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pflichtung nach Außen hin selbst zu bestimmen und zu beschränken. Er bedarf sonach der in ihrem Ursprunge freiwilligen Unterwerfung unter eine bereits vor ihm gegebene oder neben ihm im Entstehen begriffene Gemeinschaftsordnung der Staatengenossenschaft. 3)

In wieweit dieser Wille und diese Fähigkeit der Anerkennung durch bereits vorhandene Staaten bedarf, wird im Zusammenhang mit dem Entstehungsprozeß der Staaten an einer anderen Stelle zu untersuchen sein (zweites Kapitel). Aus dem Gesagten geht aber hervor, daß die Rechtsbegriffe von Volk und Staat innerhalb der gegenwärtig bestehenden Ordnung auswärtiger Verkehrsbeziehungen von einander nicht mehr geschieden, die politischen Aspirationen der sog. Nationalitäten im ethnographischen Sinne daher nur staatsrechtlich (z. B. in Hinsicht des Sprachzwanges) oder politisch und historisch oder ausnahmsweise in Gemäßheit von Staatsverträgen für jeden einzelnen Fall, nicht aber nach allgemein völkerrechtlichen Grundlagen bemessen werden können.

Auch die Frage nach der Minimalziffer der völkerschaftlichen Grundlage des Staates ist als politisch-historische Thatbestandsfrage jedes einzelnen Falles einer juristischen Lösung nicht fähig. Als thatsächlich vorhandene Minimalziffer einer staatlichen Bevölkerung mag diejenige von Monaco (1200 Seelen ungefähr) bezeichnet werden.

1) Dies würde sich z. B. darin zeigen, daß die Tödtung eines rechtswidrig angreifenden Europäers durch schwer bedrohte Eingeborene auf staatenlosen Gebieten als berechtigt auch in Europa anzuerkennen wäre, wenn eine Gerichtsverhandlung deswegen eingeleitet würde. Insofern giebt es also, wie Bluntschli hervorhebt, allerdings völkerrechtlich zu schüßende „Menschenrechte“, deren Existenz von der Publication eines Gefeßes unabhängig ist. Auf der gleichen Erwägung beruht die vertragsmäßig geordnete Pflicht, auf staatenlosen Gebieten dem Sclavenhandel zu wehren: weil dieser als menschheitswidrig gilt.

2) Calvo giebt noch eine Aufzählung der verschiedenen Definitionen. Gehört eine Legaldefinition von „Volk“ oder „Staat“ in einen völkerrechtlichen Codificationsentwurf? Ich glaube nicht Field schlägt folgende sehr anfechtbare Formel vor: >A nation is a people permanently occupying a definite territory, having a common government, peculiar to themselves, for the administration of justice and the preservation of internal order and capable of maintaining relations with all other governments«. Bei den Italienern florirt vielfach ihre Nationalitätentheorie bereits im Staatsbegriff selbst. (So bei Fiore.) Im Allgemeinen läßt sich sagen, vom völkerrechtlichen Standpunkt seien alle Staatsdefinitionen fehlerhaft, welche entweder bestimmte Eigenschaften einzelner Völker, oder bestimmte Staatszwecke (wie Field thut) generalisiren, oder der auswärtigen Beziehungen der Staates überhaupt gar nicht gedenken.

3) A. M. v. Martens (Bergbohm) I, S. 54, welcher meint, daß die Völkerrechtspersönlichkeit bereits mit der Staatsrechtspersönlichkeit schlechthin zusammenfalle. Daß dies nicht der Fall, zeigt die abhängige Stellung der Unionsstaaten in NordAmerika.

§ 2.

Souveränetät der Staaten.

Literatur: Heffter, Völkerrecht, § 31.

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Bluntschli, Völkerrecht, § 64–80. v. Neumann, Grundriß des Europäischen Völkerrechts, S. 3.

F. v. Mar

tens, Völkerrecht (Bergbohm) I, § 70. J. Austin, Lectures on the Province of Jurisprudence (ed. 31, p. 226). Ph. Woolsey, Introduction into the Study of Intern. Law (2 ed.), § 37. Derselbe, Political Science I, S. 202 ff. Field, Draft outlines, § 12 ff. Wharton, Commentaries, § 135 ff. - C. Calvo, Droit Intern. I, § 41.

