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wuchern läßt, er singt für moderne Kulturmenschen, die Gefahr laufen, sich der Natur und gesunden Lebensbedingungen völlig zu entfremden; singend trägt er seinen Dank ab an die Heimat, die ihn liebt, an Frankreich, das ihn ehrt, an die Mitwelt, die ihm Gehör schenkt. Der geächtete Dante schuf kein Friedenslied, als er von Haus und Herd verbannt, in seinem gerechten Ehrgeiz gekränkt, in der Fremde mit alltäglicher Not und Verleumdung zu kämpfen hatte. Er nahm die edelste Rache für erfahrenen Undank, indem er ein monumentales Werk schuf, das Italiens Ruhm durch alle Länder tragen sollte. Was ist Dichtergröße? Unverzagter Mut im unverschuldeten Unglück, in bitterster Schmach, oder unentwegte Tatkraft unterm sicheren Schirme reichtumspendenden Friedens? Im geordneten Staate schuf Mistral mit Esterelle ein sinniges und zugleich gewaltiges Märchen, das die fast verschollene Kunde wachruft von einer Welt des Ideals für alle Träumer, alle Sehnsüchtigen -- alle Kampfesfrohen. Für Dante wird Beatrice der Brennpunkt mittelalterlicher Sehnsucht nach ewigem Frieden aus irdischer Unrast: in der rauhen Schale seiner Lebensbitterkeit birgt er diesen goldenen Kern. Bei beiden Dichtern findet sich eine grundverschiedene Apotheose ihres weiblichen Ideals. Dante (Purgatorio XXX, 22 ss.) entwirft ein Gemälde von glühender Farbenpracht:

Jo vidi già nel cominciar del giorno

La parte oriental tutta rosata

E l'altro ciel di bel sereno adorno ...

Unter einem Blumenregen, der aus Engelshänden herniederträufelt, erscheint Beatrice, die reine Stirn mit einem Olivenkranz geziert, in einem grünen Mantel über dem leuchtend roten Gewande, das holde Antlitz verhüllt vom lang wallenden weißen Schleier. Die Jugendgeliebte ist zum liebenden Symbol aller Erkenntnis geworden, die menschliche Kurzsicht erfassen kann. Uns Modernen ist es nicht mehr möglich, die entschleierten hehren Züge mit Dantes Inbrunst zu erfassen! Wir wenden uns vertrauensvoll zu Mistrals Esterelle im Schlußgesang von Calendau: Wieder steht sie auf stolzer Bergeshöhe, aber doch in Menschenbereich, Hand in Hand mit dem Geliebten nach überstandener Todesgefahr einer freien frohen Zukunft entgegenschauend. Noch färben die Gluten des Waldbrandes den Horizont, als das liebende Paar im Glanz der Jugendschönheit der rettenden Menge siegesfroh entgegentritt:

E Calendau, lou fiéu de l'oundo,

E di cresten la rèino bloundo,

Eu, emé si dos narro uberto à l'aire pur,

Elo, soun péu que ié penjourlo

Coume un bèu liame de ginjourlo,

Souto aqueu giscle d'or, de safir, de diamant
Que li recuerb coume un cebòri,
Alor se mostron, fasènt flòri
Dins lou souleu e dins la glòri,

A la cimo dóu baus, aganta pèr la man1).

Die Dichtervision Esterelle ist zum Symbol edler Frauenliebe geworden! Jede andere symbolische Deutung lehnt der Dichter ausdrücklich ab: «Je n'ai jamais songé à faire du symbolisme avec Estérelle et son poursuivant. Je n'ai eu en vue, dans cette création, que le divin effet de la beauté féminine sur une âme généreuse. Pour moi, la beauté de la femme, incomparable manifestation de la beauté de Dieu, peut élever l'homme à tous les héroïsmes, à toutes les magnanimités2). Autour de cette action d'amour est naturellement exposée l'ambiance de la vie provençale, du pays provençal, des traditions de la Provence. Mais le sujet dominant, c'est l'élévation ou exaltation de l'homme par l'amour chevaleresque, c'est l'humanité divinisée par l'Amour!» (Brief vom 22. Juli 1905). Auch Dantes Weltanschauung harmoniert mit diesen Zeilen: Beatrice gleitet zurück zum göttlichen Schönheitsquell, dem einst ihre Anmut für eine kurze Erdenspanne entfloß!

