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Namen der Strasse, die man ihm nannte, hat er zum erstenmal zu hören geglaubt.1

Ampère sann über ein Problem nach, während er einen Ritt aufs Land machte. Auf halbem Wege stieg er ab, führte das Pferd am Zügel, und es ging ihm durch, ohne dass er es merkte. Erst nach der Ankunft bei seinen Freunden wurde sein Missgeschick aufgeklärt.

Babinet miethet eine Wohnung auf dem Lande, bezahlt sie und kann sich bei der Rückkehr in die Stadt weder auf den Namen der ersteren, noch auf den des Bahnhofes, von welchem er abgereist war, besinnen.2

Buffon ist in Gedanken vertieft, ersteigt einen Glockenthurm und klettert an den Seilen wieder herab, ohne zu wissen, was er thut, wie ein Nachtwandler.

Wenn Mozart das Fleisch theilte, so schnitt er sich dabei so oft in die an das Klavier gewöhnten Finger, dass er das Geschäft Anderen überlassen musste.

Der Bischof Münster findet an der Thür zu seinem Vorzimmer den Vermerk „Der Hausherr ist ausgegangen"; er bleibt ruhig stehen und wartet auf seine eigene Rückkehr.3

Toucherel vergass einmal seinen eigenen Namen.4

Beethoven liess öfter bei seinen Spaziergängen seine Kleider im Walde liegen, oft ging er auch im blossen Kopfe aus. Einmal wurde er sogar in solchem Zustande in Neustadt verhaftet und als Landstreicher eingesteckt. Hätte ihn nicht sein Theaterdirektor aus dem Gefängniss befreit, so hätte er lange darin sitzen können, da Niemand seinen Betheuerungen, dass er Beethoven sei, Glauben schenken wollte.

Gioia arbeitet an einem Artikel für sein Journal und schreibt in seinem Eifer ein Kapitel auf seinen Bureautisch.

Der Abbé Beccaria ist während des Messelesens in Gedanken bei seinen Experimenten und ruft die Worte: „Ite! experientia facta est!"

1 MOREAU, 1. c.

2 MICHIELS, Le monde du comique, 1886.

3 RÉVEILLÉ-PARISE, 1. c.

4 ARAGO III.

Der h. Dominico wohnt einem fürstlichen Mahle bei, schlägt plötzlich auf den Tisch und ruft: „Conclusum est. contra Manicheos."

Man erzählt von einem grossen Mathematiker, er habe einmal auf die Rückwand eines Wagens eine Formel, die ihn beschäftigte, geschrieben und sei dem Wagen nachgestürzt, als dieser sich in Bewegung setzte.1

Diderot miethete Wagen, die er vor der Thür stehen liess und vergass, so dass er unnützerweise den Kutscher für den ganzen Tag bezahlen musste. Oft vergass er die Stunden, Tage und Monate, sogar die Personen, mit denen er eine Unterhaltung begonnen hatte und hielt dann vor ihnen wahrhafte Monologe nach Art der Somnambulen.

2

Originalität. HAGEN sieht in der Originalität die Eigenschaft, welche das Genie von dem Talent scharf unterscheidet.3 Er hat vollkommen recht. JURGEN MEYER +

schreibt: „Die Begeisterung des Talentes giebt das Festgestellte wieder, die des Genies schafft Neues. Jenes wiederholt, dieses erfindet und erschafft. Das Talent gleicht dem Schützen, der auf ein schwer zu erreichendes Ziel anlegt, das Genie zielt auf etwas, das Niemand bemerkt."

Selbstverständlich liegt das Neue nicht in den Dingen, sondern in dem Anstoss, den sie erhalten.

Die Neuheit und die Grösse in der Auffassung sind die beiden Hauptkennzeichen für das Genie, nach BETTINELLI. „Die Dichter nannten sich deshalb Troubadoure" (vom Provenz. trobar, finden).

Schon Cardanus hatte an den Unterricht der Taubstummen gedacht, lange vor Harriot, und hat die Verwendbarkeit der Algebra für die Geometrie und die geometrischen Konstruktionen vor Descartes eingesehen. Giordano Bruno ahnte schon die modernen Theorien über den Weltenbau und den Ursprung der Wesen.

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3 Verwandtschaft der Genies mit dem Irrsein, 1877.

4 1. c.

Cola di Rienzi hatte schon 400 Jahre vor Cavour und Mazzini die Einheit Italiens mit Rom als Hauptstadt im Sinne. Stoppani erkennt an, dass Dantes geologische Theorie über die Bildung der Meere in allen Punkten unseren heutigen Anschauungen entspricht.

Das Genie ahnt fast alle Dinge, bevor man sie genau kennt. Goethe beschrieb Italien sehr gut, bevor er reiste.1

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es be

Und gerade um dieser Anschauung willen, die der gemeinen Beobachtung immer vorausgeht, ferner darum, weil das in höheren Regionen sich verlierende Genie der gewöhnlichen Ordnung der Dinge sich entwöhnt, finden wir, dass die Männer von Geist meist missachtet und verkannt werden. Das Volk begreift die zwischenliegenden Stufen nicht, die zu ihren Schöpfungen geführt haben, aber es erkennt die Entfernung, die ihre Anschauungen von den gewohnten Anschauungen der Menge trennt, es bemerkt auch die Sonderbarkeiten in ihrem Lebenswandel. Man erinnert sich des Missfallens, mit welchem Rossinis Barbier von Sevilla" und Beethovens Fidelio" empfangen wurden. Boito („Mephisto") und Wagner („Lohengrin") wurden in Mailand ausgepfiffen. Wie viele Akademiker haben mitleidig über den armen Marzolo die Achseln gezuckt, der in Wirklichkeit eine neue Welt für die Sprachwissenschaft entdeckt hat! Bolyay, der die vierte Dimension und die nichteuklidische Geometrie fand, hat man den Geometer für Narren genannt und ihn mit dem Müller verglichen, der Mehl aus Sand machen will. Allbekannt ist, wie Columbus, Fulton, Papin, und zu unserer Zeit Piatti, Praga, Abel und sogar Schliemann behandelt wurden, der Ilium an einer Stelle fand, wo es Niemand vermuthet hatte, und der es unter dem weithin schallenden Gelächter der Gelehrten und Akademiker trotzdessen aufdeckte.

