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(z. B. in Florenz und mit Garibaldi) ans Licht tritt, als in ruhigen Zeiten und unter einer absoluten Monarchie.

Will aber die Genialität die in der Zeit und in dem Volke liegenden Hindernisse überwinden, und läuft sie der Entwickelung um Jahrhunderte voraus, so gelingt es ihr wohl einmal, mit Hülfe der ihr innewohnenden Energie für kurze Zeit eine Revolution zu veranlassen, die jedoch trotz aller grossartigen und edlen Bestrebungen entweder spurlos verläuft oder eine Reaktion im entgegengesetzten Sinne hervorruft.

So dauerten Pombals Reformen kaum so lange wie er lebte, und Peters d. Gr. Neuerungen riefen eine Reaktion hervor, die noch heut sich bemerkbar macht und die noch viel nachtheiliger gewirkt haben soll, als die Unwissenheit, die er aufzuklären beabsichtigte.

Allerdings behaupteten sich einige Revolutionen, wenn auch nicht sehr lange, mit Hülfe des Geistes ihrer Führer. So in Frankreich fast noch im Mittelalter unter Marcel und Lecocq; Callés Geist hatte grossen Einfluss auf die Jacquerien in den Landschaften von Clermont und Boves, Savonarola in der Bewegung von Florenz, und Rienzi in der Revolution der römischen Plebs.

Alle diese Unternehmungen verkümmerten gleichwohl, weil sie nicht im Bedürfniss ihrer Zeit wurzelten und weil sie über die von der Unreife der Zeit vorgezeichnete Linie hinausgingen.

Umgekehrt erreichten in Russland Tausende von bedeutenden Geistern und Märtyrern es nicht, dass die ersehnten Reformen eingeführt werden, weil sie mit der grossen Mehrheit des Volkes nicht übereinstimmen.

Man darf darum den persönlichen Einfluss der Führer nicht überschätzen. Unter 7 Millionen Revolutionären, die ungeführ 1000 Bewegungen veranlasst haben, zählt FERRARI nur 1000 berühmte. Ist der Boden vorbereitet, so haben sie Glück, im entgegengesetzten Falle aber nicht.

Alexanders und Napoleons Schöpfungen gingen wieder unter, die des letztern schon bei seinen Lebzeiten, weil sie überstürzt waren, wie wir jetzt auch in Italien zu empfinden

beginnen, dass die von Garibaldi, Mazzini und Cavour hervorgerufenen Freiheits-Bewegungen dem Süden und den Inseln gegenüber überstürzt waren.

Dass es deren in der

4. Reaktionäre Geister. That giebt, beweisen die Beispiele von Savonarola, Loyola, Dominico und Metternich, entschiedener Genies im Hass gegen das Neue. Wer da weiss, dass Originalität mit solchem Hass sich nicht nur verträgt, sondern ihn sogar noch verschärft, der findet es auch begreiflich, dass Erziehung in theologischen oder in Standesvorurtheilen, dass erbliche Anlage (De Maistre, Chateaubriand, Bismarck, Schopenhauer) und schreckliche Ereignisse (Loyola) ihn zu riesenhafter Höhe hinaufzuschrauben vermögen.

Die Erfolge der reaktionären Bestrebungen sind entweder für die Person ihrer Anstifter oder für die Sache, die sie führen, von zweifelhafter Art und schlagen bisweilen gegen die ursprünglichen Absichten um, indem die Gewalt der Ereignisse Denjenigen, der sie zu beherrschen vermeint, fortreisst und ihn zur Umkehr oder zur Ausführung lang vorbereiteter Volkswünsche zwingt, wie es Bismarck erging.

Revolutionen, als der Ausdruck des allgemeinen Volkswillens oder Unwillens, bei denen es fast an wirklichen Führern fehlte, sind die Sizilianische Vesper, die Losreissung Griechenlands von der Türkei und in gewissem Sinne die Erhebung der Niederlande gegen die Spanier.

