Page images
PDF
EPUB

gleichzeitig das Vorhandensein des Völkerrechts selber. Im Allgemeinen stimmen denn auch, mit wenigen Ausnahmen und ohne Rücksicht auf demokratische oder monarchische Verfassungsform, die leitenden Autoritäten in der Anerkennung der Rechtsgleichheit souveräner Staaten durchaus überein. 1)

Wo die Rechtsgleichheit der Staaten, die eine logische Consequenz der völkerrechtlichen Souveränetät ist, wie von Lorimer und neuerdings auch von 3orn2) verworfen wird, läßt man sich entweder durch ausdrücklich in gewissen Verträgen stipulirte Ungleichheiten beirren oder man stößt sich daran, daß nicht allen Staaten die gleichen Rechsmittel zu Gebote stehen, um gegen Rechtsverletzungen sich zur Wehr sehen zu können.

Da Unabhängigkeit nach Außen das negative völkerrechtlich entscheidende Merkmal der Souveränetät ausdrückt, so sind innerhalb desselben logisch keinerlei Abstufungen möglich, außer denjenigen, die sich der souveräne Staat selbst seßt. Alle souveränen Staaten sind einander völkerrechtlich gleich gestellt. Verschie denheiten der Titulatur, des Ranges und der Ehrenvorzüge für die verschiedenen Subjecte der Staatsgewalt fallen in dieser Beziehung nicht ins Gewicht.

Wie die staatsbürgerliche Gleichheit vor dem Civil- und Strafrichter einen Anfangspunkt für den modernen Rechts- und Verfassungsstaat darstellt, gerade so verhält es sich mit der Rechtsgleichheit souveräner Staaten in völkerrechtlicher Hinsicht. Die denkbar höchste Geltung des praktischen Völkerrechts in feiner jeweiligen Anwendung ist deswegen gleichbedeutend mit der höchsten Sicherheit der kleinen Staaten gegen die Gefährdungen ihres Bestandes durch Machtmißbrauch mächtigerer Nachbarstaaten. 3)

Der Grundfah rechtlicher Gleichheit, anerkannt wie er ist, beruht gleichzeitig auf dem Fundamente der internationalen Moral. Sein praktisch entscheidender Ausdruck ist die Norm der Reciprocität im auswärtigen Verkehr zweier oder mehrerer Staaten mit einander. Kein Staat kann vom Standpunkt der Völkermoral ausgehend, verlangen besser oder günstiger behandelt zu werden, als er andere von ihm in Anspruch genommene Staaten behandelt. Jede Ungleichheit rechtlicher Art im Staatenverkehr muß besonders stipulirt werden.

Auf der andern Seite sind die Mitglieder der internationalen Rechtsge= nossenschaft thatsächlich wie auch staatsrechtlich einander ungleich geordnet. Wesentliche und unvermeidliche Verschiedenheiten liegen:

1. In der inneren Verfassungsform. Es kann nicht geleugnet werden, daß das Verhalten gewisser Verfassungsformen entweder im Allgemeinen oder während gewisser Zeitepochen zu der Erreichung der Völkerrechtszwecke günstiger sein kann als dasjenige anderer Ver= fassungsformen. Das bisherige Völkerrechtssystem seit dem Westphälischen Frieden entwickelte sich auf vorwiegend monarchischer Verfassungsbasis der Großstaaten, die in Europa eine leitende Stellung behaupteten und die Initiative zur Durchsetzung nothwendig gewordener Re

formen ergriffen. Jede Rechtsgestalt des inneren Verfassungslebens befähigt aber zur Mitgliedschaft im Völkerrechtsverein. Monarchie und Republik sind in dieser Beziehung einander gleichberechtigt. So= weit die Verfassungsformen von Bedeutung für die auswärtige Staatspraxis werden, ist davon späterhin ausführlicher zu handeln (S. unter VII. Stück, 3. Kapitel).

2. Rücksichtlich der geographischen Lage. Während die Küstenlage die Staaten befähigt, an allen auswärtigen Verhältnissen des Verkehrs theilzunehmen, bleiben Binnen staaten (wie Serbien, die Schweiz u. s. m.) von der directen Betheiligung am Seeverkehr ausgeschlossen 4).

