provinzen mit grossen Städten, ausgenommen Piemont, Sardinien und Sizilien, in bemerkenswerther Weise vertreten. Beispielsweise Neapel, Rom, Venedig, Mailand, Bologna, Florenz, Lucca, Parma und Genua, also die erwiesenermaassen gesunden, warmen, am Meere und hauptsächlich hochgelegenen Orte. Hier macht sich dieser Einfluss sogar dem der Civilisation und des Zusammenströmens von Menschen gegenüber geltend. Das Verhältniss der grossen Städte ist hier wie 7:9. In der That sehen wir in zweiter Reihe andere wichtige Städte oder grosse Seecentren, besonders in den vulkanischen Gegenden: Palermo, Bari, Catania, daneben aber auch die Gebirgsorte: Bergamo, Brescia, Verona, Vicenza, Perugia, Siena. Der ethnische Einfluss ist hier nicht recht ersichtlich. Andererseits lässt sich die Armuth der Sardinier, Calabresen und Sicilianer an Musikern, besonders in den wärmsten Orten, nur daraus erklären, dass die berberischen und semitischen Stämme die Kunst nicht pflegten.

Dagegen scheinen die Völker griechisch-römischen und etruskischen Stammes damit besser ausgestattet zu sein, wie dies Neapel, Rom, Lucca und Bologna beweisen.

Von der Wirkung der Erdbeben, die nach BUCKLE den Hauptantheil an der Kunst haben soll, ist wenig zu spüren. Wenn auch Neapel und Aversa (was sich zur Genüge aus der Bevölkerung und dem Klima erklärt) hierin die erste Stelle einnehmen, so passt dies doch nicht auf Calabrien, trotzdem dieses Land von zahllosen Erdbeben heimgesucht wird.

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Grosse Meister. Zunächst ist zu bemerken, dass die Quantität nicht immer der Qualität entspricht. Bellinis und Rossinis Heimath z. B. dürfte zu den unfruchtbarsten Centren gehören. Ein grosser Mann wiegt allerdings Hunderte solcher künstlerischen Mittelmässigkeiten auf, welche die Masse, eine fast unbekannte und vergessene Masse ausmachen.

Vergleicht man damit den Prozentsatz der bedeutenden Komponisten, so ergiebt sich, dass die begünstigtsten Orte die warmen, am Meere gelegenen sind; im besonderen gilt dies von

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