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Erfahrungen über den besten Auswahlmodus lagen noch nicht vor, und wir hatten als Beispiel nur den Charlottenburgs.

Dieser erregte mir aber einige Bedenken. Die Charlottenburger Waldschule setzte sich zusammen aus herzkranken, lungenkranken, skrophulösen und schwer blutarmen Kindern. Der dortige Waldschularzt rechnete zu Blutarmut alle Kinder, welche durch eine mehr oder weniger hervortretende Blässe der Haut und der Schleimhäute ausgezeichnet waren, auch die Kinder mit Herzklopfen, Seitenstechen, Herzstichen und Kopfschmerzen, ohne besonders nachweisbare Ursachen, die Kinder mit Nasenbluten, Nervenschwäche und Nervosität, die entweder als Folge oder Begleiterscheinungen der Blutarmut auftreten; zu Skrophulose alle Kinder, welche an deutlich nachweisbaren grösseren oder kleineren Hals- und Nackendrüsenschwellungen litten. Bei ihnen waren ausser andern skrophulösen Erscheinungen, wie Ausschlägen, Augenentzündungen, Schnupfen u. s. w. immer noch die deutlichen Erscheinungen der Blutarmut mit ihren Folgen vorhanden. Zu Herzkrankheiten alle Kinder mit wirklich nachweisbarem Herzfehler, zu Lungenkrankheiten alle Kinder mit sicher erkennbaren Lungenerscheinungen, jedoch ohne Auswurf. Mir schien dieser Auswahlmodus in Hinsicht auf die zu erwartenden Dauerresultate nicht sehr erfolgversprechend. Bei uns in Mülhausen werden die Kosten für die Einrichtung und den Betrieb der Waldschule nicht wie in Charlottenburg zum grössten Teil von der Privatwohltätigkeit aufgebracht, sondern einzig und allein von der Kommune, also der Gesamtheit der Steuerzahler. Um so vorsichtiger musste also vorgegangen werden, damit die grossen Aufwendungen von einem möglichst sichern Dauererfolg gekrönt würden.

Mir schien von vornherein die Heranziehung tuberkulöser und skrophulöser Kranker zur Waldschule, die ja die Kinder nur am Tage beherbergt, in Bezug auf das vorgesetzte Ziel der Heilung keine glückliche. Man muss nur daran denken, wie diese Leiden zu Stande kommen. Es handelt sich doch fast durchweg um Kinder armer Leute, die entweder selbst tuberkulös sind oder in den Mietskasernen tuberkulöse Hausgenossen haben. Die mit der Armut einhergehenden schlechten hygienischen Verhältnisse, enge, überfüllte Wohnung, wenig Luft und Licht, unzureichende Nahrung und gar zu oft Mangel an Sauberkeit tragen dazu bei, die diesen elenden Menschenkindern sich ständig darbietende Infektionsgelegenheit noch gefährlicher zu

machen, als sie es unter günstigeren äusseren Verhältnissen schon ist. Das Vater haus ist für solche Kinder die sich ihnen immer wieder erneuernde Infektionsquelle. Sollen aber tuberkulös erkrankte Kinder zur Heilung gelangen, so ist doch die erste Forderung, dass sie für lange Zeit dauernd aus dem schlechten Milieu ihres ärmlichen Heimes herauskommen. Sie am Tage in die glänzenden Verhältnisse der Waldschule bringen und sie für die Nacht, also für mindestens 10 Stunden, wieder da einsperren, wo ihnen immer wieder neues Infektionsmaterial zugeführt wird, heisst, in der Nacht, zum Teil wenigstens, einreissen, was man am Tage aufgebaut hat. Das ist halbe Arbeit. Aber für derartig erkrankte Kinder halbe Massregeln anwenden, heisst von vornherein auf einen Dauererfolg verzichten.

