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der Beisitzer mehrmals vermehrt 8), nach dem westphälischen Frieden sollte dieselbe sogar bis auf 50 gebracht werden "). Allein diese Zahl konnte wegen des unregelmässigen Eingehens der ständischen Beiträge (sog. Kammerziele) niemals angestellt werden 10); sie wurde desshalb 1729 auf 25 herabgesetzt und selbst diese Zahl wurde erst vom J. 1782 an wirklich eingehalten. Seit 1550 wurden dem Kammerrichter zwei Präsidenten beigegeben 11): diese beiden, sowie der Kammerrichter und ein Assessor wurden von dem Kaiser ernannt, die übrigen Assessoren aber von den Reichsständen, und zwar von jedem Kurfürsten einer, von den drei evangelischen Kurfürsten abwechselnd noch ein vierter, die anderen von den übrigen Reichsständen nach Kreisen, mit Rücksicht auf die Religionseigenschaft der Kreise. Im Ganzen waren der Kammerrichter, ein Präsident und 13 Assessoren katholisch, ein Präsident und 12 Assessoren protestantisch.

VI. Die präsentirten Mitglieder des Kammergerichtes mussten sich vor ihrer wirklichen Aufnahme einer strengen Prüfung am Kammergerichte selbst unterwerfen. Sie wurden durch ihr Amt reichs unmittelbar und waren unabsetzbar, ausser durch rechtliches Urtheil des Kammergerichts selbst oder einer Kammergerichtsvisitation 12).

Uebung und ye der halb tail der Urtailer der Recht gelert und gewirdigt, und der ander halb tail auf das geringest aus der Ritterschaft geboren sein sollen; und was die sechtzehn Urtailer oder der merer tail in Sachen erkennen und ob sie spennig und auf yeglichem Tail gleich wären, welchem dann der Richter einen Zufall thut (d. h. beistimmt) dabei soll es bleiben."

8) Durch die Reichsschlüsse v. 1521. 1530. 1566. 1570 wurde die Zahl der Beisitzer auf 18. 24. 30 u. 41 gebracht.

9) J. P. O. art. V. §. 53.

10) Die Bezeichnung,, Kammerziele" erklärt sich daraus, weil die jährlichen ständischen Beiträge zur Sustentation des Kammergerichts in zwei Zielen, d. h. Terminen, einzuzahlen waren.

11) Nach dem J. P. O. art. V. §. 53 sollten sogar vier Präsidenten angestellt werden. Dies kam nicht zur Ausführung.

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12) Ein Absetzungsgrund war in der K.-G.-O. Concept v. 1613. Thl. I. Tit. III. §. 3 besonders ausgezeichnet: wenn sie nämlich sich nicht der alten Religion oder der Augsburgischen Confession gemäss halten, sondern sich besonderen Secten anhängig machen." Vergl. ebendas. Thl. I. Tit. VI.

VII. Es waren am Kammergerichte 12 Advokaten und 30 Prokuratoren, welche das Gericht selbst anstellte, ausserdem wurden der Fiskal-Prokurator und der Fiskal-Anwalt vom Kaiser präsentirt 13). Die Kanzleibedienten und Boten bestellte und besoldete der Kurfürst von Mainz.

VIII. Die Geschäfte wurden in Senaten erledigt 14), bei deren Bildung auf gleiche Zahl der katholischen und protestantischen Mitglieder Rücksicht genommen 15), oder diese wenigstens fingirt wurde 16). Ergab sich Stimmengleichheit in einem Senate, so wurde noch ein anderer Senat zugezogen (sog. Adjunction), und wenn hierdurch keine Majorität erlangt werden konnte, kam die Sache an das Plenum 17); beruhte die Stimmengleichheit aber auf Meinungsverschiedenheit der Religionstheile (itio in partes der Kammergerichtsassessoren), so wurde die Sache an den Reichstag abgegeben 18).

