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I.

Beim überraschenden Ausbruch des Weltkrieges mitten im Hochsommer 1914 war das Leben und Treiben der europäischen Zivilbevölkerung einem aus den verschiedensten Quellen und Wassern gespeisten, mächtig und frei dahinrauschenden Strome vergleichbar, der plötzlich gestaut wird, um künstlich in seine einzelnen, auf die staatliche Herkunft zurückgeführten Teile zerlegt und so in starrem Zustande festgehalten zu werden.

Nicht etwa nur die kosmopolitische Welt des Vergnügens und des Müssigganges, die ihr Domizil nach den Jahreszeiten und nach den Modeplätzen wechselt, liess sich in diesem Strome gleich wie die Stromer treiben; er umfasste nicht nur die vielen Erholung und Gesundheit Suchenden oder die auf Reisen und an Kongressen befindlichen Männer der Wissenschaft und Forschung, die wanderlustigen Künstler und Künstlerinnen, das unstete Völklein der Interpreten der verschiedensten Musen, nicht nur die rasch beweglichen Geschäftsleute und Unternehmer, sondern neben diesen letztern reichen oder doch begüterten Wanderern auch die kleinen Handwerker, die, auf der Suche nach Arbeit in fremdes Land gelangt, sich dort niedergelassen hatten, dann die zahlreichen Arbeiter aller Zweige, die mittellosen, im Kampf um das tägliche Brot stehenden Tagelöhner und namentlich die vielen Dienstboten, bis hinunter zu den Kindern, die als Glieder des organisierten Jugendaustausches im

Auslande eine fremde Sprache erlernten oder ihre Ferien in den Grenzgebieten zubrachten.

Alle diese sozialen Schichten wurden von dem Orkan in gleicher Weise erfasst. Nur ganz kurze Zeit dauerte die Möglichkeit des Entrinnens durch die Rückreise in die Heimat an. Gar manche wurden auf ihrer fluchtartigen Heimkehr, die sie entweder mit genügenden Geldmitteln oder nur mit ein paar Habseligkeiten unternahmen, noch irgendwo im Auslande aufgehalten, bevor sie die rettende Grenze oder ein neutrales Land erreichten. Zudem gaben sich weite Kreise vom Ernst der Lage gar keine Rechenschaft, konnten im richtigen Augenblick keinen heilsamen Entschluss fassen und blieben endgültig zurück, denn der internationale Bahnverkehr, der übrigens in den kritischen Tagen hauptsächlich von den unter die Fahne eilenden Dienstpflichtigen benutzt werden musste, stockte gar bald gänzlich.

Das Natürlichste wäre nun gewesen, wenn alle rein bürgerlichen Elemente einfach in Bausch und Bogen nach Hause spediert worden wären, wie dies kurzerhand mit den in Deutschland arbeitenden Scharen von Italienern, die der Krieg brotlos machte, geschah; obschon Italien damals noch im Dreibund sich befand und seine Neutralität bewahrte, wurden über 200,000 solcher Arbeiter mit ihren Angehörigen nach Basel gebracht, dort summarisch verpflegt, von den Organen der S. B. B. in grosse Gotthardzüge verladen, und in wenig Tagen samt und sonders über Chiasso heimbefördert. Allein so wurde mit den Angehörigen feindlicher Staaten, die im Auslande weilten, nicht verfahren. Sie wurden auch nicht ausgewiesen, wie 1870 die Deutschen aus Paris, sondern meist wurde, gerade in der eben genannten Weltstadt, den feindlichen

Staatsangehörigen eine Frist zur Abreise gestellt und durch öffentlichen Anschlag bekannt gemacht. Ein solcher Anschlag gelangte aber in den stürmischen Tagen den Betroffenen öfters nicht einmal zur Kenntnis. Nach Ablauf der Frist erfolgte die Verweigerung der Ausreise; es trat eine Sonderbehandlung ein.

Diese Sonderbehandlung war nun je nach Ländern, nach Geschlecht und Alter verschieden. Es ist begreiflich, dass man überall möglichst rasch wissen wollte, wieviel fremde Staatsangehörige sich teils als ständige Bewohner, teils als vorübergehende Aufenthalter im Inlande befänden, und dass man deren Ueberwachung sich vornahm, schon um der Beaufsichtigung und Verhütung der Spionage willen. Die Kontrolle musste nach der geographischen Lage, nach dem Grade der Aufregung, nach dem Verhalten der übrigen Bevölkerung, nach den Nachrichten vom Kriegsschauplatz und nicht zum mindesten auch nach der Zahl der Staatsangehörigen besondere Stufen der Strenge und Rücksichtslosigkeit aufweisen. Auch gebot das einfachste Staatsinteresse, die Rückkehr von Militärpflichtigen, die ja nur die Armee des Feindes hätten vergrössern helfen, möglichst zu verhindern; man musste also dahin trachten, alle solchen noch im Auslande aufgegriffenen, irgendwie mit dem feindlichen Heereswesen verbundenen Personen gewaltsam zurückzuhalten und an der Teilnahme am Kriege zu hindern. Von diesen durch das Militäraufgebot zum Waffendienst verpflichteten, aufgefangenen und internierten Zivilisten ist daher abzusehen. Ihr Schicksal war besiegelt.

