Page images
PDF
EPUB
[blocks in formation]

Daraus scheint sich zu ergeben, dass ziemlich viele Geisteskranke von geistvollen Menschen abstammen. Die Zahl der Geschwister von begabten Irren bestätigt diesen Einfluss noch. mehr, sie übertrifft die des Selbstmordes, der Trunksucht und des Verbrechens bei Geschwistern.

Unter 22 Fällen erblichen Irreseins haben Aubanel und Thoré 2 Fälle bei Söhnen von Genies verzeichnet. (RIBOT, 1. c. S. 171.)

Auch den Alten war die Sache nicht unbekannt.

Der sehr originelle Alexander Tassoni behandelt in seinen Pensieri diversi 1621 die Frage: Wie kommt es, dass geistreiche Väter sehr dumme Kinder und dumme Väter sehr kluge Kinder haben? Unter den erstern zählt er auf: den Sohn des Scipio Africanus, des Antonius, Ciceros, Agrippa Posthumus, Claudius des Drusus, Caligula des Germanicus, Commodus, Marc Aurels Sohn, Lamprocles Socrates, und Arideus, Philipps Sohn.

Gelegentlich vieler auffälligen Aeusserungen von gelehrten Zeitgenossen kommt er zu dem Schluss, bei vielen grossen Männern seien die Lebensgeister mehr oder weniger im Gehirn zusammengedrängt, um dasselbe zu stärken und zu geistigen. Kraftäusserungen zu befähigen; da aber zu diesem Zwecke Blut und Same kalt und schläfrig (!) blieben, so folge daraus, dass die Kinder, besonders die Söhne, zur Dummheit neigen.

5. Das Alter der Eltern hat ausser den sonstigen erblichen Einflüssen, die unserem Einblick entgehen und sich nur ahnen lassen, grosse Bedeutung. Marro hat gezeigt, dass

1 MEYNERT, Jahresber. für Psychiatr., Wien 1880.

der Einfluss des reifern Alters der Eltern auf die Intelligenz und den Irrsinn der Kinder nicht zu unterschätzen ist.1

Die Zahl der Genies und Talentvollen, die von bejahrteren Vätern herstammen, ist gross. Z. B. Napoleon I., Sciacci, Bizzozzero, Rochefort, Dumas der Aeltere, A. Jussieu, Balzac, J. Cassini, C. Vernet, B. Disraeli, H. Walpole, W. Pitt, L. Racine, Adler, Auriac, Béclard, Schopenhauer. Von jungen Vätern stammen: Friedrich II., Victor Hugo, De Girardin, Arnoth, Barral, Bertillon, Bezabrasof, Ségur.

Dieser Einfluss macht seinerseits die Langlebigkeit der Männer von Geist erklärlich.

6. Empfängniss. DE CANDOLLE spricht von dem Einfluss, welchen heftige Leidenschaft der Eltern bei der Zeugung auf die Söhne haben kann und erinnert dabei an die genialen Bastarde.

Erasmus rühmte sich seiner unehelichen Geburt, dass er nicht der Langeweile der ehelichen Pflicht seinen Ursprung verdanke. Isaac Disraeli schrieb im Toland: „Die aussereheliche Geburt schafft starke und entschlossene Charaktere." Unehelich waren Themistocles, Karl Martel, Wilhelm der Eroberer, der Herzog von Berwick, den MONTESQUIEU einen ganzen Mann nennt, Leonardo da Vinci, Boccaccio, A. Dumas, Cardanus, D'Alembert, Savage, Prior, De Girardin, La Harpe, Alexander Farnese, Don Juan d'Austria, Dupanloup.

Dasselbe ist der Fall mit den Irren und Degenerirten.3 Newton wurde nach zweijähriger, erzwungener Enthaltsamkeit seiner Eltern gezeugt. Man erkennt daraus, dass wir noch nicht alle die zahlreichen Quellen für erbliche Beeinflussung des Genies aufzudecken vermochten.

Denkt man an alle die Männer von Geist, die von brustkranken oder trunksüchtigen Eltern gezeugt worden sind,

1 MARRO, I caratteri dei delinquenti, 1887.

2 Histoire des Sciences, Genéve 1883.

3 Einen Sohn Ludwig XIV. und der Montespan nannte man wegen seiner beständigen Traurigkeit den Sohn des Jubiläums, da er in der Bussezeit der Jubiläumsfeier gezeugt war. DÉJERINE, L'Hérédité dans les maladies du syst. nerv., 1886.

bedenkt man ferner, wie diese beiden Entartungszustände bei den Nachkommen häufig in moralische Entartung sich umsetzen, so gewahrt man schon, dass es noch andere erbliche Ursachen für das Genie geben kann, die dem gewöhnlichen Beobachter entgehen und deshalb wenig gekannt sind.

Viertes Kapitel.

Einfluss von Krankheiten des Rückenmarkes, von Fieber, von Kopfverletzungen. Beziehnngen zum Genie.

[ocr errors]

GÉRARD DE NERVAL sagt in seinem Buche „Traum und Leben", dass er oft in einem krankhaft erregten Seelenzustande arbeite und dass der alte Satz mens sana in corpore sano unrichtig sei, weil viele bedeutende Geister in einem schwachen und kranken Körper stecken.

