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nach der Station Villers (Doubs) an die Adresse A. Robert versandt. Dort wurden sie unter letzterem Namen von Nicolet in Empfang genommen. Der Inhalt des einen Ballots wurde von Nicolet unter Mithülfe von vier Genossen, welche ihm zu diesem Zwecke von Chaux-de-Fonds her gefolgt waren, nach der Schweiz geschafft; das andere Ballot wurde einstweilen in einer Grenzwaldung verborgen, dort aber von Dritten aufgefunden und der Polizei überliefert. Die in die Schweiz gebrachten Exemplare versandte Nicolet an verschiedene Personen zur Verbreitung; bei dieser betheiligten sich insbesondere der Schneider Félicien Nicolas Darbellay in Liddes (Wallis), geb. 1845, wohnhaft in Lausanne, und der 19jährige Schriftsetzerlehrling Ferdinand Hänzi von Günsberg (Solothurn), in Basel, welche beide erklärten, von dem Manifeste, bevor sie es verbreiteten, Kenntniss genommen zu haben und mit dessen Inhalt im Wesentlichen einverstanden zu sein; daneben eine Reihe anderer Personen, welche theils in der Voruntersuchung nicht sicher ermittelt werden. konnten, theils, nach der Auffassung der Untersuchungsbeamten, von der Bedeutung ihrer Handlung kein Bewusstsein hatten. Der Bundesanwalt beantragte, gestützt auf den Bericht des eidgenössischen Untersuchungsrichters, es seien in Anklagezustand zu versetzen und den eidgenössischen Assisen zu überweisen: Albert Nicolet, gemäss Art. 48 des Bundesstrafrechts, wegen öffentlicher Aufreizung zu den in Art. 45 und 46 des Bundesstrafrechts vorgesehenen Delikten, begangen durch Abfassung, Drucklegung und Verbreitung des Manifestes, F. N. Darbellay und Ferdinand Hünzi wegen Gehülfenschaft zu diesem Delikte, begangen durch Verbreitung des Manifestes nach den Weisungen des Nicolet und mit der gleichen Absicht wie dieser.

Durch Beschluss vom 29. Oktober 1889 liess die Anklagekammer des Bundesgerichts die Anklage, soweit sie auf die Art. 48 und 46, nicht aber insoweit sie auf Art. 45 des Bundesstrafrechts begründet wurde, gegenüber sämmtlichen drei Angeschuldigten zu und überwies dieselben den Assisen des 1. eidgenössischen Geschwornenbezirks.

In der gemäss diesem Beschlusse abgefassten Anklageakte wird in rechtlicher Beziehung wesentlich bemerkt: Die Aufreizung zu Begehung der in Art 46 des Bundesstrafrechts vorgesehenen Delikte gehe klar insbesondere aus denjenigen Stellen des Manifestes hervor, wo die Anarchisten erklären, dass sie allen Unterdrückungsgesetzen die Stirne bieten, Fremden, sogar wenn sie aus der Eidgenossenschaft ausgewiesen seien, Unterkunft gewähren und dem

Bundesrathe gegenüber das Gesetz der Talion zur Anwendung bringen werden, wenn dessen Beschlüsse ihrem Willen nicht entsprechen. Allerdings setze Art. 46 cit. ein durch Zusammenrottung und gewaltsame Handlungen begangenes Delikt voraus. Allein es sei klar, dass derjenige Widerstand gegen die Staatsgewalt, zu welchem das Manifest aufreize, gar nicht anders als durch Zusammenrottungen und gewaltsame Handlungen bethätigt werden könnte, und dass daher Art. 48 des Bundesstrafrechts anwendbar sei. Bei anderer Interpretation wäre die Strafdrohung des Art. 48 völlig illusorisch und bliebe die Aufreizung zu gesetzwidrigem Widerstande gegen die Behörden stets straflos.

Die Hauptverhandlung, welche am 20. Dezember 1889 im Schlosse zu Neuenburg stattfand, brachte rücksichtlich der Thätigkeit der drei Angeklagten nichts wesentlich Neues; hingegen erklärten einige Zeugen, im Widerspruch mit ihren in der Voruntersuchung gemachten Aussagen, dass sie auch ihrerseits bei Entstehung und Verbreitung des Manifestes mitgewirkt haben.

Den Geschwornen wurden 8 Fragen zur Beantwortung vorgelegt. Die Hauptfrage (Frage No 1) lautete in Betreff des Albert Nicolet dahin:

L'accusé Albert Nicolet, comme auteur ou l'un des auteurs du manifeste des anarchistes suisses, imprimé à Paris en juillet 1889, est-il coupable d'avoir publiquement et avec préméditation provoqué à des attroupements et à des voies de fait ayant pour but une résistance au conseil fédéral pour l'empêcher de prendre une décision dans sa compétence, et une vengeance contre un fonctionnaire fédéral, ou un membre du gouvernement fédéral, cette provocation étant demeurée sans effet?

