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wicklung auch im ganzen ins Auge zu fassen suchen, so dass sie der Praxis als Führerin dienen kann. Die vorauszusehenden und unvermeidlichen Divergenzen, die sich zwischen den politischen Sonderinteressen und dem Rechtsstandpunkte auch in Zukunft wieder ergeben werden, dürfen die Wissenschaft nicht davon abhalten, der Praxis die Wege zu weisen und ihr die Aufgaben, deren Lösung das Recht fordert, vor Augen zu führen. Ob und inwieweit die Politiker ihr in einem gegebenen Zeitpunkt auf diesem Wege folgen werden, das ist eine andere Frage, über die der Rechtswissenschaft ein Urteil nicht zusteht.

In Wirklichkeit ist allerdings gegenwärtig im Völkerrecht, das lässt sich nicht leugnen und mufs hier betont werden, das Verhältnis eher ein umgekehrtes. Die Staatenpraxis ist es anscheinend, die voranschreitet, und die Wissenschaft beschränkt sich auf die Registrierarbeit.

Will die Völkerrechtswissenschaft denn aber wirklich auf die Länge die Lösung der wichtigsten Rechtsfragen ganz den Friedensfreunden und den Diplomaten überlassen? Wacht sie so wenig eifrig über ihren eigenen Grund und Boden, dafs sie ihn anderen zur Bearbeitung überläfst? Wenn auch, wie Niemeyer richtig betont, der völkerrechtliche Fortschritt sich durch die Mittel der Politik vollzieht, so nimmt das nicht weg, dafs es Aufgabe der Wissenschaft ist, die Vorarbeiten zu besorgen und dem Fortschritte insofern die Wege ebnen zu helfen.

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So glaube ich, dafs es in der Tat nicht an Gründen fehlt, die es für die Völkerrechtstheorie rechtfertigen, ja sogar zur Notwendigkeit machen, sich mit dem Problem der Fortbildung des völkerrechtlichen Verfahrens zu befassen.

Wo dabei der Ausgangspunkt zu nehmen ist, das versteht sich für die rechtswissenschaftliche Betrachtung von selbst.

In der „Deutschen Juristenzeitung", April 1906.

Sie wird sich auch bei der Beschäftigung mit den Fragen der zukünftigen Rechtsgestaltung nicht ins rein Spekulative verirren, sondern unter allen Umständen an das Bestehende anknüpfen und daher überall vom positiven, vom geltenden Recht ausgehen, gleichviel welche Probleme sie gerade erörtert.

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Die Basis für eine Betrachtung der Fortbildungsmöglichkeiten des Völkerprozefsrechts mufs daher heute selbstverständlich die Haager Konvention sein. Wenn ich diese letztere im folgenden auch nicht selbst zur Darstellung bringen werde ich will dogmatische Erörterungen nach Möglichkeit vermeiden, da sie in dem diesmaligen Zusammenhange doch einigermafsen als Ballast erscheinen müfsten, kann sie aber doch nicht überall ganz übergehen - vielmehr ihren Inhalt mehr oder weniger als bekannt voraussetze, so werde ich doch immer wieder auf diese Grundlage des modernen Rechtszustandes in unserer Materie zurückzugreifen haben. Die Haager Konvention mufs die Basis sein, auf der man in Zukunft fortzubauen haben wird. Wenn sich eine Fortbildung des uns hier beschäftigenden Rechtsgebietes wirklich vollziehen sollte, dann sollte dies vor allem geschehen im Wege einer Revision der erwähnten Konvention. Das erscheint dem Juristen ohne weiteres selbstverständlich. Alle Postulate, zu denen man möglicherweise gelangen sollte den Charakter derselben als Postulate, im Gegensatz zu den geltenden Normen, wird man immer zu betonen haben werden nur dann richtig fundiert sein, wenn sie ihre Begründung in Bestimmungen des heute geltenden Rechts finden.

Im übrigen kann man sich aber natürlich das Ziel verschieden weit stecken. Als realisierbar und nur mit realisierbaren Problemen hat es die Rechtswissenschaft zu tun werden zunächst nur diejenigen Aufgaben erscheinen, die vom Standpunkte der heutigen rechtlichen und staatlichen Ordnung, der heutigen politischen Zustände gelöst werden können, die die Grundlagen des heute geltenden Völkerrechts

zur Voraussetzung haben. Nur mit in diesem Sinne realisierbaren Projekten will ich mich hier beschäftigen. Dafs die Entwicklung einmal über diese Schranken hinaus ihren Weg nehmen könnte, will ich keineswegs bestreiten 5. Aber ich beschränke meine Aufgabe ausdrücklich auf dasjenige, was heute, was innerhalb der Grenzen des jetzigen Zustandes, erreichbar erscheint.

Sind es somit lediglich die nächst liegenden Aufgaben, die uns im folgenden beschäftigen sollen, so bin ich anderseits doch weit davon entfernt, zu glauben, dafs diese Aufgaben nun sofort oder auf einmal gelöst werden dürften. Ich werde im Gegenteil in dieser Arbeit des öfteren Gelegenheit haben, zu betonen, dafs es sich in der Materie nur um eine allmähliche Entwicklung handeln kann und dafs man sich daher in seinen Wünschen dem geschichtlichen Tempo und Werdegang anpassen mufs". Sollte also insbesondere die jetzt bevorstehende zweite Haager Friedenskonferenz auch nicht alles bringen, was man vielleicht von ihr erwartet, so will das für die praktische Lösung des Problems im ganzen nicht viel bedeuten. Man mufs der Zukunft auch einiges überlassen, darf ihr aber meines Erachtens unter allen Umständen mit Zuversicht entgegensehen, und darf sich daher auch sagen, dass es keinesfalls überflüssig oder gar aussichtslos ist, die Staatsmänner auf die ihnen erwachsenden Aufgaben hingewiesen zu haben. Dem kurzblickenden Kritiker gegen

5 Solche spätere Entwicklungsmöglichkeiten sind von einer Reihe von Schriftstellern, wie von Revon, Mérignhac, Pasquale Fiore, Dumas u. a., mit in den Kreis der Betrachtung hineingezogen worden.