1) A. a. O. p. 479 s. Cf. Welter a. a. O., S. 152 ff.

2) Cf. Michelangelo (Ed. Frey, CXXXXI, p. 233): La forza d'un bel viso a che mi sprona?

Shelleyana.

Von Armin Kroder.

I.

Urskizze des Epipsychidion.

Die anno 1892 - vielleicht zu früh

auseinandergegangene Shelley Society hat in den sieben Jahren ihres Bestehens eine bienenfleißige und reichgesegnete Tätigkeit entfaltet. War auch nicht alles Silber, was die vortragenden Herren in den Versammlungen redeten, so trug doch ihr Schweigen häufig Früchte lautersten Goldes: die stille Vorbereitung und Veröffentlichung von köstlichen Faksimile-Nachbildungen Sh[elley]scher Handschriften, von typenechten Neudrucken interessanter Urausgaben usw., nicht zu vergessen die im stillen geschehene äußerst liberale Bestreitung der oft namhaften Herstellungskosten durch munifizente Mitglieder.

Eine der wertvollsten Publikationen (Extra Series 1887 Nr. 4) brachte ein bis dorthin unbekanntes Ms. der Mask of Anarchy in täuschend gelungenem Faksimile. Die eigentlich fesselnde Bedeutung dieser Handschrift ist nun aber gerade in den zwei Punkten zu erblicken, die dem Herausgeber H. Buxton Forman unwichtig erschienen sein müssen, weil sie in seiner kritischen Einleitung keine Würdigung erfahren. Die Blätter nämlich, auf welche unser Sh. seine grimmige Satire in einer sauberen (wenn auch nicht lückenlosen) Reinschrift1) hingeworfen hat, weisen noch zwei kleine Versskizzen auf: die unverfälschten, von Korrekturen wimmelnden rough drafts unsres Dichters, wie sie

1) Keinesfalls 'apparently the first draft' (Ellis im Notebook der Gesellschaft I 153, ebenso Academy 22nd Jan. 1887), sondern die Erstlingsreinschrift: saubere Kopie der aus den drängenden Inspirationen heraus zusammengekritzelten ursprünglichen Entwürfe. Diese Erstlingsreinschriften aus des Dichters eigener Hand bildeten ihrerseits die Vorlage für die Transcripts seiner Gattin.

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dem Sh.-Freunde so teuer, dem Literaturforscher so interessant und für den Metriker und Herausgeber so unentbehrlich sind. Des einen dieser beiden Entwürfe (Blatt 9 Prometheus Unbound IV 325-332) tut nun Formans Kritik überhaupt nicht Erwähnung; von der anderen Skizze (Blatt 2 = Epipsychidion 1 u. 2 in italienischem Wortlaut) spricht sie nur gleichsam en passant und zu illustrativen Zwecken auf p. 39: "Curiously enough, there is one point that links Perdita [in The Last Man] with the holograph Mask of Anarchy. At the back of one of the leaves are a few lines of Italian, which turn out on examination to be a translation from the Epips[ychidion], that poem which Trelawny declared to have been first composed in Italian.” Nur scheint bei dieser examination der verdiente Herausgeber seine kritische Brille verlegt gehabt zu haben; überdies widerspricht er in den zitierten Worten sich und Trelawny in einem Atem. Der wesentliche Punkt ist jedenfalls seine Hypothese einer Übersetzung des Epips. ins Italienische, eine Hypothese, die von ihm zuerst auf den Forschungsmarkt gebracht wurde und daselbst reißenden Absatz fand, da man sich das spurlose Verschwinden eines ganzen original-italienischen Epips. so gar nicht erklären konnte.

