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galt auch als die Quelle aller Gnaden 25): er hatte nicht nur das Begnadigungsrecht in Strafsachen, sondern auch das Recht, Privilegien aller Art, insbesondere auch sog. Justiz privilegien, d. h. Exemtionen von der Gerichtsbarkeit der Reichsgerichte zu ertheilen 26), wie z. B. das jus de non appellando 27) und das jus de non evocando 28), und überhaupt von der Beobachtung der Vorschriften des gemeinen Reichsrechts, z. B. bei der Errichtung von Familienstatuten, zu dispensiren und die Einführung singulärer Rechtsgrundsätze zu gestatten 29).

§. 85.

c) Die kaiserliche Machtvollkommenheit und die kaiserlichen Reservatrechte.

I. In Folge einer unklaren Ansicht über die Verbindung der alten römischen Kaiserkrone mit dem deutschen Königthume sprach man im Mittelalter auch von einer kaiserlichen

25) Die Gnadensachen wurden sämmtlich am Reichshofrathe behandelt; siehe unten §. 100.

26) Eine Beschränkung des Kaisers enthält W.-K. art. X. §. 2. „Uns auch alles dessen, was etwa zu Exemption und Abreissung vom Reich Ursache geben könnte, insonderheit deren exorbitanten Privilegien und Immunitäten enthalten."

27) Hierunter verstand man die Bewilligung, dass von den landesherrlichen Gerichten nicht an die Reichsgerichte appellirt werden durfte. Man unterschied privilegia de non appellando illimitata und limitata, je nachdem gar nicht oder nur bei dem Vorhandensein einer erhöhten Appellationssumme an die Reichsgerichte appellirt werden durfte.

28) Dies bestand in der Zusicherung, dass an den landesherrlichen Gerichten anhängige Rechtssachen nicht von diesen abgerufen und an die Reichsgerichte zur Entscheidung gewiesen werden sollten. Es hing dies mit der mittelalterlichen Ansicht zusammen, dass die Reichsgerichte eine concurrirende Jurisdiction mit allen landesherrlichen Gerichten hätten. Meine deutsche Rechtsgesch. 3. Aufl. 1858. Thl. II. §. 47. Note 15; §. 59. Note 15; §. 66; §. 73. V.

29) Formulare der am Reichshofrath zu verhandelnden Gnadensachen, siehe bei J. F. W. de N. de W. Princip. proc. jud. imp. aul. 2. Aufl. 1754. Thl. V. S. 357 flg.

Machtvollkommenheit (plenitudo potestatis) 1), kraft deren sich die Kaiser das unbeschränkte Recht beilegten, alle Arten von Privilegien (sowohl favorabilia als odiosa) zu ertheilen, oder sie wieder aufzuheben, oder die Anwendung der Reichsgesetze und des Reichsrechts in einzelnen Fällen auszuschliessen.

II. Seitdem aber die Kaiser durch die Reichsgesetze, insbesondere durch den westphälischen Frieden und durch die Wahlkapitulation in diesem Rechte, sowie in allen Regierungsrechten vielfach beschränkt worden waren, konnte von einer Machtvollkommenheit in obigem Sinne tiberhaupt nicht mehr die Rede sein 2). Daher verstand man hierunter in der letzten Zeit nur noch dasjenige, was man gegenwärtig das StaatsNothrecht (jus eminens) zu nennen pflegt3).

III. Dagegen bezeichnete man die einzelnen Befugnisse der ehemaligen Machtvollkommenkeit, welche der Kaiser seit dem XVII. Jahrhundert noch auszuüben für befugt galt, als kaiserliche Reservatrechte, d. h. besonders vorbehaltene Rechte, und zwar theils im Gegensatze der Comitialrechte, d. b. der Rechte des Reichstages, theils der Landeshoheit der einzelnen Landesherren 4).

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1) Officiell spricht noch die Goldene Bulle von 1356, cap. 2. §. 8. cap. 13. §. 3 etc. von dieser Plenitudo potestatis als einem unbezweifelt dem Kaiser zustehenden Rechte. Einen Fall, wo der Kaiser ex plenitudine potestatis" das Pflichttheilsrecht der Kinder (legitima) aufhob, siehe in meiner Schrift: Ueber Missheirathen in den reg. deutschen FürstenLausern. Stuttgart 1853. S. 51; Pütter, Missheirathen, S. 110. Siehe anch oben §. 84. Note 8.

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*) Schon im J. 1609 schrieben die Fürsten an K. Rudolf II: Mit Jurisdiction und Rechten, wie sie die lateinischen Kaiser gehabt, sei dieses Orts sich nicht aufzuhalten, da es mit dem deutschen Reiche grosse Ungleichheit gegen die alten lateinischen Kaiser habe." Pütter, inst. §. 22; dessen: Erört. I. 299; Moser, von kaiserl. Machtsprüchen, 1750. §. 8 flg. 3) Häberlin, Handb. II. §. 260. Chr. Gottl. Biener, von d. kais. Machtvollkommenheit in der Reichsregierung, Leipzig 1781.

