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die pessimistische Anschauung von Gentz über die deutschen Freiheitskriege und die ihnen folgende Umgestaltung der europäischen Verhältnisse am Wiener-Kongress schwebt wie eine drückende Atmosphäre, in der man nicht gern länger verweilen mag, über der ganzen historischen Gelehrsamkeit. Wer, wie dieser an der Herstellung grosser Ereignisse Mitwirkende sagen kann, «er sei gewissermassen teuflisch erfreut, dass alle sogenannten grossen Sachen zuletzt ein so klägliches Ende nehmen», der kann unmöglich Freude an der Geschichte haben. Und wir glauben uns kaum zu irren, wenn wir annehmen, dass dieser glaubenslose Grundzug auch die heutigen «acteurs» in der grossen Politik beherrsche und für die «Heldenverehrung» unempfänglich mache, ohne die ein wirkliches Interesse an den Ereignissen der Vergangenheit nicht denkbar ist.

Geschichte ist eben die völlig lebenswahre Darstellung, ja gewissermassen Reproduktion vergangenen Lebens in dem Geist und Gefühl der Jetztlebenden, nicht bloss eine gleichgültige «pragmatische» Erzählung davon, oder eine gelehrte Reflexion darüber. Und wenn man dann in einer solchen lebendig geschauten Periode, unter Menschen und Zuständen, die man sich vollkommen wie die heutige Wirklichkeit vorstellen kann, um keinen Preis gelebt haben möchte, so ist eine natürliche Fortsetzung des Gedankens die, dass man sich leicht freuen kann das alles in Nacht und Vergessenheit begraben und nicht solchen Gespensterspuck in das gegenwärtige wirkliche Leben hineinragen und womöglich auch noch hineinregieren zu sehen.

Von dieser Stellungnahme zur Geschichte wird man also nothwendig ausgehen müssen, wenn man über dieselbe überhaupt weiter sprechen will. Denn auch wir ge

stehen soviel wenigstens offen, dass wir für eine Geschichtsforschung, die, auf materialistischem Fundament in der Lebensanschauung, bloss als ein gelehrtes Handwerk oder als ein Brodstudium betrieben wird, keine namhafte Sympathie besitzen und die Abnahme eines Interesses hiefür nicht sonderlich beklagen würden.

II.

In einem der vernünftigeren Aufsätze von Nietzsche «vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben»>') wird der Satz aufgestellt, dass es für die verschiedenen Anlagen und Bedürfnisse jedes Lesers eine verschiedene Geschichte gebe; die monumentale für die Thätigen und Strebenden, die antiquarische für die Konservativen und Verehrenden, die kritische für die Gedrückten und Leidenden. Uebermässige Geschichtskenntniss aber sei ein

Erkenntnissüberfluss und Luxus.

In der That gibt es verschiedene Ausgangspunkte für den Leser sowohl, als für den Verfasser geschichtlicher Darstellungen, wobei wir als Gemeinsames bloss die Forderung aufstellen dürfen, dass Geschichte nicht um ihrer selbst willen geschrieben und gelesen werden soll, der bekannte Satz «l'art pour l'art» also hier nicht gilt. Sie soll geschrieben werden, um über das ganze Erdenwesen Belehrung und Aufklärung zu verbreiten und auch zu diesem Zweck von lernbegierigen Lesern gelesen werden. Sie soll also wahr und vollständig sein und ausser dieser Belehrung und Charakterstärkung keine speziel leren Zwecke und Tendenzen verfolgen. Oder, wie Cicero schon es sagt: «ne quid falsi dicere audeat, veri non audeat». Das wird das allgemeine Kriterium sein, welches auf diese sämmtlichen Darstellungen bei ihrer Be

1) In den «unzeitgemässen Betrachtungen».

urtheilung anzuwenden ist; im Uebrigen aber ist es richtig, dass man über die spezielle Art der Auffassung und Darstellung verschiedener Meinung sein kann und dass hier auch verschiedene Bedürfnisse je nach Art der Leser zu befriedigen sind.

Eine Gattung von Geschichtswerken, welcher in einer jetzt etwas vergangenen Zeit eine grosse, fast ausschliessliche Bedeutung beigemessen wurde, sind die eigentlich gelehrten Bücher, die von Fachgelehrten geschrieben und eigentlich nur für Gelehrte bestimmt und brauchbar waren, aus denen aber der gewöhnliche Leser nichts lernte. Vielleicht nicht einmal der Schriftsteller selbst; denn meistens waren sie offenbar so mühsam aus vielen Notizen oder Collektaneenheften zusammengetragen, dass es für ihn, ohne diese Hülfsmittel oder die dazu benutzten Bücher Anderer bei der Hand zu haben, unmöglich wurde, beständig selber zu wissen, was er Andern aus ihnen zu lernen zumuthete. Die Uebersicht verliert man bei dieser Art von Büchern bald vollständig, um in dem Stoff unterzugehen, und der allgemeine Eindruck, den sie hinterlassen, ist nicht etwa ein erhebender, oder charakterstärkender, zu Entschlüssen begeisternder, sondern im Gegentheil eine dumpfe Ergebung in einmal bestehende Machtverhältnisse. Die Mehrzahl dieser bloss gelehrten Geschichtsschreiber (mit einigen Ausnahmen) sind daher Reaktionäre und blinde Verehrer der herrschenden Staatsgewalten gewesen, denen sie auch als willige und hochangesehene Werkzeuge ihrer Staatsauffassung dienten. Eine ideale Zeit hiefür war namentlich das erste Drittheil des vergangenen Jahrhunderts, unter dem Einfluss der entsprechenden Hegel'schen und Schelling'schen Philosophie und der Goethe'schen Weltanschauung.

