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1840 und die Afghanischen Streitigkeiten gezeigt haben, in den Bereich der Gleichgewichtsintereffen. Eine eigenartige Stellung nimmt die Nord-Amerikanische Doctrin ein. In der Richtung der vorwiegend Europäischen Interessen Enthaltsamkeit übend, negirt sie in Gestalt der sog. Monroe-Doctrin die Befugniß der Europäischen Großmächte, sich in die Beziehungen Amerikanischer Staatsgebiete zu einander einzumischen. 5)

Das letzte Ziel einer in ferner Zukunft möglichen Vollendung völkerrechtlicher Cultur wird jedoch trotzdem darin erkannt werden, daß an die Stelle des Europäischen Gleichgewichts die Idee eines universalen Gleichgewichts tritt, wodurch jeder Rechtsstaat, unabhängig von bedrohlichen Nachbarschaftsverhält nissen, eine Sicherung seines territorialen Bestandes gegen gewaltsame Uebergriffe der Mächtigeren gewinnen sollte.

Der wichtigste aus dem Vorangegangenen herzuleitende Lehrsah, in welchem gleichzeitig der Uebergangspunkt zur Darstellung des Gebietserwerbes und der Staatenentstehung liegt, läßt sich dahin formuliren:

Innerhalb der Völkerrechtsgenossenschaft berühren größere Gebietsveränderungen zwischen benachbarten Staaten nicht nur deren eigene Staatsinteressen, sondern möglicherweise auch das friedliche Interesse der Staatengemeinschaften und die Sicherheit dritter Staaten.

1) Gent faßte das Europäische Gleichgewicht als gleichsam gewohnheitsrechtlich gewordenen Verfassungszustand auf: „Diejenige Verfassung neben einander bestehender und mehr oder weniger mit einander verbundener Staaten, vermöge deren keiner unter ihnen die Unabhängigkeit oder die wesentlichen Rechte eines anderen ohne wirksamen Widerstand von irgend einer Seite und folglich ohne Gefahr für sich selber beschädigen kann.“

2) Auch bei numerisch gleicher Proportion des Truppenstandes und nach geschehener Durchführung der Entwaffnung würde ein politisches Gleichgewicht unter den einzelnen Europäischen Staaten nicht zu erreichen sein.

3) Bluntschli bezieht daher die Gleichgewichtsforderung nicht auf das Verhältniß eines (sich bildenden) Nationalstaates zu einem „Particularstaat“. Handelt es sich dabei nicht um eine Conföderation, innerhalb welcher der Particularstaat eine bereits abhängige Stellung einnimmt, so wäre diese Consequenz des Nationalitätsprinzips als positiv rechtlich schwerlich anzuerkennen.

4) Auch wäre es politisch correct und dem Rechtsgedanken friedlicher Entwicklung dienlich, die nicht durch eigene Kraft, sondern durch die Großmächte constituirten Neustaaten, die eine im Voraus erkennbare Vergrößerungstendenz aufzeigen (wie Griechen= land, Serbien, Bulgarien), durch Neutralisirung und Auferlegung ständiger Neutralitätspflichten zu zügeln, damit die Vergrößerungssucht kleiner Staaten nicht die Großmächte in einen Krieg verwickeln kann.

5) James Monroe (geb. 1758, gest. 1831, Präsident der Vereinigten Staaten 1817-1825) verkündete, wahrscheinlich durch Canning angeregt, gegenüber den Südamerikanischen Interventionsgelüsten gewisser Europäischer Mächte, durch seine Bot. schaft vom Jahre 1823 den Grundsag: »With the existing colouies or depenHandbuch des Völkerrechts II.