Keine einzige liberale Idee," sagt FLAUBERT, „keine gerechte Sache, über die man nicht gekreischt, kein grosser

1 Anm. des Uebers.: SCHILLER im Tell Land und Leute der Schweiz, ohne je dort gewesen zu sein.

Mann, den man nicht mit faulen Aepfeln beworfen oder mit Messerstichen bedroht hätte! - Geschichte des menschlichen Geistes Geschichte menschlicher Dummheit! wie Voltaire sagt.

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Bei der Verfolgung der Männer von Geist gebärdet sich Niemand feindlicher und verbissener als die Herren Akademiker, die, mit der Waffe des Talentes und dem Stachel der Eitelkeit versehen, den Vorzug der Autorität für sich haben, welche ihnen der gemeine Mann und die Regierungen verleihen, die auch grösstentheils aus gewöhnlichen Köpfen bestehen. Es giebt Länder, wo das Niveau des Gemeinen sehr weit hinaufreicht und wo die Insassen nicht bloss das Genie, sondern sogar schon das Talent hassen. Es ist eine bekannte Sache, dass aus zwei italienischen Universitätsstädten die Männer auswandern mussten, welche den einzigen Ruhm derselben ausmachten.

Originalität findet sich ziemlich häufig

freilich fast

immer ohne Zweck in den Handlungen der Irren, wie wir im folgenden sehen werden. Besonders ist das bei den Litteraten der Fall. Ihre Ahnungen streifen mitunter bis an das Genie. Bernardi versuchte im Irrenhause zu Florenz im Jahre 1529 nachzuweisen, dass die Affen eine ihnen eigene Sprache besitzen (DELEPIERRE. Hist. littéraire des fous. Paris 1860).

Genie und Wahnsinn leiden um dieser unseligen Gabe willen an der Unkenntniss der Bedürfnisse des praktischen Lebens, die ihnen stets unwichtiger als ihre Träumereien erscheinen, und diese Unkenntniss ist um so trauriger für sie, da sie unregelmässige Lebensgewohnheiten zur Schau tragen.

Besondere Wortbildung. - Die Originalität bewirkt bei dem Genie wie bei dem Irren, dass er Worte erfindet, die nur sein eigenes Gepräge tragen und eine nur ihm, aber allen anderen Menschen nicht, verständliche Wichtigkeit und Bedeutung haben. Dahin gehören Vicos dignità, Carraras Individuità, Alfieris Odio serrato, Marzolos albero epogonico, Dantes Immiarsi, Intuarsi und Entomata.1

1

dignità Würde, individuità

=

Untheilbarkeit, odio serrato

verborgener Hass, albero epogonico Stammbaum (?), Immiarsi = ein anderes Ich werden, intuarsi in dich eindringen, entomata Insekten.

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Drittes Kapitel.

Abortivformen von Neurosen und Geistesstörungen
bei den Männern von Geist.

Durch die vorangegangenen Betrachtungen sind wir nun in der Lage, uns über die Neurosen und Geistesstörungen, die als Abortivformen bei genialen, selbst nicht gestörten Menschen häufig vorkommen, aber den Keim zu solchen Krankheiten enthalten,

zu äussern.

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Veitstanz Fallsucht. Viele bedeutende Männer, wie auch Irre, leiden an seltsamen Verzerrungen, d. i. choreaähnlichen Krämpfen. Lenau und Montesquieu hinterliessen auf dem Fussboden ihrer Zimmer Eindrücke infolge der krampfhaften Bewegungen ihrer Füsse während des Arbeitens, Buffon, Santeuil, Crébillon, Lombardini1 litten an befremdlichen Gesichtsverzerrungen, Chateaubriand lange Zeit an Krampf im Arme. Napoleon hatte habituellen Krampf in der linken Schulter und in den Lippen. Mein Zorn, sagte er einst nach einem Zwist mit Hudson Lowe, muss sehr arg gewesen sein, denn ich fühlte meine Waden zittern, was mir lange nicht begegnet ist. Peter d. Gr. litt an einem Krampf, der sein Gesicht und Aussehen schrecklich entstellte.

Carduccis Gesicht glich bei Gelegenheit einem Sturmwetter, Blitze zuckten aus den Augen, die Muskeln zuckten. 2 Ampère konnte seine Gedanken nur im Gehen äussern, sein ganzer Körper war dann in beständiger Bewegung.3

Sokrates tanzte und sprang oft auf der Strasse ohne Grund. Julius Caesar, der Apostel Paulus, Petrarca, Karl V., Molière, Händel, Flaubert, Dostojewsky haben bekanntlich an epileptischen Anfällen gelitten.

1 RÉVEILLÉ-PARISE, Physiol. et Hygiène des hommes livrés aux travaux de l'esprit, Paris 1856. Auch der sonst sehr hässliche Johnson (vgl. MACAULAY); ferner Ribot.

2 MANTEGAZZA, Fisionomia e mimica, Firenze 1881.

3 ARAGO II. 82.

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