Und so ist in Charlottenburg auch eingetreten, was vorauszusehen war. In dem Bericht der Anfangs dieses Jahres herauskam, heisst es, von den blutarmen Kindern (34) sind unverändert 9, gebessert 11, geheilt 13, verschlimmert 1; von den skrophulösen (38), unverändert 8, gebessert 22, geheilt 8; von den 14 herzkranken geheilt keines, gebessert 7 und unverändert 7, von den 21 lungenkranken 1 verschlimmert, 8 gebessert, 8 unverändert und 4 geheilt. Hinzugefügt wird aber, dass hier unter Heilung nur Besserung der anämischen Symptome verstanden wird, nicht das Grundleiden. Also ein sehr mässiger Erfolg. Und im Juni dieses Jahres berichtete Schulrat Neufert, der verdienstvolle Spiritus rector der Charlottenburger Waldschule in einem Vortrag in Dresden, dass bei zirka zwanzig dieser Waldschulkinder der Gesundheitszustand nach Beginn der Winterschule sich recht bald wieder verschlechterte. Die Kinder fingen wieder an zu husten, die Schulversäumnisse häuften sich wieder so wie vorher. Der Nutzen war also für relativ viele von recht kurzer Dauer. Ein Bericht über die Dauerresultate der zweiten Charlottenburger Waldschulperiode, die des laufenden Jahres, liegt zur Zeit noch nicht vor.

Um nun für unsere Waldschule die Chancen eines vollen Erfolges möglichst günstig zu stellen, schlug ich am Ende des letzten Winters in einer Versammlung der Mülhauser Schulärzte vor, nur solche Kinder der Waldschule zu überweisen, von denen man mit höchster Wahrscheinlichkeit oder gar mit Sicherheit einen dauernden Nutzen durch den Aufenthalt in jener voraussehen konnte, d. h. tuberkulöse und skrophulöse Kinder ganz auszuschliessen und nur schlecht

genährte, schwer anämische Kinder aufzunehmen. Herzkranke, bei denen eine wirkliche Heilung überhaupt nicht in Frage kommt, anzunehmen, verbot sich bei uns von selbst, wegen des steilen Anstiegs, den die Kinder täglich zu machen hatten, um die hochgelegene Waldschule zu erreichen.

Dementsprechend suchten unsere 20 Schulärzte aus den etwa 12000 Volksschulkindern Mülhausens 350 Kinder heraus, unter denen ich dann die engere Auswahl zu treffen hatte.

Das war nicht ganz leicht; denn alle diese Kinder befanden sich körperlich auf einem solchen Tiefstande, dass wenn Platz vorhanden gewesen wäre, ich sie alle in die Waldschule genommen hätte. Es kamen je doch für dieses erste Jahr nur 100 in Frage, und so suchte ich mir unter den 350 elenden die 100 elendesten heraus. Durchweg Kinder von grösstenteils unglaublicher Magerkeit, teilweise direkt ausgehungert mit wachsbleichen oder aschgrauen Gesichtern, müdem erloschenem Blick und schlaffer Haltung, ein Material, wie es geringwertiger kaum gedacht werden kann, ein Material, in seinen Ernährungsverhältnissen, obwohl es organisch Kranke nicht enthielt, weit unter dem Charlottenburger stehend. Von den Charlottenburger Kindern, die ich im Frühjahr gesehen, sahen die elendesten noch immer besser aus, als die best aussehenden unter den unsrigen. Das zeigt sich auch in den Gewichtszahlen. Von den Charlottenburger Kindern die ja ebenso wie die unsrigen im Alter von 7-14 Jahren standen, und bei deren Auswahl ebenso wie bei uns darauf Rücksicht genommen wurde, dass aufsteigende Klassen von je 25 Köpfen gebildet werden konnten, wog bei der Aufnahme das einzelne im Durchschnitt 28, 964 Kilogramm, bei uns dagegen nur 25, 458, also 32 Kilo weniger. Das ist in diesem Alter enorm.

