Page images
PDF
EPUB

Etwa den, dass die grossen Dichter und die grossen Erfinder geisteskrank sind? Bewahre! Wie LOMBROSO, so protestire auch ich dagegen, wenn man uns eine solche Meinung unterschieben wollte.

Denn wenn auch das Genie hie und da etwas dem Irren Aehnliches zeigt, so unterscheidet es sich doch von letzterem durch eine wesentliche Eigenschaft. Die schnelle und bizarre Auffassung hat es allerdings gleich dem Irren, aber es hat noch etwas mehr, etwas, das seine Auffassung fruchtbar macht und nicht zu fruchtloser Abgeschmacktheit verkommen lässt, das ist die Klarheit und Weite der Anschauung.

Die meisten Menschen leben in einem Zustande halben Träumens; sie sind unfähig die Beziehungen der sie umgebenden Gegenstände zu erfassen, ohne sich jeden Augenblick der Wahrheit der Aussendinge zu vergewissern, ohne etwas tiefer zu ergründen, da sie nur die Oberfläche der Dinge erkennen und nur ein Ohr für ihre Träume haben, denen sie getreulich Folge leisten; sie reagiren nicht, lassen sich von den Ereignissen mit fortreissen und ermangeln vollständig des kritischen Vermögens, mit Hülfe dessen die Verirrungen des abschweifenden Geistes zufolge der steten Erkenntniss der konkreten Wirklichkeit kontrollirt und gezügelt werden.

Die Irren leiden mehr als die normalen Menschen an der Verstandesschwäche, die nicht sieht, was um sie her vorgeht. Sie träumen ganz und gar.

„Das Irresein," sagt GÉRARD DE NERVAL (der sich leider nur zu gut darauf verstand), „ist das Ueberschäumen des Traumes in das wirkliche Leben."

Bei den Irren giebt es keinen Zügel gegen das Durch. gehen, kein Machtgebot, die Wahrheit der Dinge hat keinen Einfluss.

Die geistvollen Menschen haben dagegen, neben ihrer feurigen und allezeit sprungfertigen Einbildungskraft, grosse kritische Einsicht, welche bei ihnen unmittelbar und fast gleich

zeitig mit der schöpferischen Ideenbildung thätig ist. Diese Mischung von kritischem und Erfindungsgeist macht ihre Stärke aus.

Im Grunde genommen ist dieser kritische Geist vielleicht lediglich ein erweitertes Gebiet der Intelligenz, so dass schliesslich die geistvollen Menschen nur darin von den Irren sich unterscheiden, dass sie nicht eine vereinzelte, sondern eine ganze, fast unendliche Reihe von Gedankenverbindungen besitzen, die sich in grosser Anzahl auf dem breiten Raume ihrer Intelligenz niederlassen; die Weite ihres Denkens befähigt sie, den Uebermuth ihrer Einbildungskraft zu zügeln.

Man darf demnach bei jeder genialen Leistung zwei Elemente unterscheiden, einerseits das originelle und anomale Schaffen, andererseits den Geist des Ueberblicks und der Kritik. Der Irre besitzt den Sinn des originellen Schaffens, ist aber nicht im stande, ihn durch eine strenge Kritik zu mässigen. Der gewöhnliche Mensch besitzt vielleicht etwas kritischen Geist, aber es fehlt ihm das originelle Schaffen; so ist auch er, wenn auch aus anderen Gründen als der Irre, unfähig, etwas Grosses zu leisten.

Man wird hier den Einwurf machen, wo man die Menschen unterbringen soll, die zwar kein Genie, aber doch Talent und Verdienst besitzen, wenn es wahr ist, dass es von den verschiedenen Formen der Intelligenz, von der des grössten Genius bis zur Mittelmässigkeit, bis zum Dümmsten, keinen Uebergang giebt.

LOMBROSO spricht nicht allein von mächtigen Geistern, sondern auch, und das ziemlich oft, von Leuten mit zum Theil recht geringen Verdiensten; viele derselben sind sogar den Gelehrten unbekannt geblieben. Streng genommen darf man zugeben, dass die Geistreichen abnorm sind. Dehnt man aber diesen Satz auch auf die Talentvollen aus, so führt das zu weit.

Freilich ist es schwierig, ja fast unmöglich, die Grenzen zwischen Genie und Talent, Talent und Verdienst, Verdienst

und Unbedeutendheit zu ziehen.

Aber es lässt sich doch erkennen, dass bei Menschen von grossem Talent ein gewisses Maass von Erfindungs- und Schöpfungskraft vorhanden und dass dieses die Seite ist, von der aus der Talentvolle dem Genialen sich nähert.

„Verbrechen hat, wie Tugend, seine Grade," sagt ein Dichter. So ist es auch mit der Erfindung. Mancher Dichter, der ganz Ehren- und Anerkennenswerthes geleistet hat, kann in Augenblicken der Begeisterung eine erhabene Dichtung schaffen. Leider ist das jedoch nur ein Aufblitzen. Er kommt nicht wieder dazu; es war nur eine Stunde genialen Schaffens und nichts weiter. Da hätte also sein Geist mit den dem Irren eigenthümlichen Geistesmitteln gearbeitet, d. h. mit wunderlichen und überraschenden Gedankenverbindungen, welche anderen Menschen nicht zu Gebote stehen. Die Befähigung zu solchen Verbindungen deutet, und wenn sie nur eine Stunde währt, auf eine gewisse Originalität, mag letztere auch weniger tief und dauernd sein als bei höher Begabten, welche den dazu Befähigten immerhin der Reihe der gewöhnlichen Sterblichen enthebt.