Vorhandensein der Souveränetät ist eine normale Vorbedingung der Völkerrechtspersönlichkeit, kein Product der positiven Völkerrechtsordnung.

Zur Vermeidung von Unklarheiten ist es daher nothwendig, sich über den Begriff der Souveränetät in völkerrechtlicher Hinsicht zu verständigen. Staats- und verfassungsrechtlich knüpft sich der Status effectiver Souveränetät immer an bestimmte Subjecte, sei es an einzelne Herrscher, an Körperschaften oder politisch handelnde Kategorien von Personen (z. B. an sämmtliche großjährige, männliche Individuen als wählende oder beschließende Staatsbürger). In dieser Hinsicht beruht die Souveränetät auf thatsächlich nothwendigem, also unvermeidlichem (in Monarchien durch den Tod herbeigeführten) Wechsel der die Souveränetät ausübenden Subjecte. Staats- und verfassungsrechtlich genommen kann es daher theoretisch auch streitig werden, wem die Ausübung der Souveränetät grundsäßlich gebühre, ob den einzelnen Herrschern oder dem Volke oder corporativen Vertretungen desselben.1)

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Völkerrechtlich genommen, knüpft sich zuständlich die Souveränetät zunächst immer an das durch seinen einheitlichen Willen in staatlicher Form constituirte Volk. Unbedingt gilt dies, wie bereits oben bemerkt ist, soweit Europäische Nationen unter einander Verkehr pflegen. Diese nationale Volks-Souveränetät bleibt nothwendig unabänderlich gegenüber den veränderlichen Subjecten ihrer staatsrechtlich möglichen Darstellungsweise. Der völkerrechtliche Lehrsatz: Das Volk stirbt nicht“ ist in dieser Richtung zutreffender als der staatsrechtliche Sat: „Der König stirbt nicht" (le roi est mort, vive le roi!). Adoptirt man diese Unterscheidung, 2) so ergiebt sich, daß Staaten in verfassungsrechtlicher Hinsicht (z. B. in Conföderationen) und im Gegensahe zu einer anders organisirten Gesammt= Regierungsgewalt innerhalb eines bestimmten, örtlich begränzten Bereichs für souverän erklärt sein können, ohne daß ihnen in völkerrechtlicher Hinsicht Souveränetät zuerkannt werden dürfte. 3)

Völkerrechtlich definirt, bedeutet,,Souveränetät" den vollendeten Machtzustand eines Staatsvolkes im Verhältniß zu anderen, vermöge dessen dasselbe sein eigenes Dasein nach Außen aufrecht erhält.

Bevor in allerältesten Zeiten die Frage: wer in innerstaatlichen Beziehun= gen zur höchsten Gewaltübung befugt sein solle, 4) durch das Bewußtsein der Völker oder Stämme gestellt werden konnte, war das Bewußtsein des äußern Gegensatzes und des selbständigen Daseins bereits weiter vorgeschritten.

Darauf weisen die alten classischen Bezeichnungen der Autonomie und der libertas populi hin: negative Vorstellungen des Nichtunterworfen= seins, in öffentlich rechtlicher Hinsicht parallel laufend dem Gegensage zwischen persönlicher Freiheit des Einzelnen und der Sclaverei.

Andererseits ist der Kern der rein staatsrechtlichen Souveränetätsbegriffe immer wesentlich positiven Gehalts, weil es sich dabei um Macht und Recht der Gewaltübung über politisch unterworfene Personen handelt. Kehrseite der staatsrechtlichen Souveränetät ist die Pflicht des staatsbürgerlichen Gehorsams. Ein souverän gewordenes Volk schuldet dagegen anderen Völkern niemals Gehorsam, sondern nur Achtung im weitesten Sinne und Anerkennung seiner Gerechtsame.

Das politisch normale, für die Staatspraxis höchst wesentliche Erforderniß dauernder Befähigung zur Erlangung und Behauptung der völkerrechtlichen Persönlichkeit, oder jenes sog. vollendeten Machtzustandes, liegt in einer nicht genauer zu definirenden mittleren Stellung der einzelnen Staaten, wodurch sowohl eine den inneren Fortbestand gefährdende Ohnmacht als auch eine das Recht des Auslandes negirende Uebermacht der einzelnen Staaten ausgeschlossen ist. Mit anderen Worten: Zwischen den begränzenden Polen unzulänglicher, kleinster Communalstaatsbildung und der Weltstaatsbildung eines übermächtigen Staates liegen die rechtlich möglichen Zustände der souve ränen Staatsgebilde.

