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selbst zur Willenstheorie rechnet, in Wahrheit aber von ihr abweicht. Man könnte sie die Vermittelungstheorie nennen, weil sie die prak tische Hauptconsequenz der feindlichen Erklärungstheorie zugesteht, nämlich die Pflicht, für das gegebene Wort einzustehen. 18) Sie treibt die Gesetzgebung dahin, einen ähnlichen Zwiespalt einzuführen, wie er in Rom zwischen jus civile und jus praetorium bestand. Wenn z. B. Jemand seinen Rechtsanwalt befragt: „Ist mein Versprechen nichtig, das ich aus einem Irrthum über die Sache abgegeben habe, dessen Bedeutsamkeit meinem Vertragsgenossen nicht erkennbar war?" so müßte der Befragte nach dieser Lehre antworten: „Ja, es ist nichtig, aber Sie haften dennoch auf volle Entschädigung. Ihre Nichtigkeitseinrede beruht auf einem nudum jus Quiritium, sie ist ein Messer ohne Klinge, dem der Stiel fehlt.“

Dieser Rechtsdualismus zwischen Theorie und Praris beruht offen= bar darauf, daß seine Schöpfer fühlen, eine unhaltbare Lehre zu vertreten, und dies wenigstens „im Princip“ nicht zugeben wollen. Sie wünschen Unvereinbares, denn sie gehen einerseits mit klingendem Spiele in das Lager der Gegner hinüber und wollen andrerseits doch den Ruhm behalten, der alten Fahne treu geblieben zu sein. Sie verleugnen das Willensdogma in seiner wichtigsten Bethätigung und bekennen sich doch als seine Vertreter. 19)

Diese Vermittelungstheorie zerfällt wieder in eine opferfreudige Richtung und in eine vorsichtige. Jene gewährt dem „vorwurfsfrei Getäuschten“ volle Entschädigung. 2o) So streckt sie denn den wissenschaft= lichen Gegnern, welche für die Erklärungs- oder Vertrauenstheorie streiten, die Hand zur Versöhnung weit entgegen und bietet eine runde Summe, ohne von ihr etwas abzuhandeln. Die vorsichtigere Richtung dagegen reicht den Feinden kaum den kleinen Finger hin, in der erkennbaren und durchaus richtigen Befürchtung, daß sie die ganze Hand haben wollen. Auch sie will Zugeständnisse machen, aber sie so verclausuliren, daß man ihnen anmerkt, wie ungern sie gewährt werden. Darum schwächen sie ihr Entgegenkommen durch allerhand Beschränkungen ab. Diese vorfichtige Vermittelungstheorie ist vom Entwurfe aufgenommen worden, was ihm neuerdings den Vorwurf zugezogen hat, daß seine Verfasser in

18) Vgl. namentlich Eisele, Jahrb. für Dogm. Bd. 25 S. 415 ff., Unger a. a. D. Bd. 15 S. 673 ff.

19) Vgl. auch Leonhard, der Irrthum Bd. I S. 121 Anm. 1.
20) S. Unger a. a. D. S. 682.

der Irrthumslehre den weisen Salomon zum Vorbilde genommen haben, 21) ein Tadel, der vielleicht Manchem als ein Lob erscheinen wird. Da Vorsicht die Mutter der Weisheit ist, so paßt der weise Herrscher in der That recht gut dazu, um diese Stelle des Entwurfs zu kennzeichnen.

In der älteren Gestalt war freilich Bähr's eigene Theorie über den Verdacht schwächlicher Zugeständnisse nur allzu sehr erhaben. Er legte damals alles Gewicht allein auf die Erklärung, welche dem Adressaten wirklich zukommt; man hätte seine Lehre die „Ankunftstheorie" nennen können, da ihr der ankommende Geschäftsinhalt allein entscheidend war, mochte er abgesandt sein oder nicht. Sie ging daher so weit, Grundsäße des Wechselrechts zu verallgemeinern und auch im gewöhnlichen Geschäftsverkehre Schriftstücke für verbindlich zu halten, welche von ihrem Verfasser noch nicht abgeschickt worden und trotzdem durch einen Zufall oder ein Verbrechen in das Wahrnehmungsgebiet des unschuldigen Erklärungsanwärters hineingerathen waren. 22) Wie schon erwähnt wurde, hat Bähr diesen Gedanken jet fallen gelassen. 23)