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dencies of any European powers we have not interfered and shall not interfere; but with the governments, which have declared their independence and maintained it, and whose independence we have, on great consideration and just principles, acknowledged, we would not view an interposition for oppressing them or controlling in any other manner their destiny by any European power in any other light, than as a manifestation as an unfriendly opposition toward the United States. Dieselbe Botschaft erklärt sich gegen jede Neugründung Europäischer Colonien auf Amerikanischem Boden: The American Continents should no longer be subjects for any new European colonial settlement. S. John Lalor's (Amerikanische) Cyclopädie II, 898 ff.

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v. Neumann, Grundriß des heutigen Europäischen Völkerrechts (3. Aufl., 1885), S. 17ff. Pradier-Fodéré, Traité I, § 128. Holland, Elem. of Jurisprud., S. 295. Hall, International Law (1880) § 26 ff.

Wie die Privatrechtsgesellschaft aus sehr verschiedenen, mit einander gleichzeitig lebenden Altersstufen der Individuen sich zusammenseßt, ähnlich verhält es sich mit der Völkerrechtsgenossenschaft. Die einzelnen daran betheiligten Staaten sind ungleichen Alters. Sie entstehen, wachsen, schwinden, verfallen und sterben ab. Auf gegenwärtig wüstem Gebiete bestanden ehemals blühende Gemeinwesen. Wo ehemals undurchdringliche Wildniß Menschen verscheuchte, entstanden neue Culturstätten des staatlichen Lebens.

Während das positive Staatsrecht den jeweilig bestehenden Verfassungszustand zwar nicht in den Einzelheiten, aber im Princip als einen historisch und rechtlich unauflösbaren fingirt, hat das Völkerrecht seine Basis in der Thatsache, daß die Staatengesellschaft keine für alle Zeiten geschlossene Gesellschaft sein kann. Die Wandelbarkeit ihrer Subjecte muß als welthistorisch nothwendig und unabänderlich vom Standpunkte bisheriger Erfahrung zugeLassen werden. Es giebt keine Veranstaltung, die den Dienst einer ewigen Lebensgarantie für Staaten zu leisten im Stande wäre.

Allerdings sind die Staaten auch Rechtssubjecte, die sich einander stüßen . Insoweit gewährt ein in seiner Entwickelung fortgeschrittener Völkerrechtszustand auch einige wesentliche Bürgschaften gegen Staaten vernichtende Gewaltthat. Gegen gleichsam natürliche Todesursachen, die aus der Erschöpfung der innerstaatlichen Lebenskräfte hervorgehen, vermag indessen die Völkerrechtspraxis keinen Schuß zu bieten. Auf dem Fundamente der gegenwärtigen modernen Staatsgestaltungen stehend, bemerkt man, daß es meistentheils ein Zusammenwirken innerstaatlicher und international wirkender Vorgänge ist, wodurch der Neubildungsprozeß einerseits, der Untergang andererseits bei den modernen Staaten beherrscht wird.

Die Entstehung der Staaten erscheint in der großen Mehrzahl der Fälle als natürlicher, zuweilen friedlich, häufiger gewaltsam verlaufender Prozeß, der sich unabhängig von dem freien Willen der überlieferten alten Staatsge= walten vollzieht. Es handelt sich dabei regelmäßig also um historische Machtprozesse, die sich hinterher, d. h. nach der Vollendung, so stark erweisen, daß sie durch menschliche Willkür nicht gehindert werden konnten. 1)

Ausnahmsweise kann indessen die Entstehung der Staaten durch einen von Hause aus überall freien Rechtsact der Gründung vermittelt werden. Dies geschah beispielsweise in dem Zeitraum der alten Geschichte, wo primitiv einwandernde Volksstämme auf bis dahin staatenlosem Gebiete politische Gemeinwesen herstellten oder griechische Colonisten von ihren Heimstätten unter der im Voraus gewährten Anerkennung ihrer Selbständigkeit ausgesendet wurden, um den eigenen Staat gleichsam im Wege der Fortpflanzung zu vervielfältigen. Aus neuerer Zeit dürfen als rechtmäßige Staatsgründungsacte die Schöpfung des afrikanischen Negerstaates Liberia) und des Congostaates angeführt werden.