• Denn es ist so, wie Meili, „Die internationalen Unionen“, S. 58 sagt: „Ein verständiger Realismus, getragen von einem idealen Zuge, kann uns allein im internationalen Rechte weiter bringen ein Realismus, der Rücksicht nimmt auf das Tempo der Geschichte, auf die praktischen Bedürfnisse des Lebens und auf den gegenwärtigen Zustand des Völkerrechts."

7 Wer erinnerte sich hierbei nicht der schönen Worte, mit denen Descamps seine berühmte Denkschrift über „Die Organisation eines

über aber darf die Uberzeugung trösten, dafs die hier entwickelten Gedanken zum mindesten die Zukunft für sich haben.

Natürlich kann es sich nun aber bei einem Ausblick in zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten auch nicht darum handeln, gleich die Einzelheiten dieser Entwicklung zu erörtern oder auch nur anzudeuten. So wenig wie ich den Gedanken aufkommen lassen möchte, dafs hier grofsartige Zukunftsprojekte entwickelt werden sollen, so wenig möchte ich anderseits in den Fehler verfallen, über eine allgemeine Skizzierung der auf Grund der heutigen Rechtslage sich ergebenden Aussichten hinauszugreifen. Alles hierüber Hinausgehende wäre meines Erachtens gegenwärtig durchaus verfrüht. Namentlich fehlt es bisher noch zu sehr an praktischen Erfahrungen in der Materie, als dafs man zurzeit in seinen Wünschen über einige allgemeine Postulate hinausgelangen könnte.

Was man nämlich schon heute immerhin erkennen kann, das sind die Richtungen, in denen sich die zukünftige Entwicklung im allgemeinen bewegen dürfte, die Umrisse der Gestaltung, die das völkerrechtliche Verfahren mit der Zeit annehmen könnte. Diese zu erörtern und sich dadurch der leitenden Gesichtspunkte für die Fortbildung dieses Rechtsgebiets bewusst zu werden, das will mir daher schon heute geradezu als ein Gebot der Notwendigkeit erscheinen.

internationalen Schiedsgerichts" abschliefst: „Wenn so viele gelehrte Erfinder ihre Zeit einem Problem widmen, das da lautet: ,Auf welche Weise kann man die gröfstmöglichste Zahl von Menschen in der denkbar kürzesten Zeit töten, so ist der Verfasser dieser Schrift glücklich, einige Mühe der Frage gewidmet zu haben, die lautet: Welches ist das Mittel, um, wenigstens in den meisten Fällen, die internationalen Streitigkeiten in der kürzesten Zeit und mit der geringsten Anstrengung auf eine Weise zu beendigen, die vernünftiger Wesen würdig ist, die nicht dazu geschaffen sind, sich gegenseitig zu vernichten, sondern sich zu unterstützen und zu helfen?"

So habe ich denn im folgenden einige, mit diesen künftigen Entwicklungsmöglichkeiten in Zusammenhang stehende Fragen aufgegriffen, Fragen, die meines Erachtens in unseren Tagen ganz besonders betont zu werden verdienen, nicht etwa nur deshalb, weil sie von der Doktrin zum Teil noch über Gebühr vernachlässigt worden sind, sondern vor allem, weil von der Art ihrer zukünftigen Lösung auch die Weiterentwicklung des Völkerrechts zum grofsen Teile abhängen dürfte.

Man wird unschwer erkennen, dafs es überall mein ernstliches Bestreben gewesen ist, die zu behandelnden internationalrechtlichen Probleme auch von internationalrechtlichen Gesichtspunkten aus zu ergreifen. Das ist etwas gar nicht so selbstverständliches, wie es vielleicht scheinen mag. Es fehlt nicht an Schriftstellern, die glauben, auch über Völkerrecht lasse sich von lediglich innerstaatlichen Gesichtspunkten aus schreiben. Sie kommen gar nicht auf den Gedanken, dafs völkerrechtliche Materien nur vom vom völkerrechtlichen Standpunkte aus erfasst werden können, dafs eine Lösung internationaler Rechtsfragen einen anderen Horizont bedingt, als die von Fragen des nationalen Rechts. Wie kann man denn zu einer völkerrechtlichen Frage Stellung nehmen, wenn man sich der Grundlagen des Völkerrechts nicht bewusst ist?

Dafs ferner zu einer richtigen Auffassung der internationalen rechtlichen und politischen Lage auch eine Berücksichtigung der Zustände und der Anschauungen in anderen Ländern gehört, dafs man sich nicht dem Glauben hingeben darf, man wisse genug, wenn man weifs, wie die Leute zu Hause, im eigenen Lande, denken, und dafs man sich daher auch in der Völkerrechtstheorie nicht damit begnügen darf, dieser häuslichen" Stimmung Rechnung zu tragen und die Taten der einheimischen Politiker zu rechtfertigen das möchte ich hier nur nebenbei bemerken. Namentlich in Deutschland sollte man die Tatsache nicht übersehen, dafs, was dort heute als kühn erscheinen mag,

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