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umgiebt ihn, der ihn so blendet, dass ihn seine Begleiter führen

müssen.

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In diesem Zustande hat er eine Hallucination, er sieht Jesus und hört seine Stimme, die ihm zuruft: Warum verfolgst du mich?" Er fiebert drei Tage lang, isst und trinkt nicht und sieht das Bild dessen, den er als Führer der Christen festnehmen soll, ihm Zeichen machen. Der Mann wird an sein Bett geführt und die Ruhe kehrt plötzlich in Paulus Seele zurück. Von dem Tage an ist er der eifrigste Anhänger der Christen. Er braucht sich übrigens nicht erst von ihrer Lehre unterrichten zu lassen, ihm ist die Offenbarung von Jesus selber gekommen; er betrachtet sich als einen der Apostel und wurde es zum grossen Segen der Christenheit, denn die ausserordentlichen Gefahren, die sein Stolz hervorrief, wurden durch seinen Unternehmungsgeist und seine Kühnheit hundertmal aufgewogen, die es nicht zuliessen, dass die christliche Idee auf einer kleinen Gemeinde Geistesarmer beschränkt blieb, wo sie wahrscheinlich erloschen wäre wie der Hellenismus. In Antiochien hatte er eine ähnliche Hallucination wie später Mohammed; er fühlte sich in den dritten Himmel versetzt, wo er unsagbare Worte vernahm, die von Sterblichen nicht gebraucht werden dürfen.

Die Anomalie findet sich auch in seinen Briefen: „Er lässt sich mehr durch die Worte als durch die Gedanken hinreissen. Ein Wort, das er im Sinne hat, beherrscht ihn und führt ihn auf eine dem Hauptthema fernliegende Gedankenreihe. Seine Abschweifungen sind brüsk, seine Ausführungen brechen kurz ab wie seine Satzbildung. Kein Schriftsteller war je so ungleichmässig. Keine Litteratur hat etwas Aehnliches aufzuweisen wie das herrliche Kapitel XIII. der ersten Epistel an die Korinther, neben schwacher Beweisführung und ermüdender Kleinlichkeit." (RENAN.)

Die Epilepsie ist demnach beim genialen Menschen nicht eine zufällige Erscheinung, sondern ein Morbus totius substantiae.

Viertes Kapitel.

Die Heiligen.

In Anbetracht der Sittenlosigkeit der Epileptischen ist es ein heikles Ding, behaupten zu wollen, die Heiligen könnten etwas mit ihnen gemein haben. BIANCHIS, TONNINIS und FILIPPIS Beobachtungen haben dieses Bedenken indes zum Theil beseitigt. Danach giebt es allerdings nur seltene Fälle (16%) von Sittenreinheit, ja sogar von übertriebener Aufopferungsfähigkeit, doch immer in Begleitung von maassloser Heftigkeit, bei den Epileptischen.1

Die Hysterie, die Zwillingsschwester der Epilepsie, zeigt uns oft genug neben übertriebener Selbstsucht gewisse Aus. brüche übergewöhnlicher Aufopferung, die ähnlich auch bei moralischem Irrsinn vorkommen und darauf beruhen; sie verrathen das Krankhafte in der übermässigen Ausübung der Barmherzigkeit.

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„Es giebt solche," sagt LEGRAND DU SAULLE, „die mitten im Weltleben mit lärmendem Eifer allen mildthätigen Arbeiten in ihrem Kirchspiel sich unterziehen, für die Armen sammeln, für die Waisen Strümpfe stricken, die Kranken besuchen, Almosen spenden, bei Todten wachen, andere Leute zur Wohlthätigkeit anfeuern, die überhaupt wirklich vieles zur Unterstützung Hülfloser beitragen, dabei aber ihr Hauswesen, Mann und Kinder vernachlässigen.