Weitaus häufiger geschieht es jedoch, daß der Entstehungsact neuer Staaten durch Zerstörung derjenigen Baumaterialien vermittelt wird, von denen ein älteres Gemeinwesen getragen wurde. Zwischen dem Acte des Einsturzes älterer Staaten und der Errichtung eines staatlichen Neubaues pflegt dann ein bald kürzerer, bald längerer Uebergangszustand zu liegen, während dessen es zweifelhaft ist, ob der ältere, in seinem Bestande erschütterte Staatsverband sich wieder herstellen läßt, oder unwiederbringlich verloren ist. Unter solchen Umständen entsteht dann für dritte, an diesem Kampfe unbetheiligte Staaten die rechtliche Streitfrage: welche Wirkungen der Kampf zwischen der Fortdauer eines älteren, anerkannt gewesenen Staatsbestandes und der Neugründung eines anderen im Entstehen begriffenen Gemeinwesens herbeiführen soll.

Unmöglich wäre es, diese Rechtsfrage vom Standpunkte irgend einer juristischen Theorie zu untersuchen, deren Wurzeln im Boden entweder des positiven Staatsrechts einzelner Länder oder gar des Strafrechts stecken. Das allgemeine Völkerrecht würde in Widerspruch zu sich selbst treten, wenn es die Zulassung weltgeschichtlicher Thatbestände von den eigenartigen Anwendungen der positiven Gesetzgebung einzelner Länder abhängig machen wollte.

Das philosophische Völkerrecht muß vielmehr bei dem zwischen der Geschichte und dem positiven Rechte von Zeit zu Zeit unter dem Titel der Eroberung oder des Aufstandes eintretenden Bruch durch die Vorstellung eintreten, daß der Bestand der Staaten durch Willkür, Missethaten und Irrthümer verändert wird, welche der unterliegenden Nation oder der Herrschergewalt zur Mitschuld zugerechnet werden müssen oder können.

Für die Praxis des positiven Völkerrechts hängt die Zulässigkeit einer Staatsbildung zunächst von der Entscheidung der historischen Untersuchung ab: ob eine vollendete Thatsache den Kampf zweier um ihre Existenz ringender Gewalten entschieden hat? Wie der gewaltsam vollendete, zur unbestrittenen Geltung gelangte, seiner Absicht nach verwirklichte Verfassungsumsturz keinen competenten Strafrichter vorfindet, der über die Urheber zu Gericht sizen könnte, so fehlt der Völkerrechtsgenossenschaft sowohl die objective Norm, wie auch die Zuständigkeit, um über Recht oder Unrecht des Prozesses zu urtheilen, der einen gegenwärtigen Zustand staatlichen Daseins herbeiführte. Es handelt sich somit weder um Billigung oder Nichtbilligung, sondern um Zulassung eines Geschehenen, dessen Rückgängigmachung der Bethätigung der früher herrschend gewesenen Rechtsmacht des verlegten Staates unmöglich geworden ist. Der Begriff der vollendeten Thatsache, den das Völkerrecht nicht entbehren kann, findet somit zwar kein Analogon, aber doch ein Object vergleichender Erklärung an dem Begriff der Verbrechensvollendung, insofern der vollendete Thatbestand einer als strafbar bezeich neten Handlung durch Zuthun des Schuldigen oder des Verletzten nachträglich nicht mehr verändert werden kann.

Der Inhalt der Thatsache, deren Vollendung in jedem einzelnen Fall zu prüfen ist, ergiebt sich von selbst aus dem Staatsbegriff. Zur vollendeten Staatsbildung gehört somit die unlösbar und dauernd gewordene Vereinigung von Staatsgewalt, Staatsgebiet und Staatsvolk. Die Reihenfolge, in welcher diese Grundbestandtheile sich mit einander verbinden, kann eine historisch verschiedene sein, bleibt aber in rechtlicher Hinsicht ohne Belang.

