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X. Wenn gleich kein eigentliches Grundgesetz, so war doch für die politische Gestaltung und die rechtlichen Zustände in Deutschland kurz vor der Auflösung des Reichs von grösster und noch jetzt vielfach praktischer Bedeutung der Reichsdeputations hauptschluss v. 25. Febr. 180317). Er war bestimmt zur Ausführung des Lüneviller Friedens v. 1801, durch welchen das ganze linke Rheinufer an Frankreich abgetreten, der Thalweg des Rheins als die Gränze zwischen Frankreich und Deutschland festgesetzt, und das Reich verpflichtet worden war, die weltlichen Landesherren, welche ihre Gebiete dadurch verloren hatten, aus sich selbst zu entschädigen. Diese Entschädigungen zu bestimmen, war der Zweck dieses Reichsdeputations hauptschlusses. Als Mittel diente die allgemeine Säkularisation der geistlichen Territorien und die Mediatisirung der Mehrzahl der Reichsstädte 18). Zugleich wurden mancherlei Pensionen und Rentenbezüge festgesetzt 19) und Bestimmungen über die Rheinzölle getroffen. Den Entschädigungsländern wurde der Fortbestand ihrer landständischen Verfassungen 20)

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V. Senckenberg, Geschichte des westphäl. Friedens, Frkf. 1805. V. Woltmann, Geschichte des westphäl. Friedens, 1808. Klüber, völkerrechtl. Beweise für die fortwährende Giltigkeit des westphäl. Friedens, Erlangen 1841. Meine deutsche Rechtsgesch. 3. Aufl. 1858. Thl. II. §. 65. 7) Abgedruckt u. A. bei G. v. Meyer, Corp. jur. Conf. Germ. 3. Aufl. 1858. Thl. I. S. 7. A. Ch. Gaspari, der Deputationsrecess mit Erläuterungen, Hamburg 1803. 2 Thle. Protokoll der ausserordentlichen Reichsdeputation zu Regensburg, Regensburg 1803 (2 Bde., mit 4 Bänden Beilagen). Cämmerer, Hauptschluss der ausserordentl. Reichsdeputation, Regensburg 1804. v. Hoff, das deutsche Reich vor der französischen Revolution und nach dem Frieden von Lüneville, II Thle. Gotha 1801. 1805. - v. Lancizolle, Uebersicht der deutschen Reichsstandschafts- und Territorialverhältnisse etc., Berlin 1830. Dieser Reichsdeputationshauptschluss wurde durch Reichsgutachten vom 24. März und darch kaiserliches Ratificationsdecret vom 28. April 1803 zum Reichsgesetz erhoben. Er war besonders unter Einwirkung der vermittelnden Mächte, Frankreich und Russland, zu Stande gekommen. Hinsichtlich der ersten 47 Paragraphen gilt der französische Text als Original: es stimmt jedoch der deutsche Text damit vollkommen überein.

1) Meine deutsche Rechtsgesch. 3. Aufl. 1858. Thl. II. §. 66. G. Victor Schmid, die säkularisirten Bisthümer, Frkf. a. M. 1860. 19) R.-D.-H.-S. art. 36. 51 flg.

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2) R.-D.-H.-S. art. 60. Siehe unten §. 104. Note 21.

und den christlichen Confessionen ihr bisheriger Rechtszustand und der Besitz und ungestörte Genuss ihres Kirchen- und Schulvermögens garantirt, den Landesherren aber die Aufnahme auch anderer Confessionen und die Verleihung bürgerlicher Rechte an dieselben freigestellt 21).

§. 79.

Das Reichsgebiet und seine Eintheilungen 1).

I. Bei dem deutschen Reiche unterschied man das Reichsgebiet oder eigentliche Reichsländer und Nebenländer des deutschen Reichs. Zu den letzteren gehörten Lothringen, Burgund und die Lombardei. Die völlige Lostrennung der Schweiz von Deutschland war im westphälischen Frieden anerkannt worden 2). Böhmen galt stets als eigentliches Reichsland (als ein Kurstaat), wenn gleich im Uebrigen als ein selbstständiges Königreich. Polen, Preussen, Liefland, Ungarn und Jerusalem waren stets nur Prätensionen.