5. Bei Rebellionen, Volksaufständen beschränkterer Kreise, nimmt man wahr, dass das Volk im Grunde sich weniger von wirklich genialen Männern, als von mässig talentvollen, bisweilen halbirren und sogar verbrecherischen Leuten, die seiner Denk- und Ausdrucksweise näher stehen, leiten lässt. „Das Volk," sagt HEINE, „vertraut den Ehrgeizigen, die das Rothwelsch seiner Leidenschaften sprechen, weit mehr als dem ehrlichen Manne, der sich Mühe giebt, es aufzuklären."

Andererseits sagt VALLÈS, der moderne Revolutionär xar' ¿§oxy, im Insurgé: Wer da glaubt, dass die Führer die ἐξοχην, Aufstände beherrschen, der ist sehr naiv. Der Kopf der Führer

gleicht dem Frauenbilde auf den Schiffen, dass im Sturme auftaucht und sofort verschwindet.

In den Aufständen fehlen die Genialen; viele Führer verdanken ihre Führerschaft nur der Gelegenheit und schaffen nicht etwa die Begebenheiten, sondern werden von den Begebenheiten geschaffen. Charakteristisch ist es, dass die Anarchisten keine Führer haben wollen.

Drittes Kapitel.

Der epileptoide Charakter des Genies und des Heiligen.

Zufolge der allseitig übereinstimmenden klinischen und physiologischen Erfahrungen steht es gegenwärtig fest, dass die Epilepsie auf einer in der Hirnrinde lokalisirten Reizung beruht, die bald kürzere, bald länger dauernde, aber stets intermittirende Anfälle veranlasst, ferner, dass der Boden, auf dem sie steht, degenerativer Natur ist, entweder ererbt oder durch Spirituosa oder Schädel verletzung dazu beanlagt.

Vergleicht man die bei der Epilepsie vorkommenden Erscheinungen mit denjenigen, die wir im Obigen bei genialen Menschen wahrgenommen haben, so führt das auf den Gedanken, dass das geniale Schaffen der Ausfluss einer degenerativen Form von Psychose, die zur Familie der Epilepsien gehört, sein könne.

Gestützt wird dieser Gedanke durch die Abstammung genialer Männer aus heriditär beanlagten Familien von Geisteskranken u. s. w., durch das Hervortreten des Genies nach Kopfverletzungen, durch die Schädelanomalien (zu grosse oder zu kleine Schädelkapazität Asymmetrie); durch frühzeitige Entwickelung in leiblicher und geistiger Beziehung, durch die häufigen Bewusstseinslücken, Amnesie und Empfindungslosigkeit, traumhaftes Wesen, unruhiges Umherschweifen, durch Schreckhaftigkeit, religiöse Anwandlungen trotz entschiedener Ungläubigkeit, durch häufiges Deliriren bei geringfügigen An

lässen, doppelte Persönlichkeit und sogar die Scheu vor Neuerungen (Misoneismus), die auch bei Verbrechern neben Gemüthlosigkeit vorkommt. Sogar die Vorliebe für Thiere ist den Genialen (Lord Byron, Fürst Pückler, Schopenhauer) mit den Degenerirten und Epileptischen gemein.

Die Geistesabwesenheit grosser Männer, sagt TONNINI, ist oft nichts weiter, als eine epileptoide Erscheinung.

Besonders beweisend ist die bei allen, irren oder nicht irren, Genialen allgemein hervortretende Herzlosigkeit, die aus unseren Eroberern Räuber in höherem Maassstabe macht.

Derartige Anschauungen können nur Demjenigen seltsam erscheinen, der nicht weiss, wie weit das Gebiet der Epilepsie. sich erstreckt. Man weiss jetzt, dass die intermittirende Migräne, solche Speichelflüsse, einfache Vergesslichkeit, dahin gehören, aber auch dass sehr viele Formen von Monomanie nichts als larvirte Epilepsien sind, welche letztere beim Auftreten jener gänzlich verschwinden. Man braucht nur an eine Menge grosser Männer zu erinnern, die an Schwindel oder an krankhaften Wuthausbrüchen litten, dem Aequivalent der Epilepsie (Julius Cäsar, Mohammed, Karl V., Napoleon, Peter der Grosse, Richelieu, Petrarca, Molière, Händel u. A. m.).