IX. Das Reichskammergericht war angewiesen, nach den Reichsgesetzen und den gemeinen geschriebenen Rechten zu verfahren und zu erkennen 19). Besondere Normen für sein Verfahren hatte es in der mehrfach revidirten Reichskammergerichtsordnung (von 1495, 1548 und 1555) 20) und in

13) v. Berg, 1. c. §. 70. 71.

44) Man unterschied Judicial-Senate von acht und neun, ExtrajudicialSenate von vier und fünf und sechs und sieben Mitgliedern. Leist, Staatsr. §. 133.

15) J. P. O. art. V. §. 53. Dem Wortlaut nach war die Bildung eines Senats mit gleicher Stimmenzahl beider Confessionen nur für den Fall vorgeschrieben, wenn bei der Sache Protestanten Parthei oder Intervenienten waren.

16) Dies war nothwendig, wenn in einem Senate eine ungleiche Zahl von Mitgliedern sass, und itio in partes statt fand, d. h. die Stimmen der Religion nach sich theilten; man unterschied demnach paritas vera und paritas ficta. R.-S. v. 1788. art. VI. B. Leist, Staatsr. §. 134.

17) In dem Plenum sollte, wenn etwa wieder Stimmengleichheit eintrat, eigentlich die Stimme des Präsidenten entscheiden (siehe Note 7). Dies wollten die Protestanten aber nicht anerkennen, und sonach konnte es kommen, dass eine Sache ganz liegen blieb, wenn sie nicht etwa an den Reichstag abgegeben wurde. Leist, Staatsr. §. 134.

18) J. P. O. art. V. §. 55 (vergl. oben §. 98. Note 8).
19) K.-G.-O. v. 1495. §. 3; v. 1555. Thl. I. Tit. 57.

K.-G.-O. Thl. I. Tit. 71.

20) Siehe oben §. 78. V.

Concept der

Abgedruckt ist die K.-G.-O. v. 1495 in der

N. Samml. d. R.-A. II. 6; die K.-G.-O. v. 1555, ebendas. III. 43.

einigen Reichsschlüssen, Visitationsabschieden und Beschlüssen 21).

X. Ganz eigenthümlich war das dem Reichskammergerichte durch die Kammergerichtsordnung von 1555. Thl. II. §. 36 ausdrücklich beigelegte Recht, über zweifelhafte processualische Fragen selbst Beschlüsse (decreta oder senatusconsulta cameralia) zu fassen und diese als interimistisch, d. h. bis zum Erlasse eines Reichsgesetzes verbindliche Normen zu publiciren, in welchem letzteren Falle sie sodann gemeine Bescheide (decreta communia) hiessen 22).

XI. Das Reichskammergericht war competent: A. als ausschliessliche Instanz in bürgerlichen und peinlichen Sachen des Reichskammergerichtspersonals und in Fiskalsachen, welche das Kammergericht selbst unmittelbar betrafen, z. B. die Beitreibung der Kammerziele 23). B. Klagsachen gegen Reichsunmittelbare konnten bei dem Reichskammergericht sofort (in erster Instanz) angebracht werden, soweit nicht das denselben zustehende Recht der Austräge (§. 101) in Betracht kam: wo dies Platz griff, konnte die Sache nur in höherer (z weiter) Instanz an das Kammergericht kommen 24).

Unter K. Rudolph II. war 1613 ein Concept einer erneuerten und verbesserten Kammergerichtsordnung abgefasst worden, welches aber niemals formelle gesetzliche Giltigkeit erlangte; materiell aber allerdings geltendes Recht enthielt, da dieses Projekt nur aus wirklich giltigen Gesetzen zusammengesetzt worden war. Abgedr. in Schmauss, S. 300 flg. v. Zwierlein, Concept der K.-G.-O. mit Anmerk. 1744 (3. Ausg. 1783). Vergl. Gerstlacher, Handbuch der deutsch. Rechtsges. I. S. 24 flg.; dessen Corp. Jur. I. S. 240 flg.

