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Gleichwohl ist damit die Annahme von Degeneration nicht ausgeschlossen. Denn wie bei den moralisch Irrsinnigen tritt hier die Apathie hinzu, infolge deren die sonst so regsamen Geister gegen das empfindlichste Weh fühllos werden. Darauf beruht auch die lange Lebensdauer bei geborenen Verbrechern, die nicht in Gefängnissen leben. Uebrigens ist nicht zu vergessen, dass die Langlebigkeit des Genies nicht als allgemeine Regel gelten kann, da viele hochbedeutende Männer das Alter von 40 Jahren nicht erreichten, z. B. Raphael, Pascal, Burns, Byron, Mozart, Felix Mendelssohn, Bellini, Bichat, Pic de la Mirandola u. A. m.

Viertes Kapitel.

Geisteskranke Genies.

Alles, was bei den genialen Menschen und bei den Irren sich ähnlich sieht, beweist allerdings doch nicht, dass man darum diese beiden Menschenklassen zusammenwerfen darf. Wir lernen nur daraus, dass Genie und Wahnsinn einander nicht ausschliessen.

Sehen wir von den unzähligen geistig Begabten ab, die einmal an Hallucinationen gelitten oder in Geisteskrankheit verfallen sind, oder auch von solchen, deren ruhmreiches Leben mit Blödsinn endete, wie es bei Vico geschah, so giebt es doch viele, die ihr ganzes Leben hindurch Hallucinanten und Monomane waren.

In der Neuzeit wurden irre: Lattre, Farini, Brougham, Southey, Govone, Gounod, Gutzkow, Monge, Fourcroy, Lloyd, Cooper, Rocchia, Ricci, Fenica,1 Engel, Pergolese, Batjuschkoff, Murger, B. Collins, Techner, Hölderlin, van der West, Gallo, Spedalieri, Bellingheri, Salieri, Johannes Müller, Lenz,

1 MASTRIANI, Sul Genio e la Follia, Napoli 1881.

2 Salieri, A. (1750-1835) bildete sich ein, Mozart vergiftet zu haben.

Barbara, Fusely, Petermann, der Maler Whit, der Karrikaturenzeichner Cham, Hamilton, Poë, Uhlrich (TOLSTOY).

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In Frankreich starben von originellen Dichtern jugendlichen Alters im Wahnsinn: Arm. Berthet, Morin, Dabellay, Du Boys, Bataille. Dasselbe scheint mit Brissault und Laurent der Fall gewesen zu sein; unter den Frauen finden wir die Günderode, Stieglitz, Brachmann und Laudon, die irre waren und im Wahnsinn starben.

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Montanus wurde ein Opfer der Vereinsamung und seiner überspannten Einbildungskraft; er war überzeugt, in eine Kornähre verwandelt zu sein und bewegte sich nicht aus Furcht, von den Vögeln gefressen zu werden. (ZIMMERMANN, Ueber die Einsamkeit.)

Harrington bildete sich ein, seine Gedanken schwärmten als Bienen aus seinem Munde und kauerte mit dem Besen in der Hand in einer Hütte, um sie zu verjagen.

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Haller glaubte von den Menschen verfolgt, von Gott verstossen zu sein wegen des Schmutzes seiner Seele und um seiner ketzerischen Bücher willen. Enorme Dosen Opium und der Verkehr mit Geistlichen beruhigten ihn allein.

Ampère warf eine Abhandlung über die Zukunft der Chemie ins Feuer, weil er sie für ein teuflisches Machwerk hielt.

Der grosse holländische Maler van Goes bielt sich für besessen.

Carlo Dolce schwur in seinem religiösen Wahn, fortan nur Heiligenbilder zu malen. Seine Madonnen, die er malte, glichen allerdings der Balduini. An seinem Hochzeitstage blieb er aus und als man ihn suchte, fand man ihn vor dem Altar der Verkündigung Marie knien.