Was die übrige Zivilbevölkerung anbelangt, so wurde in Oesterreich-Ungarn die nicht zahlreiche englische und französische Kolonie in Freiheit gelassen.

In England, wo man auf die zu Schiffe einrückenden jungen Deutschen förmlich Jagd machte, blieb die deutsche Zivilbevölkerung anfangs unbehelligt, und erst auf eine Zeitungskampagne hin wurden im September die männlichen, im militärpflichtigen Alter stehenden Deutschen in Konzentrationslager geschafft. In Deutschland wurden die mittellosen Personen in Lagern interniert, speziell in Donaueschingen und Umgebung, den Bemittelteren aber wies man einen Zwangsaufenthalt in Städten wie Baden-Baden an, oder sie wurden an ihrem bisherigen Aufenthaltsort in Freiheit gelassen, jedoch zur Anmeldung auf den Polizeiämtern unter täglicher oder wöchentlicher Kontrolle angehalten. Frankreich wies naturgemäss das grösste Völkergemisch auf. Hier erfolgte bald die Unterbringung fast der gesamten Zivilbevölkerung des feindlichen Auslandes in nach Geschlechtern getrennten Lagern Nordwest-, Mittel- oder Südfrankreichs und zwar in alten Klöstern, Kasernen, Schulen usw.

Eine absolute internationale, von Land zu Land geltende Regel gab es auf diesem Gebiete somit nicht; auch fanden je nach den Umständen in den einzelnen Ländern verschiedene Wandlungen in der Behandlung statt. So wurde auf die Kunde hin, dass die Deutschen in England anfangs in ihren Lagern grossen Mangel und Entbehrungen litten, als Repressalie in Deutschland zu Anfang Dezember eine ganze Anzahl französischer Familien und Privater, die auf freiem Fusse lebten, in Haft gerommen und ebenfalls den Gefangenenlagern zugeteilt. Man griff also zu Beginn des Krieges weder zum Radikalmittel der Abschiebung, was sich einigermassen daraus erklären lässt, dass die Eisenbahnen gänzlich durch die Mobilisation in An

spruch genommen waren, noch entschied man sich für das entgegengesetzte humane Mittel, diese unschuldige Zivilbevölkerung ruhig und ungestört zu lassen und die einheimische Bevölkerung zur Respektierung dieser Zugezogenen, die zum Teil schon durch langen Aufenthalt mit dem Lande ihres Wohnsitzes verwachsen waren, ja manchmal nur noch dessen Sprache kannten, aufzufordern oder nötigenfalls mit Gewalt dazu zu zwingen.

So blieb die an den Haager Konferenzen so viel gerühmte Maxime, dass die künftigen Kriege von Staat zu Staat, von Heer zu Heer, von Soldat zu Soldat, aber nicht unter Unbewaffneten oder Unbeteiligten geführt werden sollten, infolge der erwachten Erbitterung ausser acht, und es entstand, nicht zur Ehre unserer Zivilisation, eine besondere Art von Kriegsopfern die Zivilinternierten. Diese zurückbehaltenen Zivilpersonen wurden einer dreifachen Beschränkung unterworfen: einmal der mehr oder weniger intensiven Hinderung ihrer Bewegungsfreiheit, die eine Stufenleiter von der Inhaftnahme bis zum Zwangsdomizil oder der amtlichen polizeilichen Ueberwachung darstellte; sodann der damit zusammenhängenden Entziehung der gewöhnlichen Existenzmittel, sei es dass ihnen jeder Geldverdienst abgeschnitten wurde, sei es dass Zuschüsse aus dem feindlichen Ausland nicht mehr ins Inland gelangen konnten; endlich der schwerwiegenden Unterbrechung der Verbindungen mit den im feindlichen Auslande weilenden Angehörigen. Es ist müssig, die Frage der Verantwortlichkeit für die Entstehung dieser neuen Kategorie von Kriegsopfern aufwerfen und untersuchen zu wollen. Um zu einem einigermassen objektiven Urteil zu gelangen, müsste man die Einzelheiten der

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