Warum soll man nun nicht zugestehen, dass jeder mit Geistesarbeit Beschäftigte zwei verschiedene psychische Kräfte besitzt, einerseits die Schöpferkraft, die in dem Vermögen besteht, kühne, unvorhergesehene Gedanken aneinanderzureihen, andererseits das kritische Vermögen, welches jene fremdartigen Gedankenreihen durch ihnen widersprechende zügelt und zurechtsetzt.

Drücken wir es in der dem Physiologen geläufigen Sprache aus, so heisst das: es giebt zweierlei Erscheinungen, Bewegungsdrang und Bewegungshemmung. Das Mittel aus diesen beiden sich widerstrebenden Kräften ist die definitiv ausgeführte Bewegung.

Die Irren haben zwar den Impuls, den Bewegungsdrang, aber es fehlt ihnen das Hemmungsvermögen. Die Hemmung

bedeutet hier so viel wie tiefes Nachdenken, reifes Urtheil, Erwägung des Geschehenen, Verbindung des Vergangenen mit der Gegenwart und der Zukunft, Erkenntniss des Möglichen und des Wirklichen. Nichts von alledem hält bei dem Irren den Bewegungsdrang auf, und da die Bewegung ungeordnet und maasslos ist, so verfehlt sie das Ziel. Gewöhnliche Menschen besitzen einen entwickelten kritischen Verstand; sie sind aber ausser stande, die originelle Regung, die zu grossen Thaten befähigt, zu empfinden und bleiben deshalb mittelmässig, verständig aber mittelmässig, d. h. sie gehen nicht über die hergebrachten Gedanken ihres Kreises hinaus. Der Geniale dagegen vereinigt jene beiden Geistesvermögen in sich. Er besitzt den mächtigen Reiz zum Schaffen und er berichtigt, infolge seines klaren Blickes und seines weiten geistigen Gesichtskreises seine unbedachte Begeisterung vermöge eines richtigen und strengen Urtheils.

Eigentlich sind diese beiden psychischen Vorgänge nicht voneinander zu trennen; wir nehmen die künstliche Scheidung nur behufs wissenschaftlicher Prüfung vor, sonst sind bei jeder Geistesoperation diese beiden Arten von Gedankenbildung gemeinsam in Thätigkeit.

Welches Geisteswerk man auch prüfen mag, man wird die beiden sich widersprechenden Richtungen entdecken, aus welchen diese oder jene geistige Schöpfung hervorgeht.

Es ist von diesem Gesichtspunkt aus nicht uninteressant, die Werke grosser Meister zu betrachten. Sowohl in der Malerei, als auch in der Poesie, in den Wissenschaften und in der Industrie wird man die beiden Richtungen in ihren verschieden auftretenden Verhältnissen herausfinden.

Findet man z. B. nicht, dass in Poës Werk Phantasie, Erfindung, originelles Schaffen, aussergewöhnliche Gedankenverknüpfung das kritische Element vollständig überwuchern? Poë war übrigens ein wenig Dipsomane und sogar Alkoholiker. Wenn seine Werke wirklich genial sind bedeutend sind sie

auf jeden Fall, so ähneln sie doch zum Sprechen den Verirrungen eines Verrückten.

Die tiefe, feinsinnige, unerbittliche psychologische Zergliederung, wie sie bisweilen Irrsinnige, die an folie raisonnante leiden, ausüben, findet man in unvergleichlich kräftigem Maasse in Dostojewskis Verbrechen und Strafe, und dieser gewaltige Schriftsteller hatte nicht weniger als Poë seine Verstandeslücken. Einige bizarre Reden, die er seine Personen halten lässt, sehen ganz wie die eines Irren aus. Gleichwohl ist in diesem Buche ein Scharfsinn unverkennbar, der weit über den Scharfsinn der gewöhnlichen Menschen hinausragt. Wenn das nicht Genie ist, so steht es dem Genie doch sehr nahe.

Bei anderen Schriftstellern herrscht die kritische Seite vor. Dennoch sind sie nicht ohne eine gewisse schöpferische, erfinderische und originelle Begabung. Voltaire, der die guten und die schlechten Seiten des französischen Geistes vertritt, besass den kritischen Sinn und sozusagen die geistige Hemmungskraft im höchsten Grade. Sein klarer und weiter Blick wusste sofort die schwache Seite der Dinge aufzufinden. Mehr als irgend Jemand war er für das Wirkliche empfänglich und liess sich durch Träumerei nicht irren. Uebrigens war seine dichterische Erfindungsgabe verhältnissmässig schwach, und trotzdessen, welche Einbildungskraft, welche Einfälle! Ist das nicht auch Erfindung? Man lese seinen Briefwechsel, die Briefe, die er ohne alle Mühe schrieb, und man wird über die Fülle von Ideen erstaunt sein. Sie strömen sozusagen über, wie sie aus seiner Feder fliessen. Es ist eine immerwährende Inspiration. Beissender Spott! überraschende Wendungen, geistvolle Worte! das ist doch alles auch eine Form von Erfindung und nicht zu verachtender Art. Wenn Voltaire nichts als seinen geraden Verstand besessen hätte, so würde er nicht der König Voltaire, der Meister und geistige Führer des 18. Jahrhunderts, von dem wir geradeswegs stammen, geworden sein.

« PreviousContinue »