21) Reichsschlüsse von 1720, 1775, 1788; Visitationsabschiede und Beschlüsse von 1713, 1767. — (v. Balemann) Visitationsschlüsse, die Verbesserung des reichskammergerichtl. Justizwesens betr. Lemgo 1779, 1780.

22) Sammlungen der gemeinen Bescheide des Kammergerichts, s. in (v. Ludolf) Corp. jur. cameral. 1724. de Cramer, Observ. jur. univ. V. obs. 1387. v. Balemann, a. a. O. S. 197 flg.; Nachtrag S. 1 flg. S. 256 etc. Siehe Leist, Staatsr. §. 125. 23) v. Berg, 1. c. §. 115. 359. 360.

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24) K.-G.-O. (Concept) Thl. II. Tit. 30 (siehe unten §. 101. Note 6). Reichsunmittelbare konnten daher regelmässig in erster Instanz bei dem Kammergerichte nur belangt werden in Landfriedens- und Religionsfriedensbruchsachen, in Fiskalsachen, d. h. wegen Verletzung der allgemeinen Reichsbürgerpflichten, auf Antrag der Reichsfiskale, und in

C. In Civilprocessen gegen Mittelbare (landsässige) Personen konnte das Kammergericht regelmässig nur als Gericht höherer Instanz, und zwar im Verhältniss zu den Landesgerichtshöfen regelmässig nur als dritte und letzte Instanz angegangen werden 25), und auch dieses nicht hinsichtlich jener Länder, welche das privilegium de non appellando hatten, wie z. B. die kurfürstlichen Territorien 26). Die Appellationssumme war regelmässig 400 Thaler: durch kaiserliches Privilegium war sie mitunter sehr bedeutend (bis auf 1500 Thaler) erhöht 27). D. Das Reichskammergericht nahm Beschwerden wegen verzögerter oder verweigerter Rechtspflege (querela protractae vel denegatae justitiae) aus allen deutschen Ländern an, selbst aus jenen, welche ein privilegium de non evocando hatten 28). E. Es war das Kammergericht zugleich Cassationshof bei Beschwerden über unheilbare Nichtigkeiten gegen die höheren Landesgerichtshöfe in Civil- und Criminalsachen sowohl der Landsässigen als der Reichsunmittel

solchen Klagsachen ihrer Unterthanen wegen Missbrauchs der Landesstaatsgewalt, in welchen weder die Austräge, noch die Territorialgerichte als competent anzusehen waren; desgleichen konnten auch Beschwerden über verweigerte und verzögerte Rechtspflege unmittelbar bei dem Kammergerichte eingereicht werden. v. Berg, l. c. §. 105. 108. 109. 113. Leist, Staatsr. §. 147. Ausserdem konnten Reichsunmittelbare ausnahmsweise sofort vor dem Kammergerichte belangt werden, wegen Zusammenhanges (continentia) und Connexität der Sachen; ferner wenn der Kläger auf das privilegium miserabilum personarum Anspruch hatte; in Provokationssachen, und wenn aus einem besonderen Ausnahmsgrunde die Austrägalinstanz ausfallen musste. v. Berg, 1. c. §. 106. 107. 110. 111. 112.

25) Mittelbare konnten nur ausnahmsweise sofort (in erster Instanz) bei dem Kammergerichte belangt werden, z. B. wegen Landfriedensbruch, oder wenn der Landesherr selbst seine Unterthanen vor dem Kammergericht beklagen wollte, oder wenn der Beklagte unter einer zwischen verschiedenen Landesherren streitigen Gerichtsbarkeit stand. Jedoch wurde im ersteren Fall (Landfriedensbruch) gegen Mittelbare doch gewöhnlich vor den Landesgerichten verfahren. v. Berg, §. 108. 113. Leist, Staatsr. §. 149.

