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phischen Zustände mit Schwund, mit Atrophie, nach einer anderen Richtung einhergeht.

Bei Johannes von Gott, bei Loyola, Franz von Assisi, bei Lazzaretti sahen wir das Heiligenleben in vollem Gegensatz, in einer wahrhaft psychischen Polarisation zu ihrem früheren Leben, wo der Trieb zum Bösen die Oberhand hatte, auftreten.

Fügen wir zu diesen bei Epileptischen und Hysterischen häufig vorkommenden Erscheinungen noch die anderen des Fernsehens, des Transfertes oder der Versetzung der Sinneseindrücke, des Fakirismus, des zweiten Gesichtes und der vorübergehenden Steigerung der Geisteskraft, die man so häufig bei diesen Krankheiten beobachtet und doch von den Gelehrten, die damit nichts anzufangen wissen, meistens geleugnet werden, - so können wir aus der hysterischen Natur des Heiligenwesens dessen sonst wenig begreifliche Erscheinungen, die Wunder, erklären.

Als weiterer Beweis dafür, dass die infolge von Hysterie stattfindende Veränderung des Molekularzustandes im Grosshirn fast wunderbare Erscheinungen von vorübergehender Genialität zeitigt, dient die Geschichte Pickmans, eines sogenannten „Gedankenlesers", der als Gehülfe des Magnetiseurs Donato, berüchtigten Andenkens, nebenbei die ihn vor Jenem auszeichnende Eigenschaft an sich entdeckt hatte und sie gewerbsmässig ausbeutete. Pickman war ein ungebildeter Mensch, der im Alter von zehn Jahren seinem Elternhause entlief und mit einer Gauklergesellschaft sich umtrieb, und nachdem er einen Arm gebrochen hatte, zwanzig Jahre alt, in Donatos Dienst sich begab, dem er die Künste absah. Die übermässigen Anstrengungen beim Gedankenlesen machten ihn verrückt; im halb somnambulen Zustande glaubte er einen Abgrund zu sehen und stürzte zum Fenster hinaus, auf der Strasse verfolgte er die imaginären Mörder aus den hypnotischen Vorstellungen und vergriff sich an unschuldigen Leuten. Nach zweijährigem Krankheitszustande genas er, nachdem er das hypnotische Gewerbe aufgegeben hatte und verheirathete sich,

blieb aber mit einer Menge von Nervenzufällen behaftet. (Beiläufig gesagt ist er nicht erblich belastet.) Bei der Untersuchung in meinem Laboratorium fand man folgendes: Körper wohlgebildet, mittlere Statur 1,67, Körpergewicht 66,5 kg, Kopfumfang 56,5 cm, Längenbreitenindex 78,2, berechnete Schädelkapazität 1564 ccm. Kopfhaar, Bart und Wimpern blond, Haut fein, rosig, fast wie bei Albinos; leichtes Erröthen und Erblassen. Narben an der Stirn und Kontraktur des letzten Kleinfingergliedes mit Verbildung des Nagels. Temperatur

37,1, Puls 79, bisweilen verlangsamt und zwar willkürlich. Muskelkraft am Brocaschen Dynamometer rechts 55 kg, links 46 kg. Sehnenreflexe rechts übermässig, links lebhaft. Gang ataktisch, unsicher; Patient tritt fast nur mit der Ferse auf.

Empfindlichkeit gegen Metalle und Magnet nur am rechten Arm und im Nacken bemerklich. Schnelleres Erröthen des rechten Armes als des linken. Tast- und Geruchsempfindung stumpf, Geschmack stumpf für Bitteres, lebhaft für Salziges. Farbensinn schwach. Gelb und Blau verschwimmt miteinander. Sehkraft verringert auf dem rechten Auge. Gesichtsfeld des rechten Auges beschränkter als das des linken. Wie bei vielen Hysterischen ist im Zentrum der Netzhaut beider Augen eine für Farben wenig empfindliche Zone. Gehör auf dem linken Ohr um 30 cm stärker als auf dem rechten. Hyperalgesie,

besonders linkerseits, bedeutend.