3. Rücksichtlich der comitas gentium und der Staatengunst. Minder mächtige Staaten können, der Tradition der Verkehrsitte oder den Rathschlägen der Schicklichkeit folgend, älteren und angeseheneren Staaten ein höheres Maß von Ehrenerweisung zugestehen, als sie selbst für sich beanspruchen. Die Verschiedenheiten der Litulatur, des Ranges und des Ceremonials entstammen nicht dem allgemeinen Völkerrecht, sondern der Sitte und ihrem eigenthümlichen Charakter im Verhältniß zum Recht.

4. In Hinsicht der jeweiligen thatsächlichen Machtverhält nisse und der politischen Geltung der einzelnen Staaten. Läßt sich der Unterschied zwischen Großmächten und Mittel- oder Kleinstaaten auch nicht juristisch formuliren, so läßt er sich doch auch nicht negiren, wenn die Einflüsse zu würdigen sind, deren Herrschaft die Entwickelung völkerrechtlicher Neubildungen oder die Realisation positiver Rechtsfäße oder die Beilegung der Völkerstreitigkeiten mit bestimmt, fördert oder erschwert. Im übrigen werden alle mit einander verkehrenden Staaten in den Vertragsinstrumenten als ,,Mächte" (puissances) bezeichnet.

1) Wharton (1. c.) hebt hervor, daß in der Rechtssprechung Englischer Gerichtshöfe zur Zeit der napoleonischen Kriege (vornehmlich durch Lord Stowell) der Grundsaß der Rechtsgleichheit minder mächtiger Staaten durchaus anerkannt wurde.

2) In einer Kritik zu Bulmerincq's Darstellung in Marquardsen's Handbuch (München) Kritische Vierteljahrsschrift, Jahrgang 1885. Mit Unrecht nimmt somit Calvo an, daß das Gleichheitsprinzip der Staaten einen allgemein (von der Theorie) anerkannten Grundsaß des öffentlichen Rechtes darstelle.

3) Es ist wichtig, daß dieser Grundsaß der Gleichberechtigung durch die Englischen Autoritäten nachdrücklich betont wird. Denn eben diese sind völlig frei von den Französischen Egalitätsgedanken. Twiß sagt: Power and weakness do not in this respect give rise to any distinction and the Principality of the Montenegro is as much an independent State as the Empire of all the Russias.

4) Was nicht hindert, daß sie rechtlich zur Bestrafung des Seeraubes oder Sclavenhandels im Verhältniß zu ihren Unterthanen verpflichtet werden könnten.

§ 4.

Das sogenannte Gleichgewicht der Europäischen Staaten.

[ocr errors]

Literatur: Genk, Fragmente aus der neuesten Geschichte des politischen Gleich. gewichts in Europa, 1806. Bluntschli, Das moderne Völkerrecht, § 95-100. Geffen (zu Heffter's Lehrbuch) Note S. 10. v. Neumann, Grund, riß des Europäischen Völkerrechts (3. Aufl. 1885), S. 23. 99. E. Ortolan, Des Moyens d'acquérir le domaine International (Paris 1851), S. 133 ff. Th. Woolsey, Introduction to the study of International Law, § 43 ff. Cyclopaedia of political science, political economy and of the political history of the Un. States s. v. Balance of power (Chicago 1883) I, 129.

In der Wageschale der internationalen Gerechtigkeit sollen alle Culturstaaten gleich viel wiegen. Wäre dies thatsächlich der Fall, so hätte man den historisch und politisch bedeutsamen Grundsaß des Europäischen Gleichgewichts gleichzeitig auch als Grundsatz der positiven Völkerrechtsordnung zu betrachten. Obwohl die Möglichkeit rechtlicher Störung durch thatsächliche Machtungleichheiten näher liegt, als die Störung processualischer Rechtsverfolgung durch den ungleichen Stand der Vermögensverhältnisse unter den Parteien oder als die Beeinträchtigung der Strafjustiz durch Ungeschick der Vertheidigung, so darf doch die Wichtigkeit dieser Thatsache vom Standpunkte der positiven Rechtsordnung nicht überschätzt werden.

