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Europäische Annalen

Jahrgang I 799

Erster Band

NEW YORK
PUBLIC
LIBRARY

von

D. Ernst Ludwig Posselt.

Tübingen

in der J. G. Cottaischen Buchhandlung

I 7 9 9.

THE NEW YORK PUBLIC LIBRARY 760134

ASTOR, LENOX AND TILDEN FOUNDATIONS ✨ 1916

3.75

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Blik auf die Lage Europens
zu Anfang des Jahrs 1799.

Hie mundi punctus (neque enim est aliud in universo) materia est gloriae nostrae, et sedes: hic honores gerimus, hic exer cemus imperia, hic opes cupimus, hic tumultuamur huma num genus, hic instauramus bella etiam civilia, mutuisque eaedibus laxiorem facimus terram."

PLIN. Hist. Nat. II. 68.

Nur äusserst wenige Geschichtschreiber hatten, wie Taz citus, die philofopbische Resignation, ihr Zeit Alter des Mangels an Interesse anzuklagen; *. Beinahe von allen gilt Voltaires: so: naive Beinerkung: ** „fie betrach= teten den Hof, an dem fe lebten, wie den glänzendsten,, der jemals war, die Ereignie, woran sie Theil hatten, oder die sich überhaupt zu ihrer Zeit zutrugen, wie die wichtigsten, die je auf der großen WeltSchaubühne spiela

**

„Nemo Annales nostros cum scriptura eorum contenderit, qui veteres populi romani res composuere. Ingentia illi bella, expugnationes urbium, fusos captosque reges; aut, si quando ad interná praeverterent, discordias consulum adversum tribunos, agrarias frumentariasque leges, plebis et optimatium certamina (wer bemerkt hier nicht auf den er ken Blik, wie viel Aehnlichkeit diese veteres populi roma ai res" mit unsern allerneuesten ThatSachen haben ?) libero egressu memorabant. Nobis in arcto, et inglorias labor. Annal. IV, 32.

In seinem Discours sur l'histoire de Charles XII

ten; gutmüthig wähnten sie, die Nachwelt werde alles das mit ihren Augen ansehen. Unternahm etwa ein König einen Krieg, war sein Hof durch Intriguen ers schüttert, kaufte er die Freundschaft eines seiner Nachbarn, indem er einem andern die feinige verkaufte, schloß er endlich, nach einigen Siegen und nach einigen Niederlagen, mit seinen Feinden einen Frieden, wodurch er ein paar Städte oder eine Provinz gewann' sofort glaubs ten seine Unterthanen, von der Neuheit dieser Begebens heiten geblendet, sie lebten in der ausserordentliche ften Epoche seit Erschaffung der Welt. Aber der König - starb; man nahm, nach ihm, gleich entgegengesezte Mass regeln, vergaß die Intriguen seines Hofes, und feine Minister, und seine Generale, und seine Krieger, und ihn selbst.. Seitdem die Kabinette in Europa eins ander zu hintergehen suchen, und Kriege führen, und Allianzen knüpfen, hat man Tractaten zu Tausenden unterzeichnet, Schlachten zu. Tausenden.geliefert; wer kan die grosen, wie die schändlichen. Thaten, alle zählen? wenn die unermeßliche Convolut von Ereignissen auf die Nachwelt kommt, so sind:ße schol beinahe alle wieder, die frühern durch die spätern, vernichtet;; die einzigen, die dann noch bleiben, Jivd jene.irchigen; durch welche grose Revolutionen bewirkt wurden."

Und im ganzen Umfang der Geschichte — welche Pes riode könnte sich, in dieser Rüksicht, mit dem lezten Jahrzehend des achtzehnten Jahrhunderts messen? Unftreitig wird dasselbe einst vor allen ZeitAltern den Blik der Nachwelt firiren; von ihm wird man eine der wenigen HauptEpochen in der Welt: Geschichte datiren, bei weis tem gråser und vielumfaffender als die der Noachischen Fluth, der Gründung Roms, oder der Entdekung von Amerika; alles, was man bis auf uns Revolutionen nannte, wird als ein blos partielles und ephemeres Phänomen hinschwinden gegen diese Revolution, welche mehr oder minder die ganze Masse des Menschengeschlechts erschük

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tert, eine neue Denk- und EmpfindungsWeise, eine moralische Neue Welt unter unsern Augen hervorgebracht, oder wie man bei der betäubenden Schnelligkeit, womit diese Umschaffung geschah, recht eigentlich sagen kan, hervorgezaubert hat.

Bis auf uns nannte man Revolutionen gewöhne lich nur die gewaltsamen Veränderungen, entweder in der Person des Regenten, oder in der RegierungsArt eines Landes. Von diesen Revolutionen ist die Geschichte aller Zeiten und Völker in allen ErdTheilen voll. Das cines mal ward ein alter Thron niedergestürzt, um auf seinen Trümmern einen FreiStaat zu gründen; ein andermal ward etn Freistaat dem Szepter eines Königs unterwors. fen. Bald stürzte die eigne Leibwache oder selbst die Ges mahlin des Monarchen, bald ein fremder Eroberer oder ein kühnes ParteiHaupt, diesen vom Thron, um einen andern, oder sich selbst, darauf zu sezen. So erlitt in altern Zeiten Persien eine Revolution, als der lezte feiner Groskdaijě, žegen den Mażędonier Alexander bei Arbela Schlächt und Krone verlor; Rom als Junius Brutus die Targitinier vertried: so in neuern Zeiten Enga land, als Karl I durch Trompelln, Rußland, als Peter III durch eine Gemahlin entthront ward.

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Ders gleichen wilde Streiche des Schiksals bieten, zumal in Zeiten der glüklichen Monotonie eines langen Friedens, ein hohes Intereffe der Neugier; aber nur in äusserst wes nigen Fällen waren sie von wesentlichem, dauerndem Eins fluß auch nur auf das Wohl oder Weh des einzelnen Staats, den sie betrafen. Abgerechnet jenen unsichtbas ren allgemeinen Zusammenhang aller Begebenheiten des WeltAlls, den, nur das Auge faßt, das die Bewegung wahrzunehmen vermag, die ein am Ufer von England in's Meer geworfner RosenStengel am Ufer von China hervorbringt," ist gewdhnlich in hundert Jahren von als len solchen Revolutionen keine Spur mehr übrig. „Die Nation" sagt ein denkender Beobachter der großen Ers

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