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Menschheit gesetztes, und also im philosophischen Sinne ebenfalls positives Recht, und wegen dieser Qualität, d. h. wegen seiner Realität, ist es auch stets und überall ein praktisches Recht, d. h. es will und muss gelten, so wie es gehörig erkannt ist.

IX. Selbst das historische Recht will und kann nur darum (vernünftigerweise) gelten, dass es als conkrete (nationale) Entwickelung und Darstellung des allgemeinen vernünftigen, d. h. der menschlichen Natur gemässen Rechts erfasst wird, und erhält also eben nur durch diese seine Beziehung auf das Allgemeine seine Weihe und seine Rechtfertigung.

X. Eben hieraus, dass das historische Recht als individuelles seine Wurzel in dem allgemeinen Rechte hat, ergibt sich aber die unmittelbare praktische Anwendbarkeit dieses letzteren überall da von selbst, wo und so weit noch keine conkrete historische Rechtsbildung stattgefunden hat 13).

XI. Das Erkennen und Aussprechen dessen, was als allgemeines, d. h. als vernünftiges Recht zu gelten hat, geschieht aber in concreto durch den Richter, und dieser ist (da ihn auch Gesetz und Herkommen nur bei dem Aufsuchen des Vernünftigen unterstützen sollen und selbst nichts anderes sein wollen, als erkennbare Formen des Vernünftigen) nicht nur befugt, sondern auch, und zwar nach ausdrücklicher Vorschrift der gemeinen positiven Rechtsquellen selbst, verpflichtet, überall nach dem allgemeinen, d. h. dem vernünftigen und dem Staats- und Rechtsbegriffe entsprechenden Rechte zu erkennen, wo das historisch positive Recht schweigt 14).

XII. Auch kann Niemand vernünftiger Weise mehr verlangen, und Niemand wird auch jemals mehreres in der Praxis

3) Hiermit ist auch die Regel für die Anwendung des allgemeinen Rechts ausgesprochen. Sehr unbestimmt äussert sich darüber v. Mohl, Fürtemberg. Staatsrecht, 2. Aufl., I., S. 88. Wo einmal die Thatsache historisch feststeht, dass ein Staat ist, muss auch alles für praktisch gelten, was sich als logische Folgerung aus diesem Begriffe ergibt, so weit nicht die historische Rechtsbildung erweislich modificirend oder beschränkend eintritt.

44) Sehr schön bestimmt der Code Napoléon, art. 4.,,Le juge, qui refusera de juger, sous prétexte du silence, de l'obscurité ou de l'insuffisance de la loi, pourra être poursuivi comme coupable de dénie de justice.“

erreichen, als ein der Bildungsstufe, dem Geiste und der Philosophie seiner Zeit, d. h. dem, was dieselbe für vernünftig und darum für allgemein giltig erkennt, angemessenes Urtheil, und man dürfte sich glücklich schätzen, wenn dies nur durchgängig und sicher zu erreichen wäre.

XIII. Diejenigen, welche im Staate kein anderes als nur das positive Recht gelten lassen wollen, sollten doch nicht übersehen, dass die Geltung des natürlichen oder VernunftRechts sogar ausdrücklich in den gemeinen positiven Rechten selbst anerkannt ist 15). Uebrigens ist der subsidiäre Gebrauch des natürlichen Staatsrechts auch von den deutschen Publicisten jederzeit für zulässig und unentbehrlich erachtet worden 16).

§. 75.

Von der Bedeutung des Besitzes und der Verjährung im Staatsrechte').

I. Da nur dasjenige als eine Rechtsquelle anerkannt werden kann, worin sich Rechtsnormen (Regeln, jus in sensu objectivo) aufgestellt finden, so ergibt sich, dass Besitz und Verjährung nicht unter die Rechtsquellen des Staatsrechts zu zählen 2), sondern nur als Erwerbsarten, d. h.

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15) Cap. 11. X. de consuetudine (1, 4): „Nemo sane mentis (non) intelligit, naturali juri, cujus transgressio periculum salutis inducit, quacunque consuetudine, quae dicenda est verius in hac parte corruptela, posse aliquatenus derogari.‘ Auch das römische Recht machte schon das ,,rationabile" zum Prüfstein der Verbindlichkeit einer Gewohnheit. L. 2 Cod. quae sit longa consuetudo (9, 53). Dasselbe thun die mittelalterlichen deutschen Rechtsbücher. Siehe meine deutsch. Rechtsgesch. 3. Aufl. (1858) Thl. II. §. 21. Nr. VII; §. 28. Nr. IX.

16) Vergl. Gönner, deutsch. Staatsr. §. 42. Klüber, öffentl. Recht §. 66. H. A. Zachariä, deutsches Staatsrecht, 2. Aufl. §. 4. Sehr entschieden spricht sich aus der von dem Freih. v. Wangenheim in der XV. Sitzung vom 8. Juni 1823 in der Bundesversammlung erstattete Commissionsbericht, Protokoll §. 98. S. 255. 257.