1

Conolly behandelte einen Kranken, dessen Intelligenz bei Applikation von Vesikatorien sich hob, und andere, deren Geist im Anfangsstadium der Phthisis und der Gicht sich belebte. Cabanis, Tissot, Pomme berichten, dass gewisse febrile Zustände eine ungewöhnlich lebhafte Bethätigung der Psyche hervorrufen. - „Vor einigen Jahren," schreibt Sylvester „fand ich, als ich glücklicherweise von einer Bronchitis befallen. wurde, in einem nächtlichen Fieberanfall die Lösung der Aufgabe." (Nature, 1883.)

Ein geistreicher Mann, Maine de Biran, der immer krank war, erklärt den Einfluss der Körperschwäche auf den Geist folgendermaassen: Die meisten Menschen haben das Gefühl ihrer Existenz darum nicht, weil es ununterbrochen fortbesteht. Solange der Mensch nicht leidet, denkt er nicht an sich selbst; nur die Krankheit und die Gewohnheit des Nachdenkens vermögen uns über uns selbst zu belehren."

1 Anm. des Uebers.

Ist wohl noch öfter der Fall im Ausgangs

stadium der Phthisis.

Häufig machen Kopfwunden und akute Krankheiten, die nicht seltenen Veranlassungen zu Geistesstörung, aus einem kaum gewöhnlichen Individuum einen geistreichen Menschen. Vico fiel als Kind von einer hohen Treppe hinab und zerbrach sich das rechte Scheitelbein. Gratry wurde aus einem mittel mässigen Sänger ein grosser Meister, nachdem ein herabfallender Balken ihm den Schädel zerschlagen hatte. Mabillon, der in seiner Kindheit sehr stumpf gewesen, wurde der grosse Mann infolge einer Kopfverletzung. Gall, der das erzählt, hat einen halbblödsinnigen Dänen gekannt, der in einen intelligenten Menschen sich verwandelte, als er im Alter von 13 Jahren kopfüber eine Treppe herunter gerollt war. Vor einigen Jahren wurde ein Savoyer Kretin infolge des Bisses von einem tollen Hunde in seinen letzten Lebenstagen sehr intelligent Händel litt schon an Paralyse als er sein Hauptwerk schrieb.

Dr. Halle hat Leute von mittelmässiger Beanlagung gekannt, deren Intelligenz infolge von Rückenmarkkrankheiten ausserordentlich zunahm.

[ocr errors]

Möglicherweise hat meine Krankheit meinen letzten Schriften etwas Krankhaftes aufgeprägt," meint Heine mit besonderer Selbsterkenntniss. Und diese Bemerkung gilt nicht bloss für seine letzten Schriften. Meine geistige Regsamkeit ist mehr der Ausfluss meines Leidens, als des Genies" - schreibt er mehrere Monate vor der Verschlimmerung der Krankheit (Rückenmarkleiden). Ich habe Verse gemacht, um meine. Schmerzen zu mildern. In dieser Schreckensnacht des unsinnigsten Schmerzes wirft sich mein armer Kopf umher und schüttelt mit unbarmherziger Lust die Zipfel meiner alten Nachtmütze." (Correspond. inédite. Paris 1877.)

[ocr errors]

Béclard wendete sich erst nach einem Schlagfluss dem Experiment zu, da er vorher nur Theoretiker gewesen war. (Revue scientif. Avr. 1888.)

Bichat, und Schroeder van der Kolk wollen beobachtet haben, dass Menschen, die an einer Ankylose der Halswirbel litten, eine ungewöhnliche Intelligenz besassen.

1 Journal of Mental Science, 1872.

LOMBROSO, Der geniale Mensch.

12

Allgemein bekannt ist, dass Bucklige besonders scharfsinnig und boshaft sind. Rokitansky sucht die Erklärung darin, dass die Aorta eine Biegung erleidet nach Abgabe der zum Kopf führenden Arterien, infolgedessen das Herz an Volumen gewinne und der Arteriendruck im Schädel zunehme.

Fünftes Kapitel.

Einfluss der Civilisation und der Gelegenheit auf das Genie. Die grossen Städte, die hohen Schulen, Zufälligkeiten.

Wie überzeugend auch alle diese Dinge klingen, so kann man doch nur unter einem gewissen Vorbehalt Schlüsse daraus ziehen, denn es giebt ausserdem eine Reihe fast unfasslicher Faktoren, welche alle jene Einflüsse, sogar den der Bodenbeschaffenheit durchkreuzen und unsicher machen.

Wir haben schon gesehen, dass in den grossen Centren, trotz des Klima und der Rasse, die Zahl der Künstler und Talente wächst. Ist das natürlich oder nicht vielmehr künstlich erzeugt? Sehen wir doch, dass die grossen Centren für die Heimathsstätten von Personen gelten, die ihren Geburtsort verlassen und dorthin sich begeben haben, wie das auch der Fall mit vielen Neugeborenen und Kranken ist. Sicher ist das der Fall, namentlich wenn man an den verderblichen Einfluss der Grossstädte denkt und wenn man mit SMILES erwägt, dass das Leben der grossen Städte der geistigen Arbeit nicht günstig ist", und dass alle Männer, die einen grossen Einfluss auf ihre Zeit gewannen, in der Einsamkeit gross wurden". „Alle grossen Männer Englands und sogar Londons waren vom Lande. Das ist wenig bekannt, weil diese Männer ihr Leben in den Städten beschlossen, wohin sie der Wiederhall ihres Rufes gezogen hatte."

[ocr errors]
[ocr errors]

CARLYLE sagt: Alle in London geborenen Menschen kommen mir nur wie Bruchtheile von Menschen vor. In den Lives of

« PreviousContinue »