1) Bluntschli in seiner allgemeinen Staatslehre S. 300 unterscheidet: a) ursprüngliche Entstehungsformen; b) secundäre Entstehungsformen; c) abges leitete Staatenbildung.

2) Liberia mit der Hauptstadt Monrovia und einem Litoral von 960 km wurde 1821 mit freigelassenen Negern besiedelt. Am 24 August 1847 erlangte diese Niederlassung der Amerikanischen Colonisationsgesellschaft ihre Unabhängigkeit. S. Begründung und gegenwärtige Zustände der Republik Liberia in der Zeitschrift für allgemeine Erdkunde 1. Bd. (1853). Stockwell, The Republic of Liberia, New York 1868. Wilson, Western Africa, London 1856. Twiss (Vorrede zur 2. Aufl., S. XII) erwähnt, daß die Verfassung der Republik in den British and Foreign State Papers vol. 35, p. 1301 abgedruckt ist.

§ 6.

Untergang der Staaten.

Literatur: Heffter, Völkerrecht, § 24.

Bluntschli, Allgemeine Staatslehre (1875), S. 319 ff. Philli Pradier-Fodéré, Traité I, § 146 ff. more, Comment. I, S. 201.

Der Untergang der Staaten erweist sich meistentheils als historisches Gegenstück zu ihrem Entstehungsprozeß. Er tritt überall naturgefeßlich ein, wo sich eines der den Staat constituirenden Grundelemente von seiner Verbindung mit den beiden andern loslöst. Der staatliche Zusammenhang innerhalb des Volkslebens kann sich soweit durch Vermischung mit fremdartigen Bestandtheilen zerseßen, daß die Volkssprache allmälig abstirbt, was durch den Auflösungsprozeß des jüdischen Staatswesens veranschaulicht wird. Ansässig gewesene Staatsvölker können durch den Zwang der Umstände von ihrem Gebiete getrennt werden. Schließlich geschieht es auch, daß die Organe des staatlichen Gemeinwillens, ohne daß die Möglichkeit ihrer Umgestaltung und Erseßung übrig bleibt, untergehen.

Am seltensten ereignet es sich, daß ein ehemals staatlich gewesenes Gebiet der Erdoberfläche durch physische Prozesse insoweit vernichtet wird, daß die Bedingungen staatlichen Lebens, wie etwa in den höchsten arktischen Regionen oder wo die Meeresfluth bewohntes Land verschlang, völlig vernichtet werden. Von solchen, als möglich zu sehenden Ausnahmefällen abgesehen, ist der in der Geschichte der Menschheit regelmäßige Hergang also der, daß das Aufhören einzelner bestimmter Staaten gleichzeitig als Prozeß der Neubildung oder Erweiterung anderer Staaten erscheint, als numerische Verminderung oder Ver. mehrung der auf einer staatlich organisirt gewesenen Gesammtfläche wohnenden Herrschergewalten.

Die einzelnen dabei entscheidenden Acte kriegerischer Gewaltthat oder der Eroberung oder der vertragsmäßig vereinbarten Auseinanderseßung streitender Parteien, können sich daher immer nur in der Richtung entweder der Theilung eines bis dahin einheitlichen Volksgebiets in mehrere, oder der Unification oder Vereinigung mehrerer selbstständig gewesener Staatsgebiete bewegen.

Demgemäß kann man unterscheiden:

1. Untergang eines Staates, vermittelt durch die kriegerische Machtüberlegenheit eines andern erobernden Staates, sei es, daß diese Eroberung in einer Niederlassung eindringender Volksstämme oder unter Aufrechterhaltung ihres überlieferten Territorialstandes sich vollzieht. Modernen Eroberungen ist es eigenthümlich, daß die Privateigenthumsverhältnisse rechtlich davon unberührt bleiben.

In wieweit innere staatsrechtliche Verhältnisse durch den Hergang der Eroberung berührt werden, läßt das positive Völkerrecht dahin

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