1) J. Held, System des Verf. - Rechts (1856) Bd. I. S. 46 flg. Bluntschli, allgem. Staatsr. (2. Aufl.) 1857. Bd. I. S. 19. Bd. II. S. 58. 2) Nicht ganz bestimmt erklärte sich darüber Klüber, öffentl. Recht, §. 68. 77.

als Thatsachen zu betrachten sind, welche unter Umständen politische Befugnisse in concreto (jus in sensu subjectivo) begründen können. Um aber eine solche praktische Giltigkeit zu haben, setzen also Besitz und Verjährung selbst eine Rechtsquelle voraus, wodurch ihre Rechtswirkung anerkannt ist.

II. Hinsichtlich des Besitzstandes ist diese Rechtsquelle in der Vernunft selbst (der Natur der Sache) zu erkennen, da der Begriff des Besitzes ein universeller, d. h. für alle Rechtstheile gleichmässig giltiger Begriff ist. Es hat aber der Besitz in staatsrechtlichen Verhältnissen nicht nur wie im Privatrechte rechtliche Wirkungen, so dass er wenigstens provisorischen Schutz begründet 3), sondern er wirkt in den politischen Verhältnissen sehr häufig noch in weit höherem Masse als Recht oder Rechtstitel selbst, nämlich überall da, wo er sich als dauernder Zustand behauptet, weil und insoweit in der Politik die Kritik eines thatsächlichen Zustandes durch eine richterliche Instanz unmöglich ist, und also die Thatsache selbst als unanfechtbar an die Stelle des Rechts tritt und das höchste praktisch Geltende ist 4). Die grosse Bedeutung eines unvordenklichen Besitzstandes für staatsrechtliche Verhältnisse ergibt sich hiernach von selbst, weil hier der Zustand nicht nur als ein dauernder, sondern als ein solcher erscheint, dessen Anfang sogar nicht mehr als ein unrechtmässiger (illegitimer) im Vergleiche mit einem etwa noch früheren Zustande nachgewiesen werden kann und also eine unzerstörliche Vermuthung seiner Rechtlichkeit (praesumtio tituli) in sich trägt.

III. Die Verjährung oder Ersitzung dagegen (wozu der unvordenkliche Besitzstand nicht zu rechnen ist) 5) kann als ein Institut des blos positiven Rechts überhaupt nur in seltenen Fällen im öffentlichen Rechte als Erwerbsart von

3) Dies spricht positiv aus: die Wiener Schlussakte vom 15. Mai 1820, art. 19.

4) Hierauf beruht das politische System unserer Zeit, welches einerseits den Schutz des status quo proclamirt, andererseits keinem fait accompli seine Anerkennung verweigert, wie z. B. im Jahre 1844 das Benehmen Russlands bei der Einführung der griechischen Constitution gezeigt hat.

5) Vergl. v. Savigny, System des röm. Rechts, IV., S. 528. Zöpfl, Staatsrecht. 5. Aufl. I.

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Rechten in Betracht kommen, theils weil es in den meisten politischen Verhältnissen an Gesetzen fehlt, welche eine Verjährung zulassen, resp. eine Verjährungszeit bestimmen), theils und hauptsächlich aber, weil in den meisten Fällen der Besitz selbst im öffentlichen Rechte als genügende Erwerbsart für die Zuständigkeit politischer Befugnisse gilt, und sehr häufig die Stelle eines titulus zugleich vertritt 7).

IV. Wo aber nur solche Rechte des Staates in Frage stehen, die an sich nur Privatrechte sind, wie Vermögensrechte des Fiskus, lebensrechtliche Befugnisse u. dergl., kann allerdings eine Verjährung oder Ersitzung nach civilistischen Grundsätzen Platz greifen.

Literatur des gemeinen deutschen Staatsrechts.

I. Literärische Uebersichten enthalten:

J. J. Moser, bibliotheca jur. publ. III. Thl. 1729-1734; desselb. neueste Gesch. der deutschen Staatsrechtslehre etc. 1770; und desselb. neueste Bibliothek des allg. deutsch. Staatsr. 1771. Besonders: Pütter. Lit. des deutsch. Staatsr. III. Thl. 1776-1783; (als Fortsetzung) J. L. Klüber, neue Lit. des deutsch. Staatsr. 1791; und J. Th. Roth, Beitr. zum deutsch. Staatsr. etc. 1791. F. S. Ersch, Handb. der Lit. d. Jurispr. u. Politik seit d. Mitte des 18. Jahrh. 2. Aufl. Leipz. 1823. H. Th. Schletter, Handbuch der jurist. u. staatswissenschaftl. Lit. (die 4. Lief.) 1841. — R. v. Mohl, Geschichte u. Literatur der Staatswissenschaft (siehe oben S. 40) im II. Bande, Tübingen 1856.

