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Dritter Theil.

Das Genie bei den Irren.

Erstes Kapitel.

Beispiele von Schöngeistern, Humoristen und Dichtern unter Die Journale der Irrenanstalten.

den Irren.

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Ueber

Der Zusammenhang von Genie und Irrsein, den wir nachgewiesen zu haben glauben, wird durch die Ueberreizung der Intelligenz und die zeitweilige wahrhafte Genialität bestätigt, die man bei den Irren häufig beobachten kann.

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,,Es scheint," sagt CH. NODIER,1 dass die zerstreuten und sich kreuzenden Strahlen der kranken Intelligenz plötzlich wie die Sonnenstrahlen auf der Linse bündelförmig verschmelzen und den Reden des armen Irren so vielen Glanz verleihen, dass man mit Recht bezweifeln darf, er sei im Vollbesitz seiner Vernunft klarer und klüger gewesen und habe überzeugender sich ausgedrückt.

„Die Geisteskrankheit gräbt zwar tiefe Lücken, hemmt aber nicht immer sämtliche Geistesfähigkeiten. In den Dichtungen von total Dementen ist die Quantität (der Silben) oft sehr richtig wahrgenommen.

Der griechische Maler Domenico Theotocopuli, dessen Meisterwerke die spanischen Kirchen zieren, war wahnsinnig. In England sahen wir den Kampf von Löwen und wüthenden Hengsten auf einer Diele mittelst der Spitze eines glühenden

1 Les Bas bleus, 1846, pag. 217.

Eisens von einem Geisteskranken gezeichnet und glaubten eine Skizze von Géricault auf Asphalt zu sehen."1

Im Wahnsinn macht ein unwissender Bauer lateinische Verse, ein anderer spricht plötzlich eine Sprache, die er nie erlernt hat, und weiss nach seiner Heilung kein Wort mehr davon, eine Frau singt geistliche und lateinische Lieder, die sie niemals gewusst hat, ein am Kopf verwundetes Kind spricht Sätze in deutscher Sprache und weiss kein einziges Wort von dieser Sprache, nachdem es wieder genesen ist.“

WINSLOW kannte einen Edelmann, der in gesundem Zustande nicht eine einfache Addition fertig brachte, und der während der Anfälle von Manie zu einem ausgezeichneten Mathematiker wurde. Desgleichen eine Frau, die in der Irrenanstalt zur Dichterin wurde, nach der Entlassung aber wieder prosaisch ihre Wirthschaft besorgte.

Ein Verrückter beklagte sich über seine Internirung in Bicêtre in folgenden Versen:

Ah! le poète de Florence

N'avait pas dans son chant sacré

Rêvé l'abîme de souffrance,
De tes murs, Bicêtre exécré.

3

ESQUIROL erzählt, ein Maniakalischer habe während des akuten Stadiums ein Geschütz erfunden, das später Anerkennung gefunden hat.

MOREL behandelte einen Irren, der periodisch stumpfsinnig war, aber in den freien Zwischenzeiten ganz hübsche Lustspiele verfasste.

MARCÉ spricht von einem Kranken, Namens John Clare, der in Prosa Unsinn sprach, aber stilvollendete und gedankenreiche Elegien verfasste.1

LEURET sagt bezüglich der Manie: „Es ist mir mehrmals begegnet, dass ich die Fähigkeiten gewisser Personen überschätzte, wenn ich sie nach ihrem Verhalten während des

1 THEOPHILE GAUTIER, Voyage en Italie, Paris 1880.

2TRÉLAT, Recherches historiques sur la folie, p. 81, Paris 1839.

3 MOREAU, Psychologie morbide, Paris 1859.

4 MARCE, De la valeur des écrits des aliénés. Journ. de Médec. mentale, 1864.

maniakalischen Anfalles beurtheilte. Mancher Kranke hat mich durch seine Reden und Aeusserungen betroffen gemacht, während ich fand, dass derselbe Mensch nach seiner Genesung von ganz gewöhnlichem Schlage und weit unbedeutender war, als wofür ich ihn gehalten hatte.“1

MARCÉ theilt die Geschichte einer gebildeten, nicht eben sehr intelligenten jungen Frau mit, die während eines Anfalles von Manie, wobei Eifersuchtsideen in den Vordergrund traten, Briefe an ihren Ehemann schrieb, die hinsichtlich ihres beredten, leidenschaftlichen und energischen Ausdruckes sich dreist mit den feurigsten Stellen der Neuen Héloise messen konnten. Wenn aber der Anfall vorüber war, so wurden die Briefe wieder einfach und bescheiden, und Niemand hätte zu glauben vermocht, sie seien aus derselben Feder wie jene geflossen.

Erhöhte geistige Thätigkeit, sagt DAGONET, beobachtet man sogar auch in Depressionszuständen, häufiger jedoch bei den Expansivformen. Als Belag dafür diene der Brief einer Melancholischen, den sie an ihren Ehemann, einen Dorfschulmeister, schrieb. Der Brief wimmelt von orthographischen Fehlern. Die Frau war ungebildet und in ihrem Normalzustande wusste sie sich nicht geläufig auszudrücken; während der Krankheit jedoch hatten sich ihre geistigen Fähigkeiten gehoben. Der Brief lautet:

Warum hat der Herr des Weltalls mein Grab nicht aufgethan in der Blüthe meiner Jugend? Warum hat er mich damals nicht fern von dir gehalten, da du mich nicht liebtest und ich dein Unglück bin? Warum wurde ich Mutter? - Um unglücklich, mehr als unglücklich zu werden und meine Kinder, die ich so sehr liebe, zu verlassen... Warum hassest du mich?... Stände ich mit den Füssen in glühendem Oel, so würde ich noch sagen: Ich liebe dich! Warum liessest du mich nicht sterben? Du wärest nun glücklich und ich meine Leiden los... Meine lieben Kinder würden mit ihrem Spiel

1

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LEURET, Fragments psychologiques sur la folie.