II. Das deutsche Reich, mit Ausnahme von Böhmen, hatte eine Kreis eintheilung, und zwar seit 1500 sechs Kreise (sex pristini circuli), nämlich: fränkischer, bayerischer, schwäbischer, niedersächsischer, westphälischer und oberrheinischer Kreis, welche die kleineren Staaten ausser den Kurfürstenthümern begriffen. Seit 1512 bestanden zehn Kreise, indem durch den Beitritt des Kaisers für seine Erblande und der Kurfürsten vier neue Kreise, der österreichische, kurrheinische,

24) R.-D.-H.-S. §. 63 und §. 65. Siehe unten §. 104. Note 21.
1) Pütter, inst. §. 12 seq. - Leist, Lehrb. §. 14 flg. Gönner,

deutsch. Staatsr. §. 44 flg.
v. Hoff, das deutsche Reich
1830 (s. §. 78. Note 17.).
Thl. II. §. 57.

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Maurenbrecher, Staatsr. §. 64 flg.

1801, 1805; und v. Lancizolle, Uebersicht Meine deutsche Rechtsgesch. 3. Aufl. 1858.

2) J. P. O. art. VI. Cum item Caesarea Majestas ... singulari decreto die XIV. Mensis Maji anno proxime praeterito (1647) declaraverit, praedictam civitatem Basileam, ceterosque Helvetiorum cantones in possessione vel quasi plenae libertatis et Exemptionis ab imperio esse, ac nullatenus ejusdem Imperii dicasteriis et judiciis subjectos; placuit hoc idem publicae huic Pacificationis Conventioni inserere, ratumque et firmum manere" etc.

kursächsische und burgundische Kreis hinzukamen 3). Der Zweck der Kreisverbindung war hauptsächlich Erhaltung des Landfriedens und Aufstellung einer exekutiven Macht zur Vollziehung der Reichsschlüsse und reichsgerichtlichen Urtheile, unter einem Fürsten als Kreisobersten, überhaupt collegialische Berathung gemeinsamer Angelegenheiten (seit 1555) unter der Leitung zweier kreisausschreibenden Fürsten. Die Versammlungen hiessen Kreistage, die Mitglieder Kreisstände; als solche konnten auch solche Landesherren aufgenommen werden, welche nicht zugleich Reichsstände waren 1).

III. Für die Dauer eines Interregnums, in welchem eine Zwischenregierung (Reichsvicariat) nothwendig wurde, war das deutsche Reich in zwei Reichsvicariatsbezirke getheilt, von denen der eine die Länder des sächsischen Rechts, der andere die übrigen deutschen Länder umfasste 5). IV. Die reichsritterschaftlichen Gebiete waren insbesondere in drei Ritterkreise (fränkischer, schwäbischer und rheinischer Kreis) und jeder derselben in Kantone oder Orte eingetheilt ®).

V. Dem Titel nach unterschied man a) Fürstenthümer (principatus), mit den Unterarten Kurfürstenthümer, Herzogthümer, Fürstenthümer schlechthin, Pfalz-, Mark- und Landgrafschaften, und gefürstete Grafschaften; b) (einfache) Reichsgrafschaften; c) freie Herrschaften (dynastiae, dominia); d) Praelaturae, d. h. geistliche Territorien 7); e) freie Reichs

3) Vergl. die Regimentsordnung von 1500, §. 5 flg., bei Schmauss, 8. 62. Ordnung der zehn Kreise, von 1512, ebendas. §. 67; und die Executionsordnung von 1555, §. 56 flg.; ebendas. §. 175 flg.

4) Treuer, vom wahren Ursprung der Reichskreise, 1722. (Hofmann) Versuch einer staatsrechtl. Theorie der Reichskreise, II Bde. 1788. - Pütter, inst. §. 106; dessen hist. Entwickelung I. S. 314. 452. Leist, Staatsr. §. 94.

Gönner, Staatsr. §. 220.

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Schmid, Staatsr. 143. Moser, von Deutschland, §. 275; dessen deutsches Staatsr. Bd 26. 27. 32; und dessen neues Staatsr. Bd. 10. Maurenbrecher, Staatsr. §. 66. H. A. Zachariä, deutsch. Staatsr. §. 30. a. E; §. 31. Meine deutsche Rechtsgesch. 3. Aufl. Thl. II. §. 71. 5) Siehe unten §. 89.

Nr. VI.; §. 33.

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Siehe unten §. 105.

Die Literatur über das Staatsrecht der geistlichen Fürstenthümer, siehe oben S. 151.

städte (civitates imperii)) und f) freie Reichsdörfer (pagi imperii)").