In Betreff des F. N. Darbellay und des F. Hänzi lauteten die Hauptfragen dahin:

L'accusé ..... est-il coupable d'avoir avec préméditation (dol) effectué dès le 16/18 août 1889, la distribution au public à Lausanne (Bâle) et ailleurs du manifeste des anarchistes suisses imprimé à Paris en juillet même année et d'avoir ainsi sciemment facilité par des actes la provocation publique commise par Albert Nicolet, telle qu'elle et prévue à la question No 1?

Die Geschwornen beantworteten sämmtliche ihnen vorgelegte Fragen einstimmig mit Nein; der Präsident der Assisen sprach daher die Angeklagten frei und die Kriminalkammer legte die Kosten dem Bunde auf; dagegen wies letztere ein Entschädigungsbegehren des F. Hänzi unter Berufung auf Art. 122 der Bundesstrafrechtspflege ab, da Hänzi die ihm etwa durch die Untersuchung entstandenen Nachtheile selbst verschuldet habe. Das verneinende Verdikt der Geschwornen kann, da die Thatsachen an sich zuge

standen waren und feststanden, nicht auf Verneinung der Beweisfrage, sondern es muss auf Verneinung der Schuldfrage beruhen.

Man wird wohl nicht fehlgehen, wenn man annimmt, die Jury sei davon ausgegangen, es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Angeklagten irgend daran gedacht hätten, durch das Manifest Zusammenrottungen zu gewaltsamem Widerstande gegen die Bundesgewalt etc. wirklich hervorrufen zu wollen oder zu können, und es sei daher rechtlich der Thatbestand der Aufreizung zum Aufruhr im Sinne der Art. 48 und 46 des Bundesstrafrechts nicht gegeben. Mit der andern Frage, ob nicht mindestens der Angeklagte Nicolet nach Art. 59 des Bundesstrafrechts wegen öffentlicher Beschimpfung oder Verleumdung des Bundesrathes strafbar wäre, hatte sich die Jury nicht zu beschäftigen, da hierauf nicht geklagt war.

Ueber einige die Psychiatrie betreffende Schriften.

Von Dr. Plazid Meyer v. Schauensee, Oberrichter in Luzern.

Das Recht im Irrenwesen, kritisch, systematisch und kodifizirt (mit Benützung einer Nachricht über den Gesetzesentwurf Léon Gambetta's), von Dr. Eduard August Schröder (Zürich und Leipzig 1890), ist eine Schrift, die neben viel Uebertriebenem und zum Theil Unrichtigem doch einen Kern von wirklicher Wahrheit enthält. Vorab weist der Verfasser auf den auch von der Psychiatrie nicht bestrittenen Satz hin, dass nicht jeder Gehirnkranke geisteskrank sei. Dann aber wird von der wissenschaftlichen Psychiatrie unrichtig behauptet, sie lehre, dass krankhafte Geisteszustände stets ererbt seien, und nur in Ausnahmsfällen, wo traumatische oder toxische Einwirkungen, Typhus, Syphilis oder Trunksucht vorhanden, würden dieselben als erworben angenommen. Diesen Satz, dass durch psychische Veranlassungen allein nie eine Geisteskrankheit entstehen könne, hätten nach Schröder die Irrenärzte tendenziös erfunden, um sich vor der furchtbaren Anklage zu schützen, dass sie einen gesund Gewesenen durch den psychischen Affekt, den seine schauerliche Gefangenschaft erregen müsse, zum Irrsinn gebracht hätten. Trete ein solcher Fall ein, so werde einfach gesagt, der Kranke sei mit Paranoia erblich behaftet gewesen, dieselbe sei durch die Haft zum Ausbruch gekommen. Uns scheint, die Resultate der psychiatrischen Wissenschaft seien von Sch. schief aufgefasst worden, und berufen wir uns diesfalls auf das Lehrbuch der Psychiatrie von Dr. R. v. Krafft-Ebing, 2. Auflage. Krafft-Ebing theilt S. 149 u f. die Ursachen des Irreseins in prädisponirende, richtiger exponirende, und in accessorische ein. Nach den allgemein prädisponirenden (Civilisation, Nationalität, Klima, Jahreszeiten, Geschlecht, Stand, Alter etc.) wird unter den für die Aetiologie der Geisteskrankheiten ungleich wichtigern individuell prädisponirenden Ursachen die Erblichkeit an erster Stelle hervorgehoben. Nächst der erblichen Anlage wird dann als das wichtigste individuell prädisponirende Moment jene eigenthümliche Konstitution der nervösen Elemente genannt, die man die neuropathische nennt. An dritter Stelle wird noch die Erziehung als individuell prädisponirendes Moment erwähnt. Als accessorische Ursachen werden 1) psychische (Gemüthsbewegungen) und 2) körperliche (Hirn, Rückenmarkskrankheiten, Neurosen etc.) angeführt.