Bei der politischen Würdigung solcher Normalität der Souveränetät dürfen freilich die Uebergangszustände des Wachsthums und Verfalles der Gemeinwesen nicht übersehen werden. Auf dieser Erwägung beruht die Anomalie der sog. halbsouveränen Staaten, von den weiter unten in einem anderen Zusammenhange die Rede sein wird. (S. VII. Stück Kap. 2.)

Obschon begriffsmäßig zu sondern, steht aber die völkerrechtliche Seite der Souveränetät doch im praktischen Zusammenhange und in fortwährender Wechselwirkung mit der staatsrechtlichen Souveränetät. Denn als Einzelstaat genommen, könnte überhaupt kein Gemeinwesen staatsrechtliche Souveränetät seinen handelnden Machtorganen zuertheilen, wenn es vom Auslande völlig abhängig wäre. Der modern verfassungsrechtliche Souveränetätsbegriff hat erst durch das Völkerrecht seine praktische Verwirklichung erlangen können.

Andererseits wird aber auch durch den Grundbegriff eines vollendeten Machtzustandes die Vorstellung absoluter omnipotenter Willkür der Staaten ausgeschlossen. Im Gegentheil liegt im Wesen des modernen Rechtsstaates die Forderung, daß die höchsten Regierungsorgane im Verhältniß zum Volke durch Gesetz sich selbst Beschränkungen auferlegen, und völkerrechtlich ist es ganz selbstverständlich, daß jedes souveräne Staatsvolk nur im Verhältniß zu

anderen einzelnen Nationen völlig unabhängig sein kann, im Verhältniß zu den rechtlich sittlichen Fundamentalgeboten der Staatengenossenschaft aber nicht willkürlich d. h. lediglich nach seinem Ermessen handeln darf. Troß ihrer unbestrittenen Souveränetät würden übrigens auch die größten unter den modernen Großstaaten thatsächlich niemals im Stande sein, die Gesammtordnung der Völkerrechtsordnung aufzuheben und umzustürzen.

Sowohl thatsächlich als auch ethisch und rechtlich trägt also der Begriff der Souveränetät überall ein Moment der Beschränkung in sich selber. Nur, daß dieses Beschränktsein in seinem Ursprung und in seiner Verwirklichung als Selbstbeschränkung, somit als völlige oder relative Unabhängigkeit vor dem Eingreifen eines förmlich constituirten, anderweitigen, rechtlich überlegenen Machtorgans aufgefaßt werden muß.

Hieraus ergiebt sich, daß die völkerrechtliche effective Souveränetät der Staaten weder mit der verfassungsrechtlich formulirten Souveränetät der Monarchen, noch mit der blos titularen Souveränetät eines in Gefammtstaaten eingegliederten Staatsgebietes, am allerwenigsten aber mit dem historischen Thatbestande vermengt werden darf, vermöge dessen gerade die höchst entwickelten Culturstaaten in ihrem politischen Entwicklungsstande am meisten abhängig erscheinen von dem wirthschaftlichen Verhalten anderer Nationen. 5)

Die rechtlich erheblichen Merkmale der staats- und völkerrechtlichen Souve= ränetät sind aus der Totalität des staatlichen Gesammtwirkens und Könnens zu entnehmen. Die Aufzählung einzelner Kriterien erscheint vom Standpunkte des allgemeinen Völkerrechts schwierig, 6) wenn damit eine vollständige Erschöpfung des Souveränetätsbegriffes erstrebt wird.