Die Wohlthätigkeit solcher Frauen ist voller Sucht nach Aufsehen und Prahlerei. Sie leisten ein Werk der Barmherzigkeit mit eben dem Eifer, wie Industrieritter eine Finanzspekulation mit unerhörten Dividenden in die Welt schleudern.

Diese Frauen kommen, gehen, vervielfältigen sich, haben prächtige Einfälle, denken an alles mitten im Getümmel von

1 TONNINI, Arch. di Psichiatria, 1886.

2 Les hystériques, Paris 1883.

allgemeinen oder privaten Unfällen und nehmen mit bescheidenem Erröthen den Tribut der Bewunderung seitens dankbarer Augehörigen oder gerührter Zeugen ihres Waltens entgegen. Ist die Ehre einer Familie verletzt, sind wohlbegründete Hoffnungen, das Vermögen, Ruhe und Glück verloren, da springt die barmherzige Hysterische ein mit überraschender Gewandtheit und mit rührendem freiwilligen Beistand. Sie weint mit dem Einen, sie trocknet die Thränen des Anderen, sie erhebt die Niedergeschlagenen, sie eröffnet unerwartete Aussichten und tröstet Alle. Apostelgleich wehrt sie den Schmerzen Anderer, je heftiger dieselben sind. Tritt dann Ruhe ein, so wird sie sofort kühl. Ihrem Wesen nach beweglich, ist sie nicht mehr wohlthätig, sobald der Paroxysmus vorüber und sie kalt geworden ist.

Die hysterische Barmherzige ist muthiger Handlungen fähig, die man herumträgt und wieder und wieder erzählt, oder die zur Sage werden.

Bei einer Feuersbrunst giebt sie Proben höchster Geistesgegenwart, ertheilt vortreffliche Rathschläge, lässt den Hausrath und das Vieh in Sicherheit bringen oder stürzt sich gar selbst in die Flammen, um einen Kranken, einen Greis oder ein Kind zu retten. Ist bei einem Aufruhr ein öffentliches Gebäude oder eine Kasse bedroht, so leistet die neuropathische Heldin, in pathologischem Schwunge, die Waffe in der Hand, einem Haufen Aufrührer Widerstand. Man hat das gesehen. Wird ein Ort plötzlich von einer Ueberschwemmung überrascht, so wird eine Frau heldenmüthig zu Hülfe kommen.

Sucht man am nächsten Tage nach einer Feuersbrunst, nach einem Aufruhr oder nach einer Ueberschwemmung diese Heldinnen auf und fragt man sie aus, so findet man sie vollständig niedergeschlagen und manche unter ihnen gesteht aufrichtig: „Ich weiss nicht, was ich gethan habe, ich kannte die Gefahr nicht."

Während der Choleraepidemien, wo die Furcht gewöhnlich die übelste Beratherin war und schmachvolle Pflichtvergessenheit erzeugte, konnte man gewisse Hysterische sehen, die ausserordentliche Aufopferung bewiesen. Nichts stiess sie

ab, nichts beleidigte ihre Schamhaftigkeit, nichts ermüdete ihren Muth. Sie regten den Eifer der Krankenwärter an, sie warben Helfer, sie holten Aerzte herbei, schrieben und besorgten die Verordnungen, sie rieben die Sterbenden und begruben die Todten. Die Tageblätter strotzten vom Lobe der aufopfernden Helferinnen.