Es wäre wünschenswert gewesen, bei der Auswahl unserer 100 Kinder auf die Verhältnisse des elterlichen Hauses Rücksicht zu nehmen, d. h. unter sonst gleichen Verhältnissen Kinder, deren Eltern arbeitsunfähig waren, oder die aus kinderreichen Familien stammten, andern vorzuziehen, bei denen diese Verhältnisse günstiger lagen. Aber die Zeit drängte. Die Schulärzte bekamen erst kurz vor den Ferien den Auftrag, die Kinder auszusuchen und nach den Osterferien sollte die Waldschule eröffnet werden. Ich hatte also nicht mehr die Zeit, andere Bedingungen, als die Erscheinung der Kinder selbst sie boten, zu berücksichtigen,

Es war mir nun interessant, hinterher zu untersuchen, ob in meiner Auslese auch Korrelationen zwischen dem misslichen Körperzustande der Kinder und den bestehenden Verhältnissen in ihren Familien zum richtigen oder wenigstens zum annähernd richtigen Ausdruck gebracht worden waren. Ich liess hinterher Recherchen über den Gesundheitszustand der Eltern und über die Kinderzahl anstellen, und da stellte sich einmal heraus, dass unter den 100 Kindern 30 einen chronisch kranken Vater oder eine chronisch kranke Mutter hatten, und von 7 Vater oder Mutter gestorben war. Es zeigte sich weiterhin, dass fast überall, wo das Waldschulkind aus einer kinderarmen (1-3) Familie stammte, Vater oder Mutter tot oder krank waren; wo aber die Eltern gesund waren, war gewöhnlich die Kinderzahl gross (4-9). Also entweder fehlte der Ernährer, und dann waren keine Mittel da, selbst den wenigen Kindern die ihnen notwendige Nahrung in ausreichender Weise zukommen zu lassen, oder die Mutter fehlte und damit die Pflege; oder aber die Eltern lebten und dann war die Kopfzahl der Familien so stark, dass die vorhandenen Mittel sich zu sehr zersplitterten, um das einzelne Kind genügend zu ernähren.

Trotzdem also in dieser Beziehung meine Auslese unwillkürlich ziemlich das richtige getroffen hatte, wird es in Zukunft doch noch sicherer sein, sich rechtzeitig über die Familie der in Frage kommenden Kinder zu informieren, um nicht nur die schwächsten, sondern unter den schwächsten vor allem die bedürftigsten zu berücksichtigen.

Sobald die Witterung es erlaubte, das war im diesjährigen rauhen Frühjahr, Anfang Mai, zog die Kinderschar in ihr neues Tagesheim ein.

Die Behandlung der Kinder richtete sich gegen die drei Grundübel derselben, die Anämie, die Unterernährung und die bei einem grossen Teil vorherrschende körperliche Unsauberkeit und Verwahrlosung. Also viel Luft und Sonne, reichliche Nahrung und häufige Bäder.

Das erste gab die Lage der Waldschule. reichlich. Mit ihrem grösseren Teil frei gegen Südosten gelegen, hat sie Sonne vom frühen Morgen bis zum Spätnachmittag. Sehr weit von der Fabrikgegend der Stadt entfernt, wird sie nie vom Rauch erreicht. Wenn der Wind von der Stadt herweht, als Nordwestwind, so geschieht das nur bei Regenwetter, das als solches schon die Verschleppung von Staub verhindert; der Süd-, Südwest- und Südostwind, der die Schule gewöhnlich be

streicht, weht vom Schwarzwald und den | Ausläufern des Schweizer Jura her, ohne eine menschliche Ansiedelung mit Ausnahme spärlicher Dörfer zu berühren und erreicht die Schule nur mit Feld- und Waldluft beladen.

Unterstützt wurde die Wirkung von Luft und Sonne durch den Gebrauch von Levicowasser. Es wurden von den Kindern im ganzen 300 Flaschen starkes Levicowasser, mit Himbeersyrup gemischt, nach den Mahlzeiten genommen, verbraucht.