6) Bluntschli, a. a. O., spricht von einer staatlichen Verjährung, die dann eintreten soll, wenn die Fortsetzung des Kampfes um die Herrschaft unmöglich geworden ist, oder eine völkerrechtliche Anerkennung dazu gekommen ist u. s. W. Allerdings kann durch solche Thatsachen ein politisches Recht so unwirksam werden, als wie durch eine civilistische Verjährung: aber demungeachtet fehlt bei ihnen gerade das charakteristische Moment aller Verjährung und Ersitzung, die bestimmte Verjährungszeit.

7) Der Grund dieser hohen Bedeutung des blossen Besitzes im Staatsrechte liegt darin, dass der Staat seiner Idee nach ein Zustand der Geltung des Rechts durch souveraine Gewalt ist, daher umgekehrt in der Praxis letztere als geltendes Recht erscheint.

II. Quellen-Sammlungen und Commentare über die Quellen. A) Für die älteste Zeit gehören hierher die Sammlungen der Leges Barbarorum u. der Capitularien der fränkisch. Könige (Herold, Lindenbrog, Baluz, Heineccius s. Georgisch, Canciani, Walter u. A.); besonders Pertz, Monum. Germ. Legg. T. I. u. II. 1825. 1837. Der 1. Band enthält die Constitutionen der fränkischen Könige, der 2. Band enthält die Constitutionen d. deutsch. Könige u. Kaiser bis 1313 (Heinr. VII.). – Vgl. J. F. Böhmer, die Reichsgesetze v. 900-1400 nachgewiesen. Frkf. 1832. Die ersten Versuche einer Zusammenstellung staatsrechtlicher Grundsätze und Auszüge aus Landfrieden und Reichsabschieden finden sich im Sachsenspiegel, Schwabenspiegel und den verwandten Rechtsbüchern des Mittelalters.

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B) Für die mittlere und neuere Zeit: Goldast (Melchior von Heimsfeld) Reichssatzungen, Frkf. 1712; Desselben: Collectio const. imp. Tom. IV. (2. Ausg.) Frkf. 1713. - Neue und vollständigere Sammlung der Reichsabschiede (sog. Senckenberg'sche oder Koch'sche Sammlung), Frkf. a. M. 1747 u. f. Eggersdorf, Sammlung der Reichsschlüsse (von 1663-1776) Tom. IV. 1740 ff. C. F. Gerstlacher, Corp. jur. Germ. publ. et priv. (in syst. Ordnung), 4 Bde. 1783 u. f.; Desselb. Handbuch der deutsch. Reichsgesetze, XI Bde. 1786 u. f. J. J. Schmauss, Corp. jur. publ. acad. 1722. (zuletzt) 1794. G. Emminghaus, Corp. jur. germ. tam publ. quam priv. acad. 1824 (2. Aufl. 1844). A. Michaelis, Corp. jur. publ. acad. 1825. Oertel, die Staatsgrundgesetze des deutsch. Reichs, zusammengestellt, eingeleitet und historisch erklärt. Leipz. 1841. Ueber ältere Sammlungen von Hortleder, Lehmann u. A., vergl. Pütter, Lit. I. S. 178 u. f. Aktenstücke von 1800 an finden sich in: Quellen des öffentl. Rechts der deutsch. Bundesstaaten. Carlsruhe (sog. Carlsruher Sammlung) III Bde. 1821. 1833. Von den Sammlungen der Staatsakten sind hier besonders zu erwähnen: J. C. Lünig's deutsch. Reichsarchiv. 24 Bde. 1710-1722. fol. Anton Faber's (Chph. Leonh. Leucht) europ. Staatskanzlei. 115 Bde. 1697-1760 (9 Bde. Hauptregister, 1761-1772). Dessen neue europ. Staatskanzlei, 55 Bde. 1661-1702. J. A. Reuss, deutsch. Staatskanzlei, 55 Bde. 1783-1803. Theatrum Europaeum (von verschiedenen Herausgebern), 19 Bde. 1617-1712. J. J. Moser, deutsch. Staatsarchiv, 13 Bde. 1751-1757. Dessen Sammlung der neuesten Deductionen, 8 Bde. 1752. 1754. Ueber andere ähnliche Sammlungen

vergl. Pütter, Lit. I. S. 305 u. f. C) Für die Zeit des Rheinbundes: Winkopp, der rheinische Bund (Zeitschrift), 69 Hefte in 23 Bänden u. 1 Suppl.-Heft. 1806-1814. A. F. W. Crome und C. Jaub, Germanien, 4 Bde. 1807-1811; und von denselb. Germanien und Europa, 1812. Ueber die Lit. des öffentlichen Rechts des Rheinbundes s. auch v. Kamptz, Beitr. z. Staats- und Völkerrecht, Bd. I; und Klüber, öffentl. Recht des deutsch. Bundes, §. 24. Note 2.

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