Die Aufopferung wird dieser Art von Kranken zum Bedürfniss und zugleich zur Gelegenheit von nothwendigen Ausgaben. Sie spielen, ohne es zu merken, krankhafterweise die Rolle der Tugend. Alle Welt lässt sich dabei täuschen, und das ist auch gut, soweit es als Vorbild dient. Ich habe in dieser Absicht einmal auf eine Auszeichnung angetragen und sie auch erhalten für eine früher in einer Irrenanstalt untergebrachte Hysterische, die in ihrem Quartier eine wahrhaft rührende Thätigkeit im Wohlthun entwickelt hatte. Sie begleitet die Schwachen und Kranken zur Konsultation bei bestimmten Aerzten in den Hospitälern; sie bringt entbundenen Frauen Bouillon und Wein, vorzügliche Milch den Neugeborenen, sie kleidet unglückliche Frauen, drängt beständig um Aufnahme in die Hospitäler für Unheilbare oder für Greise und Greisinnen, sie holt bei bekannten Spezialisten Verordnungen ohne Entgelt ein, sie vertheilt Arzneien, Wäsche, Charpie, und sie besitzt nur das Nothwendigste für ihre eigene Toilette, die für jede Jahreszeit dieselbe ist. Ich bin nicht sicher, ob sie fünf oder sechs Hemden zu eigenem Gebrauche besitzt. Diese Dame nun leidet an vielfachen hysterischen Beschwerden, sie regt sich bei jeder Kleinigkeit auf, schläft sehr schlecht und ist ernstlich krank.

Bei ihren privaten Leiden äussert sich die Hysterische oft in anderer Weise, als es bei den übrigen Menschen gewöhnlich geschieht. Sie verliert ihre Kinder und sie bleibt ruhig, heiter, entsagend; sie verliert keine Thräne, sie besorgt alles, trifft Anordnungen, vergisst dabei nicht das Kleinste, sie stimmt ihre Umgebung zu weihevoller Haltung und erträgt die letzte Trennung, das Begräbniss, ohne äusseres Zeichen von Herzeleid. Allgemein hält man dafür, eine solche Mutter sei mit einem ausnahmsweisen Muthe begabt.

Man täuscht sich, sie ist schwächer, als jede andere, sie ist

krank!

Um das, was in diesen Schlüssen beim ersten Blick paradox erscheint, besser zu begreifen, muss man sich erinnern, dass viele Menschenfreunde ihren Nächsten lieben aber aus

der Ferne und auf Kosten der natürlichsten Gefühle für die Familie, für das Vaterland u. s. w. Man gedenke des Ausspruches von DOSTOYEWSKI („Die Brüder Karamanzof):

„Man kann im Nächsten nur den verborgenen, unsichtbaren Menschen lieben, sobald er sein Gesicht zeigt, ist es mit der Liebe vorbei. In Gedanken kann man seinen Nächsten wohl noch lieben, aber von ferne, nie in der Nähe. " Auch an Sterne muss man denken, der über einen todten Esel mitleidig spricht, seine Frau und seine alte Mutter aber verlässt.

Die grössten Menschenfreunde, Beccaria, Howard benahmen. sich sehr traurig ihren Dienstleuten und ihrer Familie gegenüber. Wie der Gottmensch selbst über die Familie dachte, vgl. Evang. Matth. XII. 48-50, Luc. II. 48, 49, Marc. III. 33. Der Apostel Paulus war vor seiner Bekehrung ein grausamer Verfolger der ersten Christen.

Man weiss auch, wie es für den wahrhaft frommen, religiösen Menschen Pflicht ist, seine Familie zu vergessen, keusch zu leben und das weibliche Geschlecht zu hassen. Die heilige Liberata wird zornig, da ihr Mann weint, als er seine Kinder verlässt, und Barruks Mutter - so heisst es in der Legende ruft ihrem während seiner Marter um Wasser bittenden Sohne zu: Du sollst jetzt nur nach dem himmlischen Wasser verlangen! 1

Die übertriebene Nächstenliebe, der Altruismus, der sich sogar dahin äussert, dass er, wie es beim heiligen Francisco der Fall ist, unbelebte Gegenstände, die Gestirne, das Wasser, das Feuer u. s. w. mit seiner Liebe umfasst und seine Familie verlässt ist demnach ein Krankheitssymptom, ein Ueberwuchern des Gefühls, das wie alle anderen hypertro

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1 ANFOSSO, Legenden des Mittelalters, Jvrea 1887.

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