26) Siehe oben §. 93. Note 19.
27) J. R.-A. (1654) §. 112.
28) Gold. Bulle XI. §. 3. 4.

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Moser, v. d. Justizverf. I. 208. R.-A. von 1512. §. 58; 1519. §. 13. K.-G.-O. (Concept) Thl. II. Tit. 28; Dep. Absch. von 1600. §. 27. Moser, von der Justizverf. I. 913. J. H. Böhmer, de origine etc. querelae denegatae, s. protractae justitiae 1738 (Exerc. ad Pand. VI. 103).

baren 29). F. Das Kammergericht hatte auch die sog. freiwillige Gerichtsbarkeit über Reichsunmittelbare: es konnte daher Confirmationen ertheilen, z. B. Verträge und Testamente bestätigen, Tutoren bestellen und sicheres Geleit ertheilen 30).

XII. Ganz ausgeschlossen war die Competenz des Kammergerichtes a) in Bezug auf gewisse deutsche Länder in Folge besonderer Privilegien 31); b) in allen eigentlichen Regierungssachen 32); c) in Achtssachen der Reichsstände 33); d) in geistlichen Sachen $4); e) in den grösseren Reichslehensachen und in allen Gnadensachen 35); f) in peinlichen Sachen der Mittelbaren 36).

29) K.-G.-O. 1555. Thl. III. Tit. 34. §. 1. 2.

Tit. 28. §. 5.
Tit. 31. §. 14.

Vergl. ebendas. Thl. II.

J. R.-A. §. 121. 122. Concept der K.-G.-O. 1613. Thl. II.
Leist, Staatsr. §. 168.

30) v. Berg, 1. c. §. 99. 362. 363.

31) Solche völlige Exemtion von der Gerichtsbarkeit des Kammergerichts beanspruchte z. B. Oesterreich wegen seines Privilegs von 1156 und mehrerer späteren Privilegien; Böhmen nach der Gold. Bulle, c. VIII. §. 2. v. Berg, 1. c. §. 100. Leist, Staatsr. §. 143. I.

Staatsr. §. 309. I.

Gönner,

32) Dahin rechnete man insbesondere die Gesetzgebung, also auch die authentische Interpretation der Gesetze, und alle Gegenstände, welche aus dem Gesichtspunkte der Zweckmässigkeit und des öffentlichen Wohls zu erledigen waren; dagegen gehörten die Forderungen an einzelne Reichsstände auf Erfüllung ihrer reichsverfassungsmässigen Verbindlichkeiten und die Entscheidung wegen Verletzung wohlerworbener Rechte unbestritten zur Competenz des Kammergerichts. v. Berg, §. 101. Leist, Staatsr.

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34) Es galt dies von allen Sachen, welche nach den Grundsätzen sowohl des katholischen als des protestantischen Kirchenrechts zur geistl. Gerichtsbarkeit gehörten. v. Berg, 1. c. §. 104. Gönner, Staatsr.

§. 309. V. Leist, §. 143. II. 6. Daher wurde die Frage, ob eine Ehe oder ein Concubinat vorhanden sei, von dem Kammergericht in der Isenburgischen Sache an das competente geistliche Gericht verwiesen. Siehe meine Schrift über hohen Adel und Ebenbürtigkeit, 1853. §. 50. Gerstlacher, Handb. d. R.-G. Bd. X. S. 1836 flg.

35) Diese gehörten ausschliesslich vor den Reichshofrath; s. §. 100. Vergl. über die Reichslehnsachen oben §. 98. Note 5.

36) R.-A. von 1530. §. 95; K.-G.-O. 1555. Thl. II. Tit. 28. §. 5; Concept ders. Tit. 31. §. 14. v. Berg, 1. c. §. 103. Die Criminaljurisdiktion über Mittelbare wurde stets als in der Landeshoheit der Reichsstände inbegriffen betrachtet; W.-K. art. I. §. 8; den Reichsrittern

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