Krafft-Ebing betont, dass es ausser der Tuberkulose kaum ein Krankheitsgebiet gebe, auf welchem sich die Erblichkeit so mächtig geltend mache, als auf dem der psychischen Krankheiten, bemerkt aber ausdrücklich: Nur in seltenen Fällen wird die wirkliche Krankheit auf dem Wege der Zeugung übertragen (angebornes Irresein, hereditäre Syphilis), in der Regel nur die Disposition dazu. Zur wirklichen Krankheit kommt es erst dann, wenn auf Grundlage jener accessorische Schädlichkeiten zur Geltung

gelangen. Der erblich schädigende Faktor, heisst es bei Krafft-Ebing weiter, kann sich bei der Nachkommenschaft in blosser neuropathischer Konstitution, in der Hervorbringung von Neurosen, aber auch von Psychosen bis zur Idiotie, als der schwersten Form hereditärer Entartung, geltend machen. Umgekehrt ist aber eine Regeneration auf einer gewissen Stufe noch möglich durch Kreuzung mit gesundem Blute aus. intakter Familie, durch Interferenz günstiger Lebensbedingungen. Die Form der Krankheit wird dann immer milder, und wird die Kreuzung fortgesetzt, so kann der degenerative Keim vollständig schwinden.

Die von Morel bejahend beantwortete Frage, ob es ein erbliches Irresein als klinische Form gebe, soll nach Krafft-Ebing als eine offene verbleiben. Nach seiner Erfahrung bildet das erblich Degenerative nur eine Theilerscheinung des degenerativen Irreseins überhaupt.

Also gerade das Gegentheil von dem, was Schröder als Axiom der Psychiatrie hinstellt, sagt Kraft Ebing, einer der berufensten Vertreter dieses Faches, indem er die Erblichkeit bloss als individuell prädisponirendes Moment neben der neuropathischen Konstitution und der Erziehung in Betracht zieht.

Für die Beurtheilung eines krankhaften Geisteszustandes liegt nun aber die Schwierigkeit, wie Krafft-Ebing selbst in seinen Grundzügen der Kriminalpsychologie (2. Auflage, Stuttgart 1882) zugibt, darin, dass die Beurtheilungsweise eine rein klinische sein muss, die klinischen Zeichen aber wiederum psychologische sind.

Am allerschwierigsten verhält es sich mit den sog. psychischen Entartungen. Sie unterscheiden sich von den eigentlichen Geisteskrankheiten dadurch, dass nicht sowohl die intellektuelle Seite des Seelenlebens, als vielmehr die ethischen Beziehungen, das Triebleben überhaupt, der Charakter vorwiegend eine Abweichung von der Norm zeigen. Zur Zeit aber entziehen sich noch die anatomischen Bedingungen der Entartung der Leichendiagnose, der Begriff der Entartung kann nur in funktioneller Auffassung bestehen. Hier ist ein Punkt, wo die Jurisprudenz resp. Rechtsphilosophie mit der Medizin in Konkurrenz tritt. Professor Forel stellt in dieser Zeitschrift, I. Bd., S. 49 ff., anknüpfend an Lombroso, l'Uomo delinquente, den Satz auf, dass Charakterabnormitäten und geistige Störung ohne Grenze in einander übergehen können, und dass die Symptome gewisser (konstitutioneller) Geistesstörungen äusserst nahe verwandt seien mit gewissen Charaktereigenschaften gesunder Menschen. Forel huldigt der Theorie der sog. ethischen Defekte.

Ganz anders der italienische Kriminalist Garofalo, der in seiner Criminologia im Gegensatz zum Positivismus von Lombroso sowohl beim Gelegenheits als Gewohnheitsverbrecher nicht eine pathologische Entartung des Gehirns, nicht eine Art des Irreseins, sondern einen Mangel oder einen Fehler des moralischen Sinns annimmt. Es ist der Verbrecher nach G. auf einer niederen Stufe der Entwicklung stehen geblieben, er bezeichnet eine tiefer stehende Race. Vgl. Le Crime et la Folie, par H. Maudsley, Paris 1888.

Von diesem Gesichtspunkte aus wird auch in neuerer Zeit die gegenwärtige Art der richterlichen Strafzumessung verworfen. Der Richter kenne den Verbrecher gar nicht, den er bestrafen soll, und auf den

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