Die Nahrung war gut und reichlich. Morgens nach der Ankunft je '/, Liter Milch und Butterbrot, um 10 Uhr Brot mit Mus bestrichen. Um 21 Uhr eine gute Suppe, Braten (abwechselnd Rinds-, Kalbs-, Schweinebraten) oder Fische, Gemüse, Salat und Früchte, die so reichlich gegeben wurden und die Kinder so sättigten, dass das von vornherein vorgesehene Vesperbrot bald weggelassen werden musste und dafür um 6 Uhr ein um so reichlicheres aus Suppe oder Chokolade und Eierspeisen oder Schinken bestehendes Nachtessen gereicht wurde. Von den 14 731 Mark betragenden Betriebskosten der Waldschule fielen auf die Ernährung 10500 Mark, d. h. 70 Pfennige pro Tag und Kind. Verbraucht wurden, abgesehen von den Mehlspeisen und Leguminosen 498 Dutzend Eier, 10478 Liter Milch, ca. 2000 Kilo Fleisch und 270 Dutzend Würste.

Der Tag der Waldschulkinder verläuft folgendermassen:

Die Strassenbahn bringt früh morgens um 128 Uhr auf Kosten der Stadt von allen Seiten her die Kinder bis in die Nähe des Rebbergs, auf dessen Kamm die Schule gelegen ist. Gemeinsam marschieren sie hinauf. Gegen 8 Uhr gelangen sie oben an und sogleich gehts ans Frühstück. Nach dem Morgenessen ordnen sich die Kinder nach Klassen, ihrer vier mit je 25 Schülern. Während sich zwei Abteilungen zum Unterricht bereit machen, eilen die beiden andern unter Aufsicht des dritten Lehrers zum Spiel. Der Unterricht ist auf den Vormittag gelegt und dauert im ganzen vier halbe Stunden; er findet wenn nur irgend die Witterung oder der Unterrichtsgegenstand es gestatten, im Freien statt. Nach dem Mittagessen ist zwei Stunden Ruhe und Schlaf in den Liegestühlen befohlen. Nach Eintritt der kühleren Witterung erhielten die Kinder, um auch dann im Freien ruhen zu können, warme Lodenmäntel. Um 4 Uhr wird gebadet. Jedes Kind erhält jeden zweiten Tag ein Brausebad; einige Kinder, die Zeichen noch nicht ganz überstandener Rachitis boten, Salzbäder, nach dem Baden wieder

Spiel und Gartenarbeit, dann Nachtessen und um 7 Uhr Rückkehr in die Stadt.

Am Sonntag blieben die Kinder zu Hause, im Gegensatz zu Charlottenburg, wo die Waldschule auch am Sonntag nicht ruht, natürlich ohne Unterricht. Ich muss den Charlottenburger Modus für den richtigeren halten. In Mülhausen ist die Stadt- und Schulverwaltung für den Ausschluss der Soun und Feiertage vom Waldschulbetrieb, weil sie davon eine Stärkung des Familiengefühls erhofft, weil sie es verhüten will, dass die Eltern das Bewusstsein ihrer Verantwortlichkeit den Kindern gegenüber verlieren, und dass andererseits bei den Kindern die Gefühle kindlicher Liebe und Anhänglichkeit mangels Betätigung verschwinden.

Vom ärztlichen Standpunkt halte ich es für besser, die Kinder auch am Sonntage in die Waldschule zu schicken. Im Laufe von sechs Monaten bilden die Sonn- und Feiertage für sich schon nahezu einen Monat. In Wirklichkeit halten sich die Kinder also nur 5, nicht 6 Monate in der Waldschule auf. Wenn man weiter sich die Verwahrlosung, in welcher ein grosser Teil der Kinder die Waldschule betraten, vor Augen hält, so macht man sich seine Gedanken über den Familiensinn, der im Vaterhause dieser Unglücklichen herrscht. glücklichen herrscht. Mir liegt die Wahrscheinlichkeit näher, dass viele dieser Kinder den Sonntag mit ihren Eltern nicht zu Hause oder auf Spaziergängen, sondern in Wirtshäusern verbringen oder sich selbst überlassen auf der Strasse. Ich denke, einem Teil der Kinder ist es sicher von grösserem nicht nur körperlichen, sondern auch seelischen Nutzen, wenn sie auch am Sonntage den oft zweifelhaften Einflüssen des Vaterhauses und den unzweifelhaften der Strasse entzogen sind. Denjenigen Eltern aber, die ihre Liebe für ihre Kinder betätigen wollen, kann man die Gelegenheit geben, es Gelegenheit geben, es zu tun, indem man ihnen gestattet, den Sonntag Nachmittag mit ihren Kindern unter den Bäumen der Waldschule zu verleben. Dann haben auch die Eltern Nutzen für ihre eigene Gesundheit. Sie verbringen ihre Erholungszeit von schwerer Wochenarbeit mit ihren Kindern in der schönen Natur anstatt wie so oft beim Alkohol, und die Kinder geniessen die Wohltaten der Waldschule um zirka 30 Tage länger. Dass unter den jetzigen Umständen der Sonntag manches umwirft, was die Woche aufgebaut hat, ist mir unzweifelhaft. Regelmässig fehlten Kinder am Montag, und durchwandert man die Reihen der Anwesenden, so schaute manches Gesicht müde und