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Damit nähert er sich der Mittelstraße, welche der Verfasser für die goldene hält und in Anlehnung an ältere Autoritäten in seiner Frrthumslehre vertreten hat. Diese steht mit einem Fuße noch auf dem Boden des „Dogmas", indem sie lehrt: Ohne bewußte Erklärungshandlung keine Geschäftsfolge“. Briefe, die ich nicht abgesandt habe, können mich hiernach ebenso wenig verpflichten, wie solche, die an eine falsche Adresse abgegeben worden sind. In andrer Hinsicht lehnt aber auch diese Ansicht sich wider das „Dogma" auf, insofern auch sie mit Bähr lehrt: „Unbedingte Gültigkeit des dem Erklärungsempfänger erkennbar gewordenen Willensinhalts“.

Hiernach giebt es Geschäftsfolgen nicht ohne gewollte Erklärungshandlung, wohl aber ohne gewollten Erklärungsinhalt.

Anders der Entwurf § 98:

„Beruht der Mangel der Uebereinstimmung des wirklichen Willens mit dem erklärten Willen auf einem Irrthume des Urhebers, so ist die Willenserklärung nichtig, wenn anzunehmen ist, daß der Urheber bei Kenntniß der Sachlage die Willenserklärung nicht abge= geben haben würde".24)

21) Krit. V.-J.-Schr. Bd. 30 S. 335.

22) Vgl. Bähr, dogm. Jahrb. Bd. 14 S. 413 ff.

23) Vgl. hierzu jezt auch Graf Piniński Bd. II S. 61.

24) In dieser scharfen Betonung der persönlichen Wünsche des Jrrenden, welche dieser vor dem Vertragsabschlusse hatte, nähert sich der Entwurf ganz besonders dem

Nach des Verfassers Meinung müßte die zweite gesperrte Hälfte dieses Sahes etwa lauten:

„wenn entweder der Irrende in erkennbarer Weise bei dem Abschlusse des Geschäfts bestimmt hat, daß es für den Fall eines solchen Irrthums nicht verbindlich sein solle, oder eine derartige Bestimmung nach allgemeinen Grundsäßen neben dem ausdrücklich Erklärten als verkehrsüblich in Betracht kommt".

Dieser Satz wurde vom Verfasser früher kürzer also ausgedrückt:

,,Eine Willenserklärung ist wegen eines Irrthums nichtig, wenn die Abwesenheit eines solchen Irrthums ausdrücklich oder stillschweigend zur Gültigkeitsbedingung gemacht ist“.25)

Denselben Gedanken kann man übrigens auch in engerer Anlehnung an die Redeweise der Quellen also fassen:

,,Eine Willenserklärung ist wegen Irrthums nichtig, wenn nach der Bestimmung des Irrenden oder der Verkehrssitte für den Fall eines solchen Irrthums der Geschäftsinhalt nicht als geordnet gelten soll" (in der Sprache der römischen Juristen „nicht gewollt ist").

Wann dies der Fall ist, das festzustellen ist Sache der richterlichen Auslegung, welche hier wie sonst nicht bloß das Ausdrückliche, sondern auch das Selbstverständliche" als Geschäftsinhalt behandeln muß.26)

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Standpunkte Zitelmanns (Irrthum und Rechtsgeschäft, Leipzig 1879 S. 373 ff.) und Rycks (Festgaben für Beseler, Berlin 1885 S. 138 ff., besonders S. 135 und 142 vgl. zu S. 142 Graf Piniński, Bd. II S. 477 Anm. 1.)