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Psyche. Liebe für Frau und Kinder erhalten. Antipathien und Sympathien fast krankhaft, ebenso die Gemüthserregbarkeit für Leid und Freude, namentlich wenn man von ihm spricht. Er ist sehr religiös, -hat wenig Gefallen an Essen und Liebesgenuss, desto mehr an Musik, die ihn beruhigt, wenn er nach Anstrengungen in Wein- oder Lachkrampf verfällt oder von melancholischen Vorstellungen, dass seine Kinder krank oder todt seien, betroffen wird. Nachts schläft er schlecht, höchstens morgens einige Stunden und hat quälende Träume.

Sein Gedächtniss ist so schlecht, dass er die Namen der ihm liebsten Personen vergisst, die jüngsten Ereignisse mit älteren verwechselt, der letzteren indes sich besser erinnert. Er befindet sich in einem halb somnambulen Zustande und hat

gleichwohl Grössenvorstellungen, in denen er sich für ein
höheres Wesen hält, ausgenommen dann, wenn ihn das Gefühl
seiner Schwäche überkommt. Trotz dieser psychischen Lücken
hat er Momente (besonders nach den Anfällen von Weinkrampf),
von wunderbarer Klarheit und einer wahrhaften Genialität, in
denen er Verse von ergreifender Schönheit und Gedankenfülle
unter meinen Augen improvisirt. Ein derartiges Gedicht:
„An die Natur" wird mitgetheilt in französischer Sprache.
Pickman, Gazz. litterar., Torino 22. März 1890, XIV, Nr. 12 S. 4.
Invocation à la nature.

Mère de l'Univers, nourrice intarissable!
Sein toujours en travail, ovaire inépuisable,
Toi qui, du temps rongeur et de l'Eternité,
Semble tirer ta force et ta fécondité!
Toi dont nul n'a jamais dénoué ta ceinture
O Vierge, aïeule auguste, immortelle Nature,
Le poète, ton fils, te salue à genoux!

Dans tes sentiers cachés, loin des regards, jaloux,
Je me suis hazardé! (pardonne à mon audace!)
Mais tu t'es dérobée et j'ai perdu ta trace
Pour te voir disparaître au bas de l'horizon,
Dans l'abîme sans fond où meurt notre raison.
Mais voici des chercheurs, plus tenaces peut-être,
Qui vous dissèquent l'âme et l'essence de l'être;
Le Monde des esprits, troublant, mystérieux,
Où tout est vague, obscur, redouté, merveilleux,
A ces privilégiés livre les phénomènes
Par qui règnent les forts sur les foules humaines
Et les Mages sacrés qui ranimaient les morts
Semblent ressusciter sous leurs vaillants efforts.
Le Monde ancien s'affole et s'agite et menace
En voyant le succès couronner tant d'audace!
Mais le monde invisible entr'ouvert aux voyants,
Fait hésiter le Sage et rêver les croyants!
L'Hypnotisme est sorti désormais de ses langes:
Par lui sont expliqués les faits les plus étranges.
Le fluide, l'esprit et les centres nerveux,
Entre le mains du fort qui sait dire: Je veux,
Deviennent des leviers qui soulèvent les Mondes,
Et plongent les chétifs dans des terreurs profondes.
Le crime ou la vertu, ne sont plus conscients!
L'opérateur produit des effets foudroyants.

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Er hypnotisirt mit grosser Gewandtheit und verfällt selbst sehr leicht in den hypnotischen Zustand, besonders in den der Katalepsie.