Zunächst jedoch verzeihe man mir eine kleine Abschweifung in Sachen des obenerwähnten Bruchstücks aus dem Prometheus], dessen zum ersten Male, zwölf Jahre nach Formans Veröffentlichung, von Professor Schick gedacht wurde1). Zu einer Detailbeschreibung des Entwurfes noch einmal auszuholen, wäre ebenso überflüssig wie anmaßend; nur eine von Schick übergangene Kleinigkeit möchte ich an dieser Stelle in helleres Licht setzen, da sie für den Metriker des Interessanten genug in sich birgt. Zweimal nämlich steht am Rande der viel korrigierten Zeilen je eine Reihe von zehn Markierungsstrichen, die einen neben-, die andern in Absätzen untereinander. Fast stehe ich an es herauszusagen, aber ein Zweifel ist nicht möglich: wir überraschen den dichtenden Sh. hier beim Abzählen der Silben! Deutlich genug nämlich stehen die Zählstriche in der Nähe der zehnsilbigen Verse

Which stain thy sea, like an embowered well

(durchgestrichen, dafür:)

1) Archiv 103, 311 u. 314.

Some spirit wraps thine atmosphere & thee, bezw.
With love, & odour & strange melody.

Halten wir also daran fest, daß Sh. in einem erwiesenen Falle die Silben zählte, nicht die Hebungen. Diese Erkenntnis läßt dem Versforscher die Schuppen von den Augen fallen: sie erklärt ihm das nicht seltene Vorkommen von überkühnen Taktumstellungen (Holprigkeit des Baues) inmitten eines an Silbenzahl einwandfreien Verses. Wie schon ein Wyatt und Surrey, in ihren klassisch-italienischen Begriffen befangen, über dem Zählen der Wortsilben das dynamische Abwägen derselben (oder, was auf dasselbe hinausläuft: über dem Zählen der Silben das Zählen der Hebungen) vergaßen und dadurch die Glätte ihres Verses recht bös aufs Spiel setzten, so noch im neunzehnten Jahrhundert ein ganz aus dem Intuitiven heraus schaffender Dichter wie Shelley, sobald er es versäumte, dem eigentlich versstützenden Elemente der Hebungen (des Taktes) seine volle Aufmerksamkeit zu schenken. Denn es sieht auch ein Blinder ein (und dieser umsomehr, als er das feinere Ohr hat!), daß ein jambischer Fünfheber wie

Flares, a light more dread than obscurity (Medusa)

recht wohl auf Grund einer Abzählung von 10 Wortsilben entstehen kann, schwerlich auf Grund einer Messung nach fünf regelmäßig hervorstechenden Hebungssilben. Nur will meine These bei Gott nicht behaupten, daß Sh. die meisten seiner Verskinder solchermaßen arithmetisch ausgemessen habe! Das musikalische Ohr hört ja unkontrolliert richtig, doch ergeben sich hin und wieder merkwürdige Zwischenfälle, in denen die Dichter, και μαλιστα ὅταν ἀπορωσι προς τα μετρα), selber an den Fingern oder mit Strichen auf dem Papier nachzuzählen gezwungen sind. Im vorliegenden Falle ist die Sachlage ganz evident: Sh. bemühte sich im Gesange der Mondscheibe das (im Text vorangehende) Strophenschema der Erde in der Verkleinerung nachzuahmen 2); die betreffenden (oben zitierten) Verse heben sich überdies als die einzigen Quinare des Komplexes aus

1) Wenn sie nämlich mit Einschiebseln oder Streichungen sich ein wenig verrannt haben. Vgl. auch meine Shelley's Verskunst p. 152: „Die ... Überzeugung, daß auch der große Sh. sich nicht schämte, gelegentlich mit den Fingerspitzen zu hören, seine Takte abzuzählen“ usw.

2) Hebungszahlen (bei gleicher Reimordnung) der Erde 556 556; des Mondes 445 4452.

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