25) Gr. Piniński ficht diese Fassung an, (a. a. D. II S. 524 ff.) weil sie der Redeweise der Quellen nicht entspricht. Allein die Wissenschaft hat das Recht, Gedanken, die in den Quellen stehen, in eigenartige Formen einzukleiden. Man streiche aus unsern Lehrbüchern alles weg, was mehr ist als eine Uebersehung lateinischer Worte, wie viel wird übrig bleiben? Wenn ferner Graf Piniński S. 528 fragt: „Was wird denn bei dem wesentlichen Irrthum bedingt?", so antwortet der Verf.: „die Anordnung der Geschäftsgiltigkeit“, die „lex contractus" (vergl. über diese Pernice, Labeo Bd. I S. 472 ff.)

26) Vgl. über dieses „Selbstverständliche“, ein Ausdruck, der viel treffender ist, als das „stillschweigend Erklärte", Leonhard, in den Verhandlungen des 17. deutschen Juristentags S. 344 ff. Es steht fest, daß der Richter dem ausdrücklich Festgesetten noch Bestimmungen als gültig hinzufügt, an welche die Contrahenten nicht einmal gedacht haben, sondern welche dem Verkehrsüblichen entnommen werden. (Bechmann, Kauf Bd. 2 S. 10 ff.) Die Römer nennen auch solche nicht gewollte Bestimmungen tacite" verabredet, jedenfalls weil ein vernünftiger Mensch bei seinen Vertragsschlüssen sich ohne Weiteres dem Verkehrsüblichen unterwerfen würde,

Dieses Lehtere, welches der Richter nicht bloß aus sogenannten leges subsidiariae, sondern auch aus der Verkehrssitte (Entw. § 359) folgern muß, spielt in der Irrthumslehre eine Hauptrolle. Daß Jemand ausdrücklich erklärt:,,Nur wenn ich mich über diesen besonderen Punkt nicht irre, soll meine Erklärung nicht gelten", kommt selten vor. Wenn es wirklich geschieht, so zweifelt Niemand daran, daß bei dem Ausfalle der gesetzten Bedingung auch das Bedingte ungültig ist.

Wichtig wird also in der Regel der Irrthum da, wo etwas Aehnliches bloß stillschschweigend“ erklärt, d. h. als selbstverständlich hingestellt wird, ohne daß der Redende sich die Mühe nimmt, davon zu reden oder auch nur daran zu denken.

Woher nimmt der Richter überhaupt solche stillschweigende Vertragsnormen? Aus dem wirklichen Denken und Wollen der Partei sicherlich nicht. Wenn ich mir ein Glas Bier im Wirthshause bestelle, so denke ich vielleicht daran, daß ich es bezahlen will, vielleicht auch nicht, weil ich gerade andere Dinge im Kopfe habe. Bezahlen muß ich es aber jedenfalls. Woher stammt nun diese Pflicht? Ich habe ihre Begründung nicht ausgesprochen und nicht gedacht, und doch besteht sie. Man sagt, die Rechtsordnung bestimme sie. Natürlich; das hat aber noch Niemand bezweifelt. Wer uns nichts sagt, als dies, umgeht die eigentliche Hauptfrage. Es handelt sich nicht darum, ob die Rechtsordnung die stillschweigenden Geschäftsbestimmungen gelten läßt. Das hat noch Niemand bestritten. Es handelt sich vielmehr darum, wohin die Partei oder der Richter blicken müssen, um das stillschweigend Bestimmte" oder die „naturalia negotii" im Auftrage der Rechtsordnung zu finden. Im Gesetzbuche findet er keine Antwort auf solche Fragen. Was im corpus