Pickmans eigentliche Kunst des „Gedankenlesens“, d. h. das Vermögen zu errathen, was andere Personen im Sinne haben und ihm in Gedanken aufgeben es auszuführen beschränkt sich nur auf einen sehr engen Kreis, der nicht weit über die Leistungen der bekannten Experimente Paul Janets und Richets an einer hysterischen Frau in Hâvre hinausgeht. Es wird ihm z. B. die Aufgabe gestellt, mit verbundenen Augen und Ohren Zahlen und Worte zu errathen, eine verwickelte Zeichnung zu durchlaufen, einem der Anwesenden so und so viel Schläge zu geben, oder eine Brille auf die Nase zu stülpen, aus einem Kartenspiel eine bestimmte Karte herauszufinden u. dgl. m. Sein Hauptkunststück, das sich immer wiederholt, besteht darin, einen vermeintlichen Mörder zu suchen, unter 12 Messern dasjenige herauszufinden, dessen sich derselbe bedient habe, und den Ort zu bestimmen, wo der Leichnam verscharrt sei.

obwohl ihm nicht unsym

Bedingung ist für P., dass sein Auftraggeber es der erste beste Eintretende sein kann pathisch sei und dass derselbe seine Gedanken in französischer Sprache fixire. Nicht selten bedient er sich, um Erfolg zu haben, zum Theil des Verfahrens der Gedankenleser Cumberland und Bischoff, die ihre Auftraggeber an der Hand mit sich herumführen, aber nur insofern, als er die Hand desselben ergreift und damit seine Stirn reibt. Zu dem Akt bereitet er sich durch Fasten und durch eine starke Portion Kaffee Während des Aktes befindet er sich in ziemlicher Aufregung, sein Athem ist kurz und beschleunigt, das Gesicht geröthet, die Bewegungen hastig, wie bei Hypnotisirten und bald darauf verfällt er in Abspannung ein Beweis mehr dafür, dass die Sache nicht auf Täuschung beruht, sondern ein Ausfluss seines durch die lange Uebung geförderten krankhaften Nervenzustandes ist.

vor.

Uebrigens hat sich durch die Unterbrechung seines Auftretens die Gabe des Gedankenlesens abgeschwächt und fast

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ganz verloren. Merkwürdig aber ist, dass auch seine Frau und einer seiner Söhne dieselbe besitzen. Alle diese Fähig keiten beruhen aber auf Hysterie. (Archivio di Psichiatria, XI. 3.)

Fünftes Kapitel.

Das lautere Genie.

Ein weit gewichtigerer Einwurf gegen unsere Theorie entsteht uns durch das Vorkommen einiger wenigen Fälle, in denen geniale Menschen in ungetrübter Heiterkeit ihre Laufbahn vollendeten, ohne vom Unglück niedergeworfen, ohne je vom Wahnsinn berührt zu werden.

Es waren das Galilei, Leonardo da Vinci, Voltaire, Macchiavelli, Michelangelo, Darwin.

Bei keinem Einzigen unter ihnen soll die gewaltige Kraft und die Harmonie des Denkens gestört worden sein, bei keinem einzigen soll die Leidenschaft für Wahrheit und Schönheit die Liebe zur Familie und zum Vaterlande jemals völlig erstickt haben. Sie haben ihre Ueberzeugung und ihren Charakter niemals gewechselt, sie sind von ihren Plänen nie abgewichen, sie haben keine Arbeit liegen lassen. Welche Sicherheit, welche Ueberzeugungstreue, welche Kraft in allen Unternehmungen und vor allem, welche Mässigung und welche Charaktergeschlossenheit in ihrem Lebensgange!

Solchen Männern konnte es nicht fehlen, an sich selbst den erhabenen Reiz der Inspiration lebhaft zu empfinden, ebenso den peinlichen Hass der Unwissenden und die Qual des Zweifels und der Erschöpfung zu erfahren; aber sie wichen darum nicht von ihrem Wege ab.

Die Idee allein, die sie einzig pflegten, das Ziel und der Stolz ihres edlen Berufes, für welche Jeder unter ihnen geboren zu sein schien, diese Idee, der Mittelpunkt aller ihrer Mühen, ist bis zu Ende geführt worden. Stets ruhig und heiter, klagten sie nicht über Hindernisse; niemals begingen sie auch schwere Irrthümer die überdies öfter für Ent

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