Will man aber innerhalb des gegenwärtigen Entwicklungsstandes völkerrechtlicher Beziehungen gewisse Merkmale besonders betonen, so wäre zu sagen: legter und höchster Ausdruck aller Souveränetät ist die rechtlich bestehende Machtvollkommenheit selbständiger Kriegsführung gegenüber anderen Nationen, und die Macht eigener Verfassunggebung (pouvoir constitutif). Wo diese ganz oder theilweise fehlt, kann nur (so lange die Kriege überhaupt noch nicht beseitigt sind) von einem mehr oder weniger unvollkommenen oder unvollendeten Machtzustand die Rede sein.7)

1) So ist Dicey (Lectures introductory to the Study of the Law of the Constitution, 1885, p. 35 ff.) der Ansicht, daß in England verfassungsrechtlich nicht die Krone, sondern das Parlament souverän sei während völkerrechtlich die Souveränetät des Volkes zweifellos erscheint.

2) Dies scheint auch Heffter anzunehmen, wenn er erstens (§ 31) als souveraineté das Recht eines freien staatlichen Waltens" behandelt und hinterher (§ 48 -57) von den Souveränen, ihren persönlichen und Familienverhältnissen spricht, also Spezialrechtsverhältnisse monarchisch verfaßter Staaten betrachtet." - Wharton

(Commentaries) unterscheidet in gleicher Richtung (dependent und independent sovereignty) in dem Sinne, daß das Völkerrecht independent sovereignty erfordert.

3) Dies ist der Fall in Beziehung auf die einzelnen Bundesstaaten der Amerikanischen Union, die in ihrem staatsrechtlichen Bereich sovereign and independent heißen.

4) Die älteste Streitf rage bezüglich der Souveränetät in innerstaatlichen Fragen knüpft sich in Rom an das judicium Horatianum, d. h. an die provocatio ad populum gegen Todesurtheile. S. darüber die neuesten Untersuchungen von C. Fadda, Appello penale (Torino 1885).

5) Für dieses thatsächliche Unabhängigsein der Staaten von einander braucht Lorimer den bezeichnenden Ausdruck »interdependence<<.

6) Field begnügt sich mit dem Merkmale der Selbst gerichtsbarkeit: »>Every nation is sovereign within its own jurisdiction«. Sicherlich würde aber darum die Souveränetät nicht aufgehoben, wenn Bestandtheile der Rechtspflege auf ein (völkerrechtliches) Gesammttribunal übertragen werden. Ebenso ungenügend Bluntschli, welche fünf Merkmale der Souveränetät aufzählt: 1. verfassunggebende Gewalt; 2. geseßgebende Gewalt; 3. Selbstregierung und Selbstverwaltung (wohl im Sinne von centraler, aber nicht im Sinne localer Selbstregierung); 4. Aemterhoheit; 5. auswärtige Vertretung.

7) Der moderne Souveränetätsbegriff findet seinen Gegensat: 1. in dem mittelalterlichen Kirchenbegriff, der wesentlich staatliche Functionen (z. B. in der Gerichtsbarkeit) durch das kirchliche Asylrecht negirte; 2. in dem mittelalterlichen Lehnsbegriff, der einerseits durch Selbsthülfe das Privatkriegsrecht sanctionirte, andererseits den Lehnsherrn praktisch auf die Hilfe des Vasallen modern gesprochen auf den vom Vasallen eigenmächtig zu beurtheilenden casus foederis verwies. Im höchften Maße auffallend ist, daß Bluntschli in seiner Aufzählung der Kriegsherrlichkeit als eines Merkmals der Souveränetät nicht gedenkt.

§ 3.

Gleichheit und Ungleichheit der Staaten.

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Literatur: Heffter, Europäisches Völkerrecht, § 27. P. Fiore, Trattato di D. I. Pubbl. I, § 419ff. R. Phillimore, Comment. I, S. 216ff. T. Twiss, Law of Nations, S. 12. J. Lorimer, Law of Nations I, 182 ff. Wheaton, Histoire des progrès du droit des gens, § 2. Wharton. Commentaries, § 135 (S. 213, Note 1). Calvo, Droit international I, § 296.

Zu den obersten Grundsäßen des allgemeinen Völkerrechts gehört das Postulat der Gleichberechtigung souveräner Staaten innerhalb der internationalen Gemeinschaftsordnung. Dieser Lehrsaß erscheint durchaus unabhängig von der naturrechtlichen, in der Französischen Revolution formulirten Egalität der menschlichen Individuen. Ob man die letztere anerkennt oder nicht, ist an dieser Stelle unerheblich. Wer die Gleichheit souveräner Staaten in der allgemeinen Völkerrechtsordnung verneint, leugnet damit

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