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Siebenter Abschnitt.

Das Staatsrecht zur Zeit des deutschen Reichs1).

§. 76.

Vom deutschen Reiche überhaupt 2).

I. Deutschland erscheint als ein besonderes Königreich (regnum Germaniae) seit der Theilung des fränkischen Reichs unter die Söhne des Kaisers Ludwig des Frommen durch den Vertrag von Verdun im Jahre 843. Die vollständige und bleibende Lossagung Deutschlands von dem Frankenreiche geschah aber erst durch die Absetzung Karls des Dicken im Jahre 888. Von hier an war Deutschland ein selbstständiges Königreich.

II. Von Kaiser Otto I. an rechnete man die Errichtung einer bleibenden Verbindung Deutschlands mit dem römischen Kaiserthume (imperium Romanum) 3). Seitdem behauptete die deutsche Nation, dass ihr König von Rechtswegen römischer Kaiser (imperator Romanorum), sowie auch

1) Da ich hinsichtlich des Reichsstaatsrechts im Allgemeinen auf die Darstellung in meiner deutschen Rechtsgeschichte 3. Aufl. 1858. Thl. II. verweisen kann, so gebe ich hier nur einen kurzen Abriss des Reichsstaatsrechts, so weit ein solcher zum Verständnisse des praktischen deutschen Staatsrechts nöthig ist.

*) Vergl. die oben S. 150 flg. bei der Literatur angegebenen Lehrbücher von Pütter, Leist und Gönner, und das Handbuch von Häberlin, sodann Schmid, Lehrbuch (1821) §. 124 flg. Maurenbrecher, Staatsr. §. 62 flg. — H. A. Zachariä, Staatsr. 2. Aufl. §. 29. — Abrisse des Reichsstaatsrechts haben auch aufgenommen: J. Held, System des Verfassungsrechts der monarchischen Staaten Deutschlands, Bd. I. (Würzburg 1856) S. 415 flg. O. Mejer, Einleitung in das deutsche Staatsrecht, Rostock 1861. S. 37 flg.

3) Es war dies eine Realunion in dem oben §. 65 angegebenen Sinne. Vergl. die Sanctio inter Ottonem M. atque Romanos a. 964 (Papst Leo VIII.); 8. meine deutsche Rechtsgesch. 3. Aufl. 1858. Th. II. §. 46. Note 3.

König von der Lombardei (dem sog. regnum Italiae) sei; doch pflegten in der älteren Zeit (vor K. Maximilian I.) die deutschen Könige den römischen Kaisertitel nicht zu führen, bevor sie in Rom wirklich gekrönt worden waren 1). Das Ganze nannte man,,heiliges römisches Reich deutscher Nation" (sacrum imperium Romanorum Nationis Germaniae).

III. Das Wort,, Reich" bezeichnete bald das Landgebiet, bald die gesammte vereinigte Reichsgewalt (Kaiser und Reichsstände), bald (im engeren Sinne) die Gesammtheit der Reichsstände im Gegensatze zum Kaiser.

IV. Aus der Verbindung des Königreichs Germanien mit dem römischen Kaiserthume leitete man für den römischdeutschen Kaiser, als Nachfolger der alten römischen Imperatoren, den Vorrang vor allen übrigen Monarchen Europas 3), die Advocatie über den päpstlichen Stuhl und die christliche Kirche), sowie manche andere Ehren-Vorrechte ab7).

§. 77.

Regierungsform des deutschen Reichs1).

I. Das deutsche Reich hatte sich im Laufe der Zeit entschieden als eine durch Reichsstände beschränkte Wahl

4) Ausdrücklich sagt dies der Sachsensp. III. 52. §. 1. (Siehe meine deutsche Rechtsgesch. 3. Aufl. 1858. Thl. II. §. 46. Note 4). Pütter, instit. §. 20 flg. Siehe unten §. 83. Note 2.

5) In den letzten Zeiten des Reichs erkannte der Kaiser den gleichen Rang der französischen Republik an (im Frieden von Campoformio, von 1797, art. 23); schon früher im Passarowitzer Frieden von 1718 hatte er den gleichen Rang des Sultans anerkannt. Leist, deutsches Staatsr. (2. Aufl.) §. 16. Not. 8.

6) Wahlkap. art. 1. §. 1; wegen des hierdurch dem römischen Stuhl zugesagten Schutzes enthält aber die Wahlkap. art. 1. §. 10 eine ausdrückliche Verwahrung der Protestanten und Ausbedingung eines gleichen Schutzes.

haupt, 1766.