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4) Pütter, inst. §. 26. 116. 127. Häberlin, Handb. II. §. 116. 127. - Leist, Staatsr. §. 16. IV. 17. II. 23. II. — Gönner, Staatsr. §. 105. Schmid, Staatsr. §. 133. Maurenbrecher, Staatsr. §. 78. - H. A. Zacharia, Staatsr. §. 30. I. Es konnte ein Reservatrecht sehr wohl in beiden Beziehungen in Betracht kommen, z. B. das Recht der Standeserhöhung.

IV. In ersterer Beziehung hiessen Reservatrechte jene Rechte, welche der Kaiser ausübte, ohne an die Mitwirkung des Reichstages gebunden zu sein. War der Kaiser in ihrer Ausübung völlig unbeschränkt, so hiessen sie insbesondere jura reservata illimitata: war der Kaiser aber durch die Reichsverfassung hierbei wenigstens an die Zustimmung der Kurfürsten gebunden, so hiessen sie jura reservata limitata.

V. In zweiter Beziehung hiessen Reservatrechte erstlich diejenigen Rechte, welche nicht als im Begriffe der Landeshoheit liegend betrachtet wurden, die also ein Landesherr entweder gar nicht, oder doch nur in Folge einer besonderen kaiserlichen Verleihung ausüben durfte: zweitens aber auch jene Reservatrechte, welche der Kaiser eben sowohl als die Landesherren, also mit diesen concurrirend, in den einzelnen Territorien ausüben konnte. Im ersteren Falle hiessen sie jura reservata exclusiva; im zweiten Falle jura reservata communia oder cumulativa.

VI. Als jura reservata illimitata und zugleich exclusiva wurden betrachtet: 1) das Recht der Standeserhöhung, d. h. das Recht, den Adel in seinen verschiedenen Abstufungen zu verleihen "); 2) das Recht, gelehrten Körperschaften das Universitätsprivilegium zu verleihen, d. h. das Recht, akademische Würden zu ertheilen.

VII. Jura reservata limitata waren 1) das Recht, Zölle anzulegen und Zollgerchtigkeiten zu ertheilen, d. h. das Recht, die an bestimmten Zollstätten zu erlegenden Zölle ganz oder theilweise zu erheben und zu beziehen 6), welches

5) W.-K. art. XXII. §. 1: „Wie die Standeserhöhungen zu ertheilen. Bei Collation fürstlicher, gräflicher, auch anderer Dignitäten sollen und wollen Wir dahin sehen, damit inskünftige auf allen Fall dieselben allein denen von Uns ertheilt werden, die es vor Anderen wohl meritiret, im Reiche gesessen und die Mittel haben, den affektirten Stand pro dignitate

auszuführen."

6) W.-K. art VIII. §. 1: Wir sollen und wollen auch . . . hinfüre. jedoch unbeschädigt der vor Aufrichtung weiland Kaisers Karls VI. Wahlkapitulation... gewilligten Zollkoncessionen . . . keinen Zoll von neuem geben, noch einige alte erhöhen oder prorogiren . . . (§. 2). Es sei dann nicht allein mit aller und jeder Kurfürsten Wissen und Willen, Zulassen und Kollegialrathe durch einhelligen Schluss also in diesem Stücke verfahren" etc. Nach §. 3 sollten auch die benachbarten Kreise, insbesondre

Recht durchaus nicht als in der Landeshoheit liegend betrachtet wurde, aber von den Kaisern theils als Gnade, theils durch onerose Geschäfte, wie Kauf, oder als Pfandschaft, datio in solutum u. dgl., theils für immer, theils für bestimmte Jahre oder auf Widerruf, sowohl an Landesherren, wie an einzelne Privatpersonen, auch eben sowohl an Landstädte wie an Reichsstädte verliehen wurde); 2) das Recht, das Münzregal in ähnlicher Weise wie die Zollgerechtigkeiten zu verleihen ).

VIII. Als jura reservata communia wurden betrachtet: 1) das Recht, Volljährigkeit (venia aetatis) zu ertheilen, uneheliche Kinder durch Rescripte zu legitimiren, oder sie von dem Ehren-Makel der uneheligen Geburt zu befreien (sog. Legitimatio minus plena); 2) Notarien zu ernennen, Lehenfähigkeit und Wappen zu ertheilen (zum Wappengenossen zu machen).