Der Dichter Lee verfasste im Wahnsinn 13 Tragödien. Als ein mittelmässiger Kollege meinte, es sei leicht, wie Irre

1 MARTINI, Tra un cigaro e l'altro, p. 195.

Die Stieglitz und Günderode gaben sich den Tod mit grösster Kaltblütigkeit. (Uebers.)

Tagebuch, Bern 1887.

zu schreiben, erwiderte Lee: „Es ist leicht, wie ein Dummkopf zu schreiben, nicht aber wie ein Irrer."

Thomas Lloyd, der sehr schöne Verse verfasste, war ein Gemisch von Bosheit, Hochmuth, Narrheit und Geist. Wenn seine Verse ihm nicht gefielen, so tauchte er sie in sein Glas, ,,um sie aufzufrischen". Was er in seinen Taschen oder sonst wo fand, Kohlen, Papier, Tabak mengte er unter sein Essen aus sanitären Gründen, die Kohle als Reinigungs-, Steine als Abhärtungsmittel!!

Robert Schumann, geboren 1810, gest. 1856, jüngster Sohn eines Buchhändlers in Zwickau, als „schönes Kind“ und Liebling der Familie verzogen, lernt als Studiosus juris seine spätere Frau, die ausgezeichnete Klaviervirtuosin Clara Wieck kennen, zeigt schon im 23. Lebensjahre Spuren von Melancholie; wird im 44. von dem Schwindel der allwissenden. Tische ergriffen, hat Gehörstäuschungen, vernimmt Accorde und ganze, von Mendelssohn und Beethoven ihm eingegebene Musikstücke, stürzt sich in den Rhein und stirbt zwei Jahre darauf, verblödet in der Privatanstalt des Dr. Richarz in Endenich bei Bonn. Die Autopsie ergab Verdickung der Hirnhäute und Atrophie des Gehirns.

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Gérard de Nerval litt an cirkulärem Irresein, Exaltation und Depression während je sechs Monate. In ruhigen Momenten hörte er den Geist Adams, Moses' und Josuas, trieb kabbalistische Beschwörungen, führte den Tanz der Babylonier" auf; in der Irrenanstalt hielt er den Direktor derselben für irre, wir Anderen," meinte er, thun ihm den Gefallen, uns irre zu stellen." Er zeichnete mit dem Saft von Blumen symbolische Figuren, darin eine phantastische Riesin, deren Bild die Diana, die heilige Rosalie und eine Schauspielerin, Namens Colon, in die er verliebt sein sollte, gleichzeitig vorstellte. Die Colon liebte er schon lange, schickte ihr grosse Blumensträusse, kaufte gewaltige Lorgnetten, um sie besser sehen, und kostbare Röcke, um seinen Beifall ausdrücken zu können. Daher hiess es von ihm, er habe sich in Lorgnetten, Orgien und Röcken ruinirt. Er hatte ein Bett im mittelalterlichen Stil entdeckt, das ihm für seine Liebesabenteuer

LOMBROSO, Der geniale Mensch.

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dienen sollte, und schaffte zur entsprechenden Ausstattung ein Zimmer mit alterthümlichen Luxusmöbeln an.

Als er in Noth gerieth, wurden die Möbel verkauft, das Bett nur blieb im Zimmer, wanderte dann in die Rumpelkammer und verschwand endlich, während sein Eigenthümer die Nächte in Kneipen und Schlafstellen zu 2 Sous zubrachte und unter Bäumen und in Thorwegen schrieb. Später, als er die Colon nicht mehr zu sehen bekam, wurde sie für ihn ein Idol, mit dem er lebte und das sich in seiner mystischen Vorstellung bald mit Heiligen, bald mit den Sternen vermengte; einmal sah er in ihr die h. Therese verkörpert. Als man ihm vorstellte, sie habe ihn nie geliebt und nur einmal gesehen wie es auch wirklich der Fall war, meinte er: „Wozu brauchte sie mich auch zu lieben", und citirte die Verse von HEINE: „Wer zum zweitenmal glücklos liebt, der ist ein Narr“; „ich bin ein solcher Narr. Sonne, Mond und Sterne lachen, und ich lache mit und sterbe."