wenn er es für nöthig hielte, darüber zu reden. In diesem „würde" liegt freilich eine Fiction, und eine solche darf man heutzutage nicht in den Mund nehmen, ohne einer vorwurfsvollen Erwähnung dieser Thatsache sicher zu sein (vgl. z. B. Bechmann a. a. D. S. 20 Anm. 1). Allen solchen Vorwürfen liegt jedoch eine Verwechslung zu Grunde. (So Leonhard: In wie weit giebt es nach den Vorschriften der deutschen C.P.O. Fictionen? Berlin 1880 S. 1 ff.; vgl. auch Wach, Handbuch des d. Civilproceßrechts I § 23 S. 303.) Die Wissenschaft darf freilich nichts fingiren, aber der Gesetzgeber thut es bisweilen. Wo er es thut, gleichviel ob mit Recht oder Unrecht, da muß die Wissenschaft diese Thatsachen feststellen. Sie würde eine unerlaubte Fiction begehen, wenn sie die Fiction des Gesetzgebers einfach verschwiege. Wer den Schriftsteller wegen der Fictionen tadelt, welche dieser als vom Gesetzgeber herrührend schildert, der gleicht einer jener reizbaren Naturen, welche den schuldlosen Ueberbringer einer unerwünschten Nachricht durch ihre Ungnade zu be strafeu pflegen.

Verhandlg. d. XX. J. Z. B. III.

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juris civilis steht, erschöpft nicht die Fülle des wirklichen Verkehrslebens, und die neueren Gefeßbücher, z. B. der Entwurf, sind noch viel schweigsamer. Irgendwo müssen aber doch diese stillschweigenden Zusäße zu dem Erklärten zu finden sein; sonst könnte man sie weder wissen noch beachten. Die Lösung des Räthsels liegt in dem Worte „Lebenserfahrung“. Wer in's volle Menschenleben hineinblickt, in dem erzeugt der Niederschlag einer reichen Beobachtung ein Abbild desjenigen, was man,,Verkehrssitte" nennt, und aus welchem sich die sogenannte ,,Natur des Vertrages" (§ 359) bestimmt. Diese ist daher ein der Willfür entzogenes Kriterium, d. h. eine außerhalb des Beobachters und des Vertragschließenden liegende geschichtliche Größe, welche, wie jede andere, nur durch Quellenstudium, d. h. hier durch unausgeseßte Wahrnehmung des menschlichen Zusammenlebens gewonnen werden kann.27) Ein Einsiedler oder ein Stubengelehrter, der seine Weisheit nur aus Büchern schöpft, ist zum praktischen Richter ebenso untauglich wie zum Ausleger der Pandekten, welche aus lauter Aufzeichnungen wirklicher Erlebnisse entstanden sind. Wer jedoch im Leben steht, kennt die Verkehrssitte ganz genau. Er weiß, was redliche Durchschnittsmenschen in ähnlicher Lage, wie diejenige eines bestimmten Vertragschließenden in dem bestimmten Augenblicke der Erklärung ist, für ihre Pflicht halten. Aus vielen Erinnerungen an einzelne Menschen, die er gesehen hat, macht er sich die Vorstellung eines Durchschnittsmenschen zurecht; hätte er jene nicht beobachtet, so würde er diesen sich nicht vorstellen können. Wenn hier wie bei allen schwierigen Wahrnehmungen derselbe Gegenstand in verschiedenen Köpfen verschiedene Spiegelbilder erzeugt, so beweist dieses nur, daß er schwer faßlich, nicht daß er gar nicht vorhanden ist. Eben darum hat man collegiale Gerichte begründet, weil sechs Augen in ihrem Vorleben mehr gesehen haben, als zwei.

Aus dem erfahrungsmäßigen Verhalten der Menschen und einem durch Nachdenken hergestellten Durchschnitte seines Inhalts wird also die Kenntniß desjenigen gewonnen, was man ,,Verkehrssitte" nennt, und was der Richter nicht minder durch Studium sich anzueignen verpflichtet ist als seine Gesetzbücher.

Diese Verkehrssitte bestimmt den vollen Inhalt des „stillschweigend“ Gültigen. Sie bestimmt auch, wann ein Irrthum Nichtigkeitsgrund sein

27) Dernburg Bd. I § 102 A. 4 verlangt ein „objectives Kriterium" und findet es in der alten Scala: error in re, persona 2c. In der That ist dies Register offenbar nichts, als ein aus Pandektenstellen zusammengestoppeltes und stümperhaftes Portrait der Verkehrssitte.

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