IX. Der Kaiser übte sowohl die jura reservata exclusiva als die communia regelmässig durch besonders angestellte Beamte aus, welche Hofpfalzgrafen hiessen: ihre Befugniss hiess Comitiva. Man unterschied die niedere und die höhere Comitive (Comitiva minor et major). Die erstere begriff die Befugniss, die zuletzt genannten jura reservata communia auszuüben die letztere überdies das Recht zu adeln und die niedere Comitive zu ertheilen 9). Die Würde eines Hofpfalzgrafen nebst der niederen Comitive wurde aber auch häufig an Landesherren, sogar auch an nicht regierende Personen

derjenige, in welchem der neue Zoll aufgerichtet, oder ein alter erhöht u. s. w. werden sollte, darüber vorerst gehört werden.

') Vergleiche: Das Zollwesen in Deutschland, geschichtlich beleuchtet. Frkf. a. M. 1832. — Interessante Urkunden enthält: (Longard I) Ausführung der Ansprüche des H. Grafen Jakob zu Eltz-Kempenich aus dem Rheinzolle zu Engers, Coblenz 1842.

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8) W.-K. art. IX. §. 6. Wir sollen und wollen auch hinfüro ohne Vorwissen und absonderliche Einwilligung der Kurfürsten und Vernehmung, auch billige Beobachtung desjenigen Kreises Bedenken, darin der neue Münzstand gesessen, niemanden . . . mit Münzfreiheiten oder Münzstätten begaben und begnadigen."

9) Pütter, inst. §. 138; Schmid, Staatsr. §. 145. Die höheren Comitive wurden selten ertheilt. Erblich hatten sie das Haus Pfalz und das Haus Schwarzburg. Schmalz, Staatsr. §. 180.

verliehen 10), oder mit gewissen Aemtern ein für allemal verbunden 11).

§. 86.

Anfang der kaiserlichen Regierung 1).

I. Die kaiserliche Regierung begann mit der Beschwörung der Wahlkapitulation, welche reichsgrundgesetzlich vor der Krönung geschehen musste 2). Die Krönung wurde in den letzten Zeiten von dem Erzbischofe von Mainz (als Kurerzkanzler) 3) zu Frankfurt vorgenommen 1).

II. Der Kaiser musste, um selbst regieren zu können, das achtzehnte Jahr erreicht haben 5), und seine Residenz im Reiche halten 6).

10) Z. B. in den Grafendiplomen einiger Titularreichsgrafen.

11) So z. B. hatte sie der jeweilige Prorektor und der juristische Dekan der Universität Heidelberg durch ein Reichsvikariatsdiplom vom 23. August 1745. Aus diesem ist auch der oben angeführte Inhalt der Comitiva minor hier mitgetheilt. Vergl. meine Alterthümer d. deutsch. Reichs u. Rechts, Bd. I. (1860) S. 356 flg.

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Leist, §. 66.

1) Pütter. inst. §. 495. - Gönner, Staatsr. §. 106. 2) W.-K. (1792) art. 30. §. 5. 6. Wir versprechen und geloben aber sothane Beschwörung der Kapitulation noch vor Empfang der Krone in eigener Person selbst zu leisten . . . auch ehe wir solches gethan uns der Regierung nicht zu unterziehen." Ebendas. art. III. §. 18. „, Bis Wir die W.-K. in Person beschworen, folglich das Regiment wirklich angetreten." Vergl. die Gold. Bulle cap. 2. §. 8.

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3) Ueber die Krönungsfeierlichkeiten, die dabei gebrauchten Reichskleinodien, die Ableistung des kaiserlichen Regierungseides u. s. w. s. Leist Staatsr. §. 65. Gönner, Staatsr. §. 113. Pütter, inst §. 496 und die daselbst angeführte Literatur. In früheren Zeiten concurrirte Cöln mit Mainz in der Ausübung des Krönungsrechts. Goldene Bulle cap. 4. §. 4; Vergleich v. 16. Juni 1657, bei Schmauss, S. 1028; W.-K. (seit 1658) art. 3. §. 9. - Pütter, inst. §. 497.

4) Ursprünglich war Aachen die Krönungsstadt gewesen; seit K. Ferdinand I. geschah die Krönung aber immer an dem Wahlorte. Pütter, inst. §. 497. Meine deutsche Rechtsgesch. 3. Aufl. 1858. Thl. II. §. 45. 5) So musste K. Joseph I. in der W.-K. (1690) art. 47 versprechen: ,, Uns auch keiner Regierung . . . zum Präjudiz der Reichsvicarien, welche inmittelst die Reichsadministration führen, die Expedition aber in Unserem Namen verfügen sollen, unterziehen, bis Wir das achtzehnte Jahr Unsers Alters erreicht und angefangen haben." Gerstlacher, Handb. X. S. 1794. 6) W.-K. art. XXIII.

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