Wird diese Thatsache hingegen zugegeben und außerdem auch anerkannt, daß nach dem Standpunkt bisheriger Erfahrung Ungleichheiten der Macht unter den Mitgliedern der Völkerrechtsgenossenschaft niemals beseitigt werden können, so bleibt nur die Frage übrig: ob solchen Gefahren der Ungleichheit durch politisch rechtliche Veranstaltungen besonderer Art einigermaßen gewehrt werden könne?

Auf die Erledigung dieser Frage bezieht sich die Theorie des staat= lichen Gleichgewichts in Europa: das völkerrechtliche Analogon zu der allgemein staatsrechtlichen Theorie der Theilung der Gewalten zum Zwecke der Bekämpfung oder Hemmung absoluter monarchischer Gewalt. 1)

Negativ aufgefaßt, bedeutet die Theorie des Europäischen Gleichgewichts: Gemeinsamer Gegensatz aller minder mächtigen Staaten in ihrem Verhältniß zu solchen Großstaaten, deren Machtvorrath bei weiterem Wachsthum den Fortbestand oder die Unabhängigkeit anderer Staaten in Gefahr bringen könnte. Denn die gemeinsame Wahrnehmung der auswärtigen Machtinteressen auf Seiten minder mächtiger Staaten ist nach dem Grundsah der Rechtsgleichheit an sich ebenso zulässig, wie auf Seiten großer Mächte. Nur wird nach der Natur der Verhältnisse der politische Erfolg bei ihnen weniger von eigner Macht, als von einem weise durchgeführten System der Bündnisse abhängen. Sodann ist im Voraus anzuerkennen, daß Veränderungen im sog. Europäischen

Gleichgewicht nicht lediglich, wie man ehemals vielfach glaubte, von dem territorialen Gebietszuwachs mächtiger Staaten abhängen. Unleugbar kommen dabei auch noch zahlreiche andere Factoren in Betracht, beispielsweise Beschaffenheit, Charakteranlage und Ziffer der Bevölkerung, Organisation der Wehrkräfte, 2) die Einsicht und Stärke der Regierungen, die Formen des Verfassungsrechtes, die geographische Lage der Gebietsstücke und endlich auch die Begränzung; also meistentheils Zustände, die sich ganz oder theilweise der rechtlichen Einwirkung auswärtiger Staaten entziehen.

Die alten, seit dem XVI. Jahrhundert gangbar gewordenen Vorstellungen von der Aufgabe der Gleichgewichtserhaltung durch Hinderung solcher territorialen Vergrößerungen, die auf Kosten der Sicherheit minder mächtiger Staaten vor sich gehen, erfuhren daher eine Berichtigung durch die moderne Staatswissenschaft. In Gemäßheit dieser muß eine auf den Interessenausgleich unter den Großmächten gerichtete Politik nicht lediglich von dem negativen Merkmal wechselseitiger Hinderung, sondern gleichzeitig von der positiven Förderung solcher Machtansprüche einzelner Staaten ausgehen, deren Befriedigung billig, angemessen, und der Aufrechterhaltung des allgemeinen Sicherheitsstandes förderlich erachtet werden könnte. 3)

Das System der modernen, in seinen Grundzügen an den Wiener Congreß von 1815 und an den Pariser Friedens-Tractat von 1856 sich anschließenden Europäischen Großmachtspolitik ruht somit auf dem Grundgedanken, daß der Geltung und Bethätigung der positiven Völkerrechtsordnung und der Aufrechterhaltung der Gebietsverhältnisse in ihren wesentlichen Stücken durch gemeinsame Action der Großmächte und durch wechselseitig geübte Nachgiebigkeit in der rechtzeitigen Zulassung nothwendig gewordener Berichtigungen oder Veränderungen besser gedient werde, als durch die Handhabung einer Regel, die überall von der Annahme eines Gegensatzes der Interessen einzelner Großmächte zu einander oder zu minder mächtigen Staaten ausging.

Da ferner die Actionskraft der einzelnen Europäischen Großmächte nicht nur selbst hinwiederum eine ungleiche nach ihrem wechselseitigen Verhalten bleibt und deren Machtelemente von Hause aus einem historischen Wechsel auch bei vorhandener Beständigkeit in der Gebietsgröße unterliegen, so bedeutet diese seit 1856 in der Beilegung großer allgemeiner Streitfälle bethätigte Gleichgewichtspolitik der Großmächte in der That eine Annäherung an den Rechtsgrundsaß der Gleichheit wenigstens unter den jeweilig leitenden Staaten, troh thatsächlicher Ungleichheit ihrer militärischen oder diplomatischen Machtstellung nach Außen. Die Machtdifferenz unter den einzelnen Großmächten ist somit rechtlich genommen unerheblich.