VI. Dem Rechtstitel nach wurden die Territorien als Reichs-Allodien oder als Lehen besessen 10). Auf den ersteren Charakter deutet insbesondere die Bezeichnung als freie Herrschaften und freie Grafschaften (Freigrafschaften) hin 11). Die lehnbaren Territorien waren entweder Reichslehen oder Landeslehen, je nachdem sie von Kaiser und Reich, oder einem Landesherrn herrührten 12). In der Hand des ersten Empfängers hiessen die Reichslehen Reichsvorderlehen; in der Hand eines Aftervasallen Reichsafterlehen. Die rechtliche Vermuthung stritt, wie im gesammten deutschen Rechte, auch bezüglich der Territorien für die Allodialität. Insbesondere war die Allodialität der geistlichen Territorien als fast ausnahmslose Regel anerkannt, wenn auch die Landeshoheit über dieselben, die sog. Regalia, (die Grafschaft, das Fürsten- oder Herzogthum, im subjektiven Sinne von Grafen- und Fürsten-Amt) von dem Bischof oder Prälaten als Reichslehen besessen wurde 13).

§. 80.

Das deutsche Reich als Wahlreich.

I. Obschon seit dem Abgange der ächten Karolinger das Reich sich thatsächlich als Wahlreich ausgebildet hatte 1), so

8) Die Literatur über das Staatsrecht der Reichsstädte, siehe unten §. 95. 9) v. Dacheröden, Versuch einer Staatsrechtsgeschichte u. Statistik der freien Reichsdörfer, Thl. I. 1785. v. Lancizolle, 1. c. S. 35. Häberlin, Handb. III. S. 565 flg. Hugo in Höfer's Zeitschr. 1835. II. 446 flg.

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10) Struv, de allodiis imperii, 1734.

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Vergl. über das Reichslehnrecht G. L. Böhmer, princip. jur. feud. Edit. 8. Götting. 1839. Lib. II. Moser, von der deutschen Lehensverfassung, 1774.

11) Siehe meine Alterthümer des deutschen Reichs u. Rechts, Bd. II (1860) S. 12. 67. 68.

12).G. L. Böhmer, princ. jur. feud. §. 8.

13) Vergl. meine Abhandlung über die Bildung der geistlichen Fürstenthümer, mit besonderer Rücksicht auf Allodialität und Feudalität, in meinen Alterthümern des deutschen Reichs und Rechts, Bd. II. (1860) Nr. I.

1) Siehe meine deutsche Rechtsgesch. 3. Aufl. 1858. Thl. II. §. 44.

findet sich eine reichsgrundgesetzliche Feststellung dieser Eigenschaft doch erst in der Constitution K. Ludwigs des Bayern, nachher aber in der goldenen Bulle K. Karls IV. und in allen Wahlkapitulationen wiederholt ausgesprochen.

II. Insbesondere musste jeder Kaiser in der Wahlkapitulation versprechen, das Reich nicht erblich zu machen 2), die Reichslehnpflichten nicht auf sein Haus zu übertragen 3), seine eigenen Reichslehen als solche zu empfangen 4), von seinen Erbländern die betreffenden Reichsbeiträge zu leisten 5) und heimfallende Reichslehen, die,, etwas Merkliches eintragen", zum Unterhalte des Reichs einzuziehen ").

III. Mit der Entwickelung des Reichs als Wahlreich hängen zusammen: 1) die Entstehung von Kurfürsten (§. 93); 2) die Nothwendigkeit eines Reichsvikariats als Provisorium bei eintretendem Interregnum, d. h. wenn bei dem Tode eines Kaisers kein römischer König vorhanden war (§. 89); 3) die Errichtung einer neuen Wahlkapitulation bei jeder Kaiserwahl (§. 78).

§. 81.

Das deutsche Reich als beschränkte Monarchie.

I. Der Grundsatz, dass der Kaiser in allen Regierungsangelegenheiten, welche nicht blos die Vollziehung der Reichsschlüsse und Handhabung der Reichsgesetze betreffen, an die Zustimmung der Reichsstände gebunden sei, ist nach langer Unterhandlung im westphälischen Frieden positiv aufgestellt worden.

II. Zugleich wurden die wichtigsten Gegenstände namentlich aufgezählt, bei welchen fortan die Mitwirkung der Reichsstände erforderlich sein sollte 1). Seitdem wurde auch immer

*) W.-K. art. II. §. 2: „, Uns keiner Succession oder Erbschaft desselben (des Reichs) anmassen, unterwinden noch unterfangen, noch darnach trachten, dasselbe auf Uns, Unsere Erben und Nachkommen oder auf jemanden anders zu wenden.“

3) W.-K. art. XI. §. 2.

4) W.-K. art. X. §. 11.

5) W.-K. art. V. §. 6.

) W.-K. art. XI. §. 10. 11.

1) J. P. O. art. VIII. §. 2. „, Gaudeant (status imperii) sine contradictione jure suffragii in omnibus deliberationibus super negotiis imperii; prae

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