blass derein, das am Sonntag frisch und lustig in die Welt geblickt hatte.

Das Wetter war der Waldschule in diesem Jahre ausnehmend günstig. Die Sonne strahlte den ganzen Sommer durch in fast unveränderlicher Pracht, und wären Ende Oktober die von unserm Gemeinderat bewilligten Mittel nicht erschöpft gewesen, so hätte der Betrieb ungestört weiter fortgesetzt werden können.

Am 1. November kehrten die Kinder in ihre Stadtschule zurück.

Und nun die Resultate unseres ersten Waldschulsommers.

Ueber die pädagogischen berichte ich nach dem Urteil der Schulinspektion und des Lehrpersonals. Der pädagogische Wert des Unterrichts im Freien ist nicht weniger gering als der gesundheitliche. Für die Naturgeschichte leuchtet das von selbst ein. In den weitaus meisten Fällen wird der naturkundliche Stoff dem Bereich der Waldschule entnommen; genügendes Anschauungsmaterial

ist vorhanden. Die Kenntnisse der Natur und Liebe zu ihr wachsen auf diese Weise leichter und verankern sich fester in der Kindes

seele. Auch der geographische Unterricht erfährt eine reiche und rasche Förderung durch den Betrieb im Freien. Die meisten geographischen Begriffe, Hügel, Berg, Tal, Gebirge, Ebene, Abhang, Gipfel, Terasse u. s. w. können wenigstens bei uns mit unserer Fernsicht auf die Berge an Ort und Stelle verdeutlicht und eingeprägt werden. Aber auch die andern Unterrichtsfächer wurden gefördert. Man denke nur an die vielen dem Naturleben entnommenen Sprichwörter, Redensarten, Vergleiche, Bibelsprüche, an die zahlreichen Naturbilder und Naturschilderungen religiöser und weltlicher Art.

Dazu kommt die öftere Heranziehung des einzelnen Kindes zum Wort- und Gedankenaustausch in Folge der geringen Klassenfrequenz, der ständige Verkehr mit dem Lehrpersonal auch ausserhalb der Unterrichtsstunden, die vollständige Trennung von sittenverderbender Kameradschaft, der die Knabenwildheit und oft auch Rohheit hemmende Kontakt mit ihren sanfteren Schulkameradinnen.

So gelang es der Waldschule trotz der kurzen täglichen Unterrichtszeit nicht nur, ihre Zöglinge auf dem Niveau ihrer Stadtschulklassen zu erhalten, sondern in direkt erziehlicher und versittlichender Hinsicht die gewöhnliche Schule zu übertreffen,

Und meine ärztlichen Beobachtungen:

Gemäss der Dienstordnung hatte der Waldschularzt drei Mal in der Woche seinen Besuch zu machen. Durch die Lage meiner Wohnung in unmittelbarer Nähe der Waldschule war es mir möglich, vom ersten bis zum letzten Tage fast täglich die Kinder zu sehen und sie in ihren Fortschritten genau zu beobachten.