In gewissem Grade ist dies natürlich auch der Fall bei der amtlichen Geschichtsschreibung. Wo eigentliche Amts-Historiographen bestehen oder bestanden haben, wie die alten bernischen, von Justinger ab bis Tillier gewissermassen, denen allein die Archive geöffnet sind und offizielle Quellen in ausgedehnterem Masse als gewöhnlich zu Gebote stehen, oder die geradezu vom Staat in Sold und Brot gesetzt sind, um Geschichte in seinem Sinn und Geist zu schreiben, da kann jene Ciceronianische Forderung (pag. 9) nur zum Theil verwirklicht werden. Auch heutzutage, wo die eigentlichen Hofoder Staatshistoriographen nicht mehr zu bestehen pflegen, gibt es einzelne in näheren Beziehungen zu den massgebenden Personen stehende Gelehrte, deren Werke daher als die eigentlich «offiziellen» Geschichtswerke, oder die <standardworks» nach englischer Auffassung angesehen werden und die, wenn sie auch die Thatbestände im Ganzen richtig erzählen, doch mitunter die Motive und persönlichen Ursachen der Vorgänge verschweigen, oder in einer künst lich objektiven Darstellung so zu verschleiern wissen, dass der Leser doch ein nicht richtiges Bild bekommt. Die Sybel'schen Darstellungen der neuen deutschen Geschichte sind ein annäherndes Beispiel einer halboffiziellen Staatshistorie, und die moderne «Objektivität», von der noch zu sprechen sein wird, streift an diese Art der Geschichtsschreibung, aus der man lernt, nicht wie die Dinge sich zugetragen haben, sondern wie sie von den Leitern der Menschengeschicke in jener Zeit gewollt wurden und wie sie nach ihrem Wunsche im Gedächtnisse nachkommender Geschlechter erhalten bleiben sollen.') Vieles ist

') Das Hervorragendste in dieser Richtung sind stets die Kriegsberichte, sogar in den sog. «Generalstabswerken». Die

denn auch in der That so erhalten geblieben, und wir zweifeln z. B. unsererseits nicht daran, dass die alte Welt etwas anders ausgesehen hat, als sie uns Thukydides, oder Livius, oder Plutarch beschreiben. Dass die «Alten» so ganz andere Menschen sind, als die «Modernen» und immer ein wenig auf dem Kothurn einherschreiten, das ist, zum Theil wenigstens, eine Folge dieser Geschichtsschreibung.

Einigermassen hängt damit zusammen der «klassische Styl», den man für die Geschichtschreibung bisher vielfach als unerlässlich erachtet. Es ist damit gewöhnlich nicht bloss eine sorgfältige Diktion gemeint, welche die Dinge deutlich bei ihrem rechten Namen nennt und alle zweideutigen, oder unnöthig übertreibenden, oder sinnentstellenden, oder allzu trivialen Ausdrücke des Zeitungsjargons vermeidet, sondern, weitergehend, eine Marmorglätte der Darstellung, hinter der sich jedes wärmere Gefühl und sogar jedes wirkliche Urtheil im lobenden oder tadelnden Sinne verbirgt. Eine solche Schreibart wird als die klassische bezeichnet, und daraus entstehen dann die glatten Bücher in der Art von Macaulay's berühmter Geschichte Englands, welche, völlig verständnisslos für die Gesinnung der charaktervolleren Puritaner, die schlauen Verfassungskünstler der zweiten englischen Revolution, wie Lord Somers, oder die «Trimmer» wie Lord Halifax zu dem Ideal des englischen und zeitweise auch des fest

posthumen Enthüllungen des Generals v. Kretschmann sagen darüber wörtlich: «Ich möchte Jedem dringend rathen nie Geschichte zu lernen; sie muss meist auf falscher Basis beruhen». Und an einer andern Stelle: «Der Krieg hat meine Menschenkenntniss in nicht erfreulicher Weise vermehrt. ... Edle Naturen sind eben selten. Der gemeine Mann, der ist's vor allem, dem ich meine Achtung zuwende; der verdient sie.»>

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