In diesem Sinne aufgefaßt, ist das Europäische Gleichgewicht der höchste Ausdruck aller Bestrebungen, welche die friedliche Beilegung bei allen Gebietsstreitigkeiten zum Gegenstande nehmen und davon ausgehen, daß zwischen Macht und Politik kein unlöslicher Widerstreit besteht, daß jeder Staat vielmehr berufen ist, seine eigenen Machtinteressen in Einklang zu sehen mit den

unerläßlichen Bedingungen einer völkerrechtlichen Gemeinschaftsordnung. Nur durch eine das allgemein anerkannte Rechtsgesetz des Völkerlebens mit den nächsten Zweckmäßigkeitspostulaten des einzelnen Anwendungsfalles, sowie das Bedürfniß der internationalen Rechtsbeständigkeit mit dem niemals fehlenden Bedürfnisse historischer Entwicklung ausgleichende Gesammtpolitik kann auf dem Boden der gegenwärtigen Staatszustände eine Erhöhung der allgemeinen Völkerrechtssicherheit erwartet werden.

Deswegen bedarf die Europäische Gleichgewichtspolitik in gleichem Maße der Selbstbeschränkung durch Anerkennung der rechtlichen Gleichheit aller souveränen Staaten, wie der unbehinderten Action in der Unterstüßung, Förderung oder Zulassung rathsam gewordener Veränderungen. Daß sich kleinere Staaten einer politischen Gesammtaction der Großmächte am wenigsten entziehen können, ist natürlich. Aber ihre (freiwillige) Unterordnung unter einstimmige Rathschläge der Großmächte, durch welche mindestens eine starke Präsumtion für das Vorhandensein eines internationalen Gesammtinteresses erreicht wird, ist für ihren Rechtsbestand förderlicher, als die ehemalige erzwungene Nachgiebigkeit gegen die Drohungen einzelner übermächtiger Nachbarstaaten.

Der innere Zusammenhang der Gleichgewichtstendenz mit dem jeweiligen Zustande des Europäischen Staatenbestandes zeigt sich übrigens auch im posttiven Völkerrecht; insbesondere

1. im Staatsvertragsrechte. Die Eingangsformel des Utrechter
Friedens nimmt Bezug auf die Erhaltung des Europäischen Gleich-
gewichts. Bei der Erfüllung von Allianz- und Garantieverträgen,
sowie bei der Interpretation des casus foederis fann oder muß auf
die Zweckbestimmung der Gleichgewichtserhaltung zurückgegangen
werden, wenn die Absicht der Contrahenten darauf gerichtet war.
2. Auch in der Lehre von der Intervention gewinnt die Forderung
des Europäischen Gleichgewichts hervorragende Bedeutung. Selbst-
verständlich übt jeder Staat für sich die Berechtigung, gewaltsam her-
beigeführte Veränderungen in der Gebietsvertheilung, soweit solche
seinem eigenen Fortbestande gefährlich werden würden, durch selbst=
ständige Machtbethätigung zu hindern, wenn er von anderen Rechts-
genossen im Stiche gelassen wird.

3. Die Neutralisirung gewisser Staatsgebiete oder Staatsgebiets=
theile im Sinne einer Gesammtgarantie ihres Fortbestandes und im
Hinblick auf die Gefahr ihrer Bedrohung oder der Unzulänglichkeit
ihrer dem Vertheidigungszwecke dienlichen Machtmittel beruht vor-
nehmlich auf den Postulaten der Europäischen Gleichgewichtsinter-
essen. 4)

Schließlich ist daran zu erinnern, daß die Gleichgewichtspolitik ihre Dbjecte nicht mehr auf das Europäische Festland zu beschränken vermag. Auch die colonialen Gebiete der Mächte, vor allen die nordafrikanischen und vorder= asiatischen Länder, treten, wie vor allen Dingen die Geschichte Aegyptens seit

« PreviousContinue »