Auf Grund des statistischen Gesetzes wonach jede Erscheinung nichts als das Produkt einer grossen Reihe anderer ähnlicher, weniger deutlicher Dinge ist darf man aus dem häufigen Vorkommen von Epilepsie unter den Grössten der Grossen vermuthen, dass das Leiden überhaupt unter den Genialen mehr verbreitet ist, als man geglaubt hat.

Dabei ist jedoch zu bemerken, dass die konvulsive Form der Krankheit bei ihnen selten auftritt. Nun ist es aber ein Erfahrungssatz, dass da, wo die Konvulsion bei den Epileptischen selten ist, das psychische Aequivalent dafür eintritt. Psychisches Aequivalent ist hier das geniale Schaffen.

Ein weiterer Beweis für die Identität des Genies und der Epilepsie ist die Aehnlichkeit des epileptischen Anfalles mit dem Eintritt der Inspiration, d. h. die Aehnlichkeit des unbewussten Handelns, welches hier schaffend, dort in Form von Konvulsionen auftritt.

Zergliedert man die Art des begeisterten Schaffens, so dürfte auch Denen die Sache klar werden, die von den neueren Anschauungen über das Wesen der Epilepsie keine Kenntniss haben. Nicht allein Unempfindlichkeit für Schmerz, Traumzustand, unregelmässiger Puls, Intermittenz kommen häufig dabei vor, sondern auch konvulsive Bewegungen und Amnesie. Dasselbe wird ferner hervorgerufen durch Dinge oder Umstände, welche Hyperämie der Hirnrinde bewirken, oder durch heftige Empfindungen; endlich wandelt es sich in Hallucinationen um, wie sie auf epileptische Anfälle folgen.

Einen ganz vorzüglichen Beweis für die Aehnlichkeit der genialen Begeisterung mit dem epileptischen Anfall besitzen wir in den Bekenntnissen entschieden Epileptischer, namentlich in denen des russischen Schriftstellers DOSTOYEWSKI. In seinem Buch „Besi" (Die Besessenen) sagt er:

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Es giebt Augenblicke, wo man plötzlich der ewigen Harmonie sich bewusst wird. Diese Erscheinung, die nur fünf bis sechs Sekunden währt, ist weder irdisch noch himmlisch, sondern ein Etwas, das der Mensch in seiner Erdenhülle nicht zu ertragen vermag. Man muss sich leiblich umbilden oder sterben. Es ist ein deutliches aber unbeschreibliches Gefühl. Man glaubt mit einemmale mit der ganzen Natur Eins zu sein und man sagt sich: „Ja, es ist wahr, es ist gut." Es ist nicht Rührung, es ist Freude. Man verzeiht nicht, weil es nichts mehr zu verzeihen giebt. Man liebt nichts mehr, denn dieses Wonnegefühl kommt über die Liebe. Erschreckend ist die Klarheit, mit der es auftritt und die Freude, mit der es erfüllt. Wenn dieser Zustand länger als fünf Sekunden dauerte, so würde die Seele ihn nicht ertragen und müsste vergehen. Während der fünf Sekunden lebe ich ein ganzes Leben, sie sind nicht theuer genug zu bezahlen. Das zehn Sekunden lang auszuhalten bedürfte es eines anderen Leibes. Sie sind nicht epileptisch?" "Nein." — „Dann werden Sie es. Hüten Sie sich, Kirilof. Man hat mir gesagt, dass es so anfange. Ein Mensch mit dieser Krankheit hat mir eine genaue Beschreibung seiner Gefühle gemacht, die dem Anfall voraufgehen; ich glaubte ihn vor mir zu haben, als ich Sie

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