* Annales médico-psychologiques, tom. III, p. 93, 1864.

zeug kommen und sich auf mein Grab setzen; .. ich würde im dunkeln Grabe sie noch sagen hören: „Da ist unsere Mutter!"1

Wäre diese Frau bei der Lektüre von CHATEAUBRIANDS Dichtungen gross geworden, so hätte sie sich nicht mit mehr Schonung und Gefühl ausdrücken können.

Ein junger Mensch (sagt TISSOT), dem sein Lehrer nichts beibringen konnte und der, wie man sagt, das Eigenschaftswort nicht mit dem Hauptworte zu verbinden vermochte, sprach während eines bösartigen Fiebers fliessend Lateinisch und entwickelte Gedanken, die ihm bis dahin nie gekommen waren.2

Unter anderen Beispielen für den Zustand, den Lecamus weise Narrheit" nennt, führt er das von Frl. Antheman an, die während des Deliriums lachte und bester Laune war. Da ihre rechte Hand gelähmt war, so gebrauchte sie die linke mit unglaublicher Geschicklichkeit zum Malen und Sticken; nicht weniger staunenerregend als ihre Handarbeiten waren die geistigen Leistungen. Sie deklamirte Verse von höchstmöglicher Lebendigkeit und Zartheit, die ersten, die sie überhaupt gemacht hatte.

„Ich werde versuchen," sagt GÉRARD DE NERVAL in seinem Buche Le Rêve et la Vie, „die Eindrücke einer langen Krankheit zu schildern, die sich lediglich in den Geheimnissen meines Geistes zutrug. Ich weiss eigentlich nicht, weshalb ich den Ausdruck Krankheit gebrauche, denn nie in meinem Leben habe ich mich wohler gefühlt. Mitunter glaubte ich, meine Kraft und Thätigkeit seien verdoppelt, es schien mir, als wisse ich alles, als verstehe ich alles; die Phanthasie trug mir unendliche Genüsse zu. Wenn man das wiederbekommt, was die Leute den Verstand nennen, sollte man da bedauern ihn verloren zu haben?"

Welcher Irrenarzt hätte nicht ähnliche Ausprüche aus dem Munde unglücklicher Irren vernommen, die nach Wieder

1 Annal. médico-psycholog., 1850, p. 48.

tologie de la folie.

PARCHAPPE, Symptoma

2 TISSOT, Des nerfs et de leurs maladies, p. 133.

erlangung ihrer Vernunft den vorübergegangenen Zustand, diese vita nova, die GÉRARD als das Ueberströmen des Traumes in das wirkliche Leben definirt, vermisst hätten."

„Einer erhöhten geistigen Rührigkeit," sagt PARCHAPPE, „begegnet man beim Irrsein häufig; im akuten Stadium ist sie sogar das augenfälligste Symptom. Die wissenschaftlichen. Jahrbücher enthalten eine Menge authentischer Fälle, welche dazu beitrugen, das Vorurtheil von übernatürlicher Erhöhung der Geisteskräfte zu bestärken, dieselben erklären gewissermaassen, wie die Liebe zum Wunderbaren bei leichtgläubigen Beobachtern durch Uebertreibung und Entstellung ähnlicher Thatsachen den unglaublichsten Erzählungen, von denen die Geschichte der religiösen Sekten, vor allem aber die Geschichte der Besessenheit im Mittelalter wimmelt, Glauben verschaffen konnte."

Auch VAN SWIETEN (Commentarii 1121) hat eine Frau gesehen, die während des manischen Anfalles in Versen sprach, die sie mit grösster Gewandtheit machte, obgleich sie in ihrem früheren gesunden Zustande nicht die mindeste poetische Anlage gezeigt hatte.

LORRY gedenkt einer vornehmen, mässig begabten Dame, die in Anfällen von Melancholie so intelligent sich zeigte, dass sie in wohlgesetzter Rede über die schwierigsten Fragen sich zu äussern vermochte.

Ein junges vierzehnjähriges Mädchen aus dem Volke war anlässlich einer Mission in Irrsinn verfallen und sprach so gewandt über religiöse Dinge, als ob sie Theologie studirt habe; sie sprach über Gott und Christenpflicht und verstand es, die ihr gemachten Einwürfe in scharfsinniger Weise zurückzuweisen. (J. FRANK, Mania.)

MOREL theilt mit, er habe Gelegenheit gehabt zu bemerken, dass bei einigen hypochondrischen, hysterischen und epileptischen Irren die Geistesthätigkeit während des Ausbruches der Anfälle sich ausserordentlich steigere. „Ein junger hypochondrischer Geisteskranker in meiner Behandlung setzte alle Diejenigen, die ihn sahen, durch seinen Redefluss und durch seine glänzende Darstellungsgabe in Erstaunen. Zu ge

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