In welcher Verfassung sich die von mir im März ausgesuchten Kinder befanden, habe ich vorher geschildert. Als ich sie Anfangs Mai wiedersah, trat ihr übles Aussehen unter dem Einfluss der helleren Tagesbeleuchtung noch greller hervor; besonders aber die grosse Verwahrlosung einer ganzen Reihe Kinder, die von Schmutz und Ungeziefer geradezu starrten. Die ersten Tage gingen damit hin, in dieser Beziehung Ordnung zu schaffen. Dann folgte eine genaue körperliche Untersuchung sämtlicher Kinder. Die Auslese der Schulärzte war sehr sorgfältig gewesen. Es fand sich kein Kind mit Lungentuberkuhatten leichte Halsdrüsenschwellungen, die lose oder Skrophulose. Eine Anzahl Kinder jedoch sämtlich auf Gaumen- oder Rachenmandelhypertrophieen, deren ich 17 feststellte, zu beziehen waren. Ein über Leibschmerzen

klagendes, krank aussehendes älteres Mädchen schied schon am zweiten Tage aus und ging nach kurzer Zeit an Darmtuberkulose zu Grunde. Ein anderes Kind fing nach mehreren Wochen zu fiebern an. Dem Spital überwiesen, starb es nach zwei Monaten ebenfalls an Darmtuberkulose. Ein drittes Kind verzog aus Mülhausen. Ein viertes Kind musste einen Monat vor Schluss wegen plötzlich auftretender Epilepsie entlassen werden. Alle anderen konnten ohne erhebliche Störung die sechsmonatliche Waldschulperiode durchführen. An die Stelle der ausgeschiedenen Kinder traten drei andere, in Reserve gehaltene,

Im Anfang gab es täglich kleine Invalide. Alle die Anämie begleitenden Störungen traten in Erscheinung, Kopfschmerzen, Herzklopfen, Uebelkeiten, Erbrechen, Magenschmerzen, Apetitlosigkeit. Das Essen blieb oft stehen. Allmählich wurde das aber besser; eines der Uebel schwand nach dem anderen; nach 4-6 Wochen wurden die Klagen immer seltener, die Mahlzeiten verschwanden nicht nur rasch vom Tisch, sondern es wurde Wiederholung der Portionen verlangt, die stets bereitwilligst gegeben wurde. Dementsprechend wurde auch allmählich das äussere Ansehen der Kinder ein anderes; die Gewichtszunahme die in den ersten Wochen arg gezögert hatte, fing an, deutlich zu werden, die Wangen rundeten sich, die Farben

wurden frischer, die Augen lebhafter, die Bewegungen freier.

Es machte sich trotzdem nach einigen Wochen das Bedürfnis geltend, einigen Kinder die nach dem Morgenmarsch Zeichen von Erschöpfung boten, den weiten Hin- und Rückweg zu ersparen. Von der Spitalverwaltung wurden uns zu diesem Zwecke einige Betten des Kinderrekonvaleszentenheims zur Verfügung gestellt, in welchem von nun an solche Kinder übernachten konnten.

Bei einem Kinde, einem besonders zarten Mädchen, das den allerweitesten Weg unter sämtlichen Kindern zurückzulegen hatte, zeigten sich nach einigen Wochen ernste Störungen seitens des Herzens, Atemnot, Ohnmachten, objektiv Pulsirregularitäten und Herzgeräusche, die bei seinem Eintritt in die Waldschule nicht vorhanden waren. Unter fortdauernder Ruhe im Liegestuhl, und indem das Kind auch Nachts in der Waldschule verblieb, wurden die Beschwerden geringer, um aber stets am Montag zurückzukehren, wenn das Kind am. Sonntag nach Hause gelassen wurde. Erst als das Kind dann ständig oben blieb, verschwand allmählich die Herzinsuffizienz, auch die Geräusche, und die Gesamterholung nahm ihren regulären Fortgang.

Solche Fälle lehren, dass in Zukunft von vornherein die schwächsten unter den Kindern solonge auch Nachts in der Waldschule zurückzu halten sind, bis sie genügende Kraft für den langen täglichen Marsch erworben haben.