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7) Z. B. das Recht, Königstitel zu verleihen u. s. w. Siehe unten §. 83. 1) J. J. Moser, von Deutschland und dessen Staatsverfassung überPütter, inst. §. 23 flg. u. dessen Beitr. Thl. I. Nr. II. III. Gönner, Staatsr. §. 3. Leist, Staatsr. (2. Aufl.) §. 16 ff. Maurenbrecher, Staatsr. §. 71. H. A. Zachariä, Staatsr. (2. Aufl.) §. 29. C. W. v. Lancizolle, Uebersicht der deutschen Reichsverhält

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monarchie, und gleichzeitig als ein aus vielen Partikularstaaten (Territoria) zusammengesetzter Staatskörper (als

Staaten staat) ausgebildet.

II. Hiernach ergibt sich von selbst, dass die Reichsregierung auf einem zweifachen Princip beruhte: nämlich 1) auf dem Princip oder der sog. Maxime der Reichseinheit und 2) auf der Maxime der Staatentrennung und partikulären Selbstständigkeit.

III. Die Reichsgewalt, d. h. das Herrscherrecht im deutschen Gesammtstaate, dem sog. Reichsstaate, stand unstreitig dem Kaiser zu: er galt allein im Reichsstaate als souverainer Monarch, und diese seine Souverainetät äusserte sich vorzugsweise in seinem Rechte der Sanktion der Reichsgesetze und der ausschliesslichen Leitung der auswärtigen Angelegenheiten des Reichs.

IV. So hoch aber der Kaiser als Herrscher über Fürsten und andere regierende Herren gestellt schien, so war er doch an Gewalt der eingeschränkteste Monarch der Christenheit 2). Daher erklärt sich, dass in den letzten Zeiten die Publicisten meistens das Reich, oder den Reichsstaat, selbst als das eigentliche Subjekt der Regierungsgewalt betrachteten 3). Die königliche Gewalt bestand demnach in dem Rechte des Kaisers, die Rechte des Reichs in verfassungsmässiger Weise auszuüben1). Es hatte sich also eine Lehre von einer Art von Staatssouverainetät gebildet, welche in der Eigenschaft des Reichs als Wahlreich und dem Dasein einer mächtigen reichsständischen Körperschaft wurzelte, ohne im Wesentlichen irgend etwas

Meine

nisse, Berlin 1830. Perthes, de sententiis jur. publ. peritorum, quas habuerint de imperii Germ. forma atque statu, Bonn 1844. deutsche Rechtsgesch. 3. Aufl. Thl. II. §. 44 ff.

*) Ausdrücklich sagte dies schon Gönner, Staatsr. §. 99. 3) Gönner, Staatsr. §. 94. VIII.

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4) Gönner, Staatsr. §. 95. Die Wahlkap. art. 1. §. 1 bezeichnet die Regierungsgewalt des Kaisers als König von Germanien : Unsere königliche Gewalt, Amt und Regierung." Jedoch war man allgemein einverstanden, dass der Kaiser (König) weder als ein Mandatar noch als ein Beamter des Reichs zu betrachten sei, sondern als wahrer und alleiniger souverainer Monarch in Deutschland. Gönner, Staatsr. §. 93.

anderes auszudrücken, als dass der Kaiser die Reichsregierung habe 3).

V. Da nur allein der Kaiser als Souverain betrachtet wurde, so waren auch sämmtliche Reichsfürsten und andere Reichsstände der Theorie nach seine Unterthanen, obgleich man diesen Ausdruck gern vermied, und gewöhnlich nur von ihrer Subordination sprach ").

VI. Selbst der Kaiser galt als Reichsfürst hinsichtlich seiner Erblande als Unterthan und beziehungsweise als Lehensmann des Reichs 7).

VII. Die Reichsstände hatten ihres Antheiles an der Regierung ungeachtet unstreitig keinen Antheil an der Souverainetät des Kaisers.

VIII. Die Territorien waren, mit Ausnahme der freien Reichsstädte und der wenigen Reichsdörfer, meistens (durch Landstände) beschränkte Einherrschaften.