Einstmals beim Sonnenuntergange steht er auf einem Balkon, sieht plötzlich eine Erscheinung und hört eine Stimme, die ihn ruft; er stürzt hinunter und wäre beinahe zu Tode gekommen. Das war sein erster Anfall infolge von Gesichtsund Gehörstäuschungen.

Gegen sein Lebensende, im 46. Lebensjahre, entwickelte sich der Grössenwahn. Er sprach von seinen Schlössern in Ermenonville, von der Schönheit seines Körpers, über die alle Krankenwärter verwundert seien, kaufte alle Münzen mit dem Gepräge Nerva, da er nicht wollte, dass der Name seiner Ahnen in den Bureaux sich umtreibe, obwohl sein Name Nerval nur ein angenommener war.

Bisweilen gab er sich für einen Nachkommen von Folobelle de Nerva aus, dessen Geschichte er schreiben wollte. Alle männlichen Nachkommen des Letzteren, behauptete er, trügen auf der Brust ein übernatürliches Zeichen, das Siegel Salomonis (Tetragramm).

Scheu und furchtsam in seinen ruhigen Tagen, wurde er dreist und lärmend, wenn der Anfall kam, und bedrohte seine Freunde sogar thätlich.

Trotz des Temperaturabfalls auf 17° C. wollte er seine Sommerkleider nicht ablegen. Die Kälte sei ein Stärkungsmittel, die Lappen seien niemals krank. hängte er sich auf. (MAXIME DU CAMP. 1887. éd. 2.)

Wenige Tage später Souveniers littéraires.

Baudelaire erscheint uns in dem seinen nachgelassenen Schriften vorgedruckten Bilde als der Typus des mit Grössenwahn behafteten Irren mit seiner herausfordernden Haltung, seinem verächtlichen Blick, seiner Selbstzufriedenheit. Er entstammte einer Familie von Irren und Ueberspannten. (Revue bleue. 1887. Juli.)

Man braucht nicht Irrenarzt zu sein, um in ihm den Geisteskranken zu erkennen. Von Jugend auf hatte er an Hallucinationen und nach seinem eigenen Geständniss an zwei entgegengesetzten Stimmungen gelitten, an Hyperästhesie und Apathie, die so weit ging, dass es ihm zum Bedürfniss wurde, „eine Oase des Schreckens in einer Wüste von Langweile von sich abzuschütteln." Bevor er in Blödsinn verfiel, überliess er sich impulsiven Ausschreitungen, warf z. B. Töpfe gegen die Glasfenster von Magazinen, bloss um das Geklirr der zerbrochenen Scheiben zu hören. Er wechselte allmonatlich seine Wohnung, erbat die Gastfreundschaft irgend eines Freundes, um eine Arbeit zu schliessen, und verlor seine Zeit mit Lesen von Dingen, die keinen Bezug auf jene hatten. Nach dem Tode seines Vaters gerieth er in Streit mit seinem Stiefvater und versuchte ihn in Gegenwart seiner Freunde zu erwürgen.

Wie es heisst, in Handelsgeschäften nach Indien beordert, verlor er dort alles und brachte von dort nichts als eine Negerin zurück, auf die er lascive Verse machte. Er wollte um jeden Preis originell erscheinen, beging Ausschweifungen im Trinken vor den Leuten, färbte seine Haare grün, trug im Sommer Winter-, im Winter Sommerkleider.

Krankhafter Art waren auch seine Liebesverhältnisse mit hässlichen, widerwärtigen Personen, Negerinnen, Zwerginnen, Riesinnen. Gegen eine sehr schöne Frau äusserte er den Wunsch, sie an den Händen aufgehängt zu sehen und ihr die Füsse küssen zu dürfen. Die Schwärmerei für den nackten

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