Infektiöse Erkrankungen zeigten sich unter der Kinderschar nahezu gar nicht. Nur einmal gab es, koinzidierend mit einer kleinen Epidemie in der Stadt, einige Fälle von Stomatitis aphthosa, die rasch heilten. Ein Ausbreiten des Leidens wurde trotz des engen Kontaktes der Kinder verhütet, sämtliche Messer, Löffel, Gabeln und Trinkbecher wurden durch einige Wochen hindurch vor dem jedesmaligen Gebrauche ausgekocht, und sämtliche Kinder mussten, bis jede Möglich keit einer Kontaktinfektion geschwunden war, mehrmals täglich Mundausspülungen Wasserstoffsuperoxydlösung machen. Die Trinkbecher sind übrigens numeriert, geradeso wie die Liegestühle und Mäntel, sodass, da jedes Kind nur seine eigene Gerätschaften benutzt, auch hierdurch die Gefahr von Krankheitsübertragungen gemindert ist.

mit

Der allgemein befriedigende Zustand befestigte sich immer mehr, aber doch sehr zögernd, sehr allmählich; es dauerte Monate, das Spätjahr kam heran, bis man von der Mehrzahl der Kinder den Eindruck hatte, alles erreicht zu haben, was zu erreichen war.

Diese Langsamkeit der Gesundung, die ja trotz allem, was geboten wurde, bei der Elendigkeit des ausgesuchten Kindermaterials von vornherein nicht wundernehmen konnte, zeigt wie unberechtigt die an hervorragender Stelle geäusserte Kritik des Reichstagsabgeordneten für Mülhausen an der Waldschule war; eine Kritik, die sich dahin aussprach, die Gründung der Waldschule sei eine überflüssige und unnötige Belastung der Steuerzahler, da man mit den Kindern ein rascheres und weniger kostspieliges Resultat durch 3-4 wöchentlichen Aufenthalt in Ferienkolonien erhalten hönnte.

Am Schlusse des Waldschuljahres waren es aber schliesslich nur noch neun Kinder, bei denen man das Empfinden hatte, dass eine Fortdauer der Kur ihnen nötig sei. Aber auch sie hatten nichts mehr von ihrem ursprünglichen jämmerlichen Zustand, nur fehlte ihnen das frische Aussehen und der sehr gute Ernährungszustand der meisten andern. Es ist vielleicht nicht ohne Bedeutung, dass diese neun Kinder fast durchweg Mandelkinder waren. Ich hatte oben erwähnt, dass ich bei der Anfangsuntersuchung siebzehn Kinder mit Gaumen- und Rachenmandelhypertrophien behaftet gefunden. Mit Absicht schlug ich zunächst eine operative Entfernung nicht vor. Ich hoffte, dass unter den überaus günstigen hygienischen- und Nahrungsbedingungen unserer Waldschule die Wucherungen zurückgehen würden. Das ist nicht geschehen. Ein Verschwinden oder auch nnr Kleinerwerden der Mandeln war bei keinem Kinde eingetreten.

Man wird also in Zukunft die Prognose der Waldschulkur dadurch noch günstiger zu machen versuchen müssen, dass man vor Beginn derselben die Kinder möglichst Mandelfrei macht.

Wachsbleiche, müde und schlaffe Kinder gab es in den letzten Wochen überhaupt nicht mehr; (mit Ausnahme eines Kindes welches Anfang Oktober an einer hartnäckigen Bronchitis erkrankte).

Wohin man blickte, lachende Gesichter, fröhliche Blicke, runde Backen mit gesündern Farben, kraftvolle Bewegungen beim Spielen und Laufen.

Und dieser prächtige Allgemeineindruck war mir noch wertvoller als die Gewichtzahlen, die ja gewöhnlich zu Hülfe genommen werden, um den Erfolg zu beweisen; die aber bei Kindern, und schon gar für den langen Zeitraum eines halben Jahres, doch nicht die Bedeutung haben, wie bei Erwachsenen. Denn in einem halben Jahre nimmt

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