IX. Aus der Maxime der Reichseinheit leitete man ab): 1) das Oberaufsichtsrecht der Reichsgewalt über die Territorialregierungen überhaupt; 2) das Recht der Reichsgewalt, direkt gegen alle mittelbaren und unmittelbaren Reichs

5) Pütter, inst. §. 129:,,Immo pro indole monarchiae electitiae proprietas jurium, quae vel a solo Caesare exercentur, penus imperium est etc. Schon der Sachsenspiegel III, 52. §. 1 spricht von „des rikes gewalt", die der Kaiser habe. Desgleichen gelobte der Kaiser in dem Eide, den er bei seiner Thronbesteigung zu schwören hatte (Sachsenspiegel III, 54. §. 2),, dat he it rike vorsta an sime rechte." Meine deutsche Rechtsgesch. 3. Aufl. 1858. Thl. II. §. 46. — Es ist dies unverkennbar ein Ausdruck, welcher der Idee der Repräsentation des Staates durch den Souverain (siehe oben §. 54) entspricht. Dasselbe suchte man in Bezug auf die Reichslehen durch die Bezeichnung des Kaisers als Prodominus auszudrücken. Die Sitte, einen Regierungseid bei der Krönung zu schwören, wurde bis zur Auflösung des Reichs beibehalten. Leist, Staatsrecht §. 65.

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6) Leist, Staatsr. 2. Aufl. §. 16. III. Siehe besonders Pütter. Beitr. I. S. 58 ff. Vergl. Gönner, Staatsr. §. 52; meine deutsche Rechtsgesch. 1858. Th. II. §. 77.

7) Gönner, Staatsr, §. 52. Der Kaiser musste daher seine eigenen Reichslehen (durch einen Stellvertreter) von sich selbst empfangen (Wahlkap. art. X. §. 11); und von seinen Erblanden zu den Reichslasten beitragen. Wahlkap. art. V. §. 6.

8) Gönner, Staatsr. §. 89.

angehörigen fiskalisch wegen Verletzung ihrer Pflichten gegen das Reich einzuschreiten, wie z. B. wegen Landfriedensbruchs; 3) die Unstatthaftigkeit aller gewalthätigen Selbsthilfe unter den Reichsgliedern 9); 4) den Grundsatz, dass absolut gebietenden oder verbietenden Reichsgesetzen in keinem Territorium durch die Landesgesetzgebung derogirt werden könne 10). X. Das Princip der Reichseinheit hatte aber sehr durch die steigende Bedeutung des Partikularismus gelitten, welchen anfänglich die Kaiser selbst durch Verleihung von exorbitanten Privilegien und Exemtionen von den Reichsgerichten nährten 11): insbesondere aber litt die Reichseinheit durch die endliche Entwickelung der Landeshoheit zu einer eigenthümlichen Art von untergeordneter Staatsgewalt 12), und durch die im westphälischen Frieden den Reichsständen ertheilte Bewilligung des Bündnissrechts mit auswärtigen Staaten 13).

9) Ausdrücklich bestimmt dies: Instr. Pac. Osnabr. art. XVII. §. 7. (Siehe unten §. 104. Note 19). Nur zur Erwehrung gegen den Missbrauch einer verliehenen Zollgerechtigkeit, und gegen einseitige, ohne Einwilligung der Kurfürsten geschehene kaiserliche Verleihung derselben, gestattete ausdrücklich die WK. a. VIII. §. 16 u. 20 den Reichsständen und der freien Reichsritterschaft die Selbsthilfe, so wie auch die Selbstmanutenenz bei der Landeshoheit", WK. art. XV. §. 8. 10) Pütter, inst. §. 225.

1) Man vergl. z. B. das berühmte Privilegium für Oesterreich vom Jahre 1156 bei Pertz, Monum. Legg. Tom. II. p. 99, welches, wenn es auch unächt sein sollte, doch zeigt, welche Privilegien die Landesherren schon im Mittelalter anstrebten. Vergl. meine deutsche Rechtsgesch. 3. Aufl. 1858. Thl. II, §. 53. VIII. Note 15. S. 490. 491; u. meine Alterthumer des deutschen Reichs und Rechts. Heidelb. u. Leipz. 1860. Bd. I. §. 95. — In der Wahlkap. art. X. §. 52 versprach der Kaiser:,,(Wollen) Uns auch alles dessen, was etwa zu Exemtion und Abreissung vom Reich Ursach geben könnte, insonderheit der exorbitirenden Privilegien und Immunitäten enthalten." - Ebendaselbst, art. XVIII. wurden aber doch die bereits ertheilten Exemtionen von der Gerichtsbarkeit der Reichsgerichte bestätigt.

12) Leist, Staatsr. 2. Aufl. §. 16. I. a. E..

13) Instr. Pac. Osnabr. art. VIII. §. 2. Cum primis vero jus faciendi inter se et cum exteris foedera, pro sua cujusque conservatione ac securitate, singulis statibus perpetuo liberum esto, ita tamen, ne ejusmodi foedera sint contra imperatorem et imperium et pacem ejus publicam, vel hanc inprimis transactionem", etc.

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