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§. 104.

Reichsgrundgesetzliche Bestimmungen über die

Landeshoheit.

I. Schon in früher Zeit ging das Streben der geistlichen und weltlichen Reichsstände dahin, sich in dem Besitze und der Ausübung ihrer landesherrlichen Rechte zu sichern, und die Einmischung des Kaisers in die innere Landesregierung auszuschliessen. Die ersten hierauf bezüglichen kaiserlichen Zusicherungen finden sich in den Constitutionen K. Friedrichs II. v. J. 1220 de juribus principum ecclesiasticorum und v. J. 1232 de juribus principum secularium (Constitutio Utinensis), welche eben desshalb als die erste grundgesetzliche Anerkennung der Landeshoheit betrachtet werden 1).

II. Noch in weit grösserem Umfange wurde die Landeshoheit in der goldenen Bulle K. Karls IV. anerkannt, jedoch nach der Absicht dieses Gesetzes nur in Betreff der Kurfürsten, so dass die denselben darin gemachten Zugeständnisse nur als Privilegien erscheinen 2).

III. In dem westphälischen Frieden wurde die Landeshoheit der Reichsstände insgesammt als ein ihnen von Alters her zuständiges, selbstständiges Recht anerkannt, und dieselbe als eigentliches Regierungsrecht (jus territoriale, superioritas) in ihren Ländern von anderen zufälligen nutzbaren Regalien oder singulären Privilegien, die sie in Folge besonderer kaiserlicher Verleihung noch inne haben möchten, bereits scharf unterschieden, obschon auch hinsichtlich der letzteren die gleiche Zusicherung ihres ruhigen Besitzes gegeben wurde 3). Hiermit war auch als Grundsatz ausgesprochen, dass der Kaiser in den Territorien kein concurrirendes Regierungsrecht mehr habe, wovon nur noch hinsichtlich einiger kaiserlichen Reservatrechte und der Jurisdiktion der kaiserlichen Hof- und Landgerichte einige Ausnahmen fortbestanden 1).

1) Siehe die hauptsächlichte Stelle oben §. 77. Note 14; §. 78. I. 2) Siehe oben §. 93.

3) J. P. O. art. VIII. §. 1 (siehe diese Stelle oben §. 77. Note 14). 4) Siehe oben §. 85. 102.

IV. Am entschiedensten wurde aber die Anerkennung der Landeshoheit der Reichsstände und der unmittelbaren Reichsritterschaft in den Wahlkapitulationen ausgesprochen und ihnen wiederholt der kaiserliche Schutz in ihrer Ausübung versprochen, und namentlich zugesichert, dass weder der Kaiser selbst in die Landeshoheit eingreifen, noch auch Eingriffe der Reichsgerichte oder anderer Personen in dieselbe dulden wolle 5); insbesondere wurde

V. den Reichsständen zugesichert, dass sie von dem Kaiser einseitig weder definitiv, noch provisorisch, noch in contumaciam von ihrer Landesregierung entsetzt werden sollten").

VI. Den sämmtlichen Landesherren war zugesichert, dass ihre Landesunterthanen zum schuldigen Gehorsam gegen sie als ihre Landesobrigkeiten angehalten), und

VII. dass die Landesunterthanen von der landesherrlichen Botmässigkeit und Jurisdiktion in keiner Weise eximirt werden sollten 8).

VIII. Gegen,,unziemliche hässige" Verbindungen, Verstrickungen, Zusammenthuung der Unterthanen, sowie gegen Aufruhr und Empörung derselben sollte von dem Kaiser kräftig eingeschritten), sowie auch

IX. den Landständen nicht gestattet werden, ihre Befugnisse ungebührlich auszudehnen 10).

X. Den Landesherren war ausdrücklich verstattet, sich in ihren landesherrlichen Rechten wider ihre Unterthanen durch Anwendung von Gewaltmassregeln (,,Selbstmanutenenz") zu schützen und sie,, zum Gehorsame zu bringen" 11).

XI. Auf der anderen Seite war anerkannt, dass Unterthanen und Landstände sich mit Klagen gegen ihre Landesherrschaft wegen Bedrückung durch schlechte Regierung, Ver

5) W.-K. art. I. §. 2 (siehe oben §. 77. Note 14); W.-K. art. I. §. 8. (ebendas.). Vergl. W.-K. art. art. XXI. §. 1.

6) W.-K. art. I. §. 4 (vergl. oben §. 91. II. und §. 98. III.).

7) W.-K. (1792) art. XV. §. 1.

8) W.-K. art. XV. §. 2.

9) W.-K. art. XV. §. 6. 10) W.-K. art. XV. §. 3. 11) W.-K. art. XV. §. 8.

letzung ihrer Rechte und Freiheiten u. s. w. an die Austrägalinstanz und an die Reichsgerichte wenden konnten 12); doch sollten solche Klagen,, nicht leichtlich" angenommen, und wenn sie nicht für begründet erkannt würden, sofort ohne weitere Verhandlung abgewiesen werden 13). Auch sollten auf Klagen der Unterthanen und Landstände keine unbedingte Mandate oder Rescripte erkannt werden, welche in der Sache selbst (in meritis causae) eine Entscheidung enthielten 14), sondern wo sich fand, dass die Unterthanen oder Landstände billige Ursache zu klagen" hätten, sollte mit Beobachtung der substantialia processus im schleunigen Verfahren Abhilfe geschehen 15). War die Sache einmal gerichtlich anhängig, so hatte sich die Regierung des eigenmächtigen Vorschreitens zu enthalten 16), die Unterthanen aber sollten von den Reichsgerichten ,,inmittelst", d. h. bis zur richterlichen Entscheidung der Sache, zum schuldigen Gehorsam gegen ihre Obrigkeit angewiesen werden 17).

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XII. Klagsachen der Landstände und Unterthanen wider ihre Obrigkeit, „in Privatsachen, welche die landesfürstliche Kammer betrafen", waren zur Entscheidung an die Landesgerichte verwiesen 18).

XIII. Beschränkt war die landesherrliche Regierungsgewalt durch die Reichsgrundgesetze in der Richtung, als denselben alle Selbsthilfe gegen ihre Mitstände und Reichsangehörige 19),

12) W.-K. art. XIX. §. 6. Vergl. oben §. 101. III. C. Die Unterthanen konnten sich auch aussergerichtlich an den Kaiser mit Bitten um Abhilfe wegen Missbrauchs der Landeshoheit wenden: Moser, v. d. kais. Reg.- Rechten und Pflichten Thl. I. S. 219; die Anrufung des Schutzes fremder Mächte, deren Vermittelung oder Garantie war aber untersagt. W.-K. art. XXVII. §. 1–3; kaiserl. Resolution vom 12. Februar 1671, bei Schmauss, S. 1079. Leist, Staatsr. §. 23. Doch stand darauf keine Strafe, sondern es war nur den Schutzbriefen der auswärtigen Staaten rechtliche Bedeutung abgesprochen.

13) W.-K. art. XV. §. 4.

14) W.-K. art. XIX. §. 6.

45) W.-K. art. XIX. §. 7.

16) W.-K. art. XV. §. 9.

17) W.-K. art. XIX. §. 7 a. E.

18) W.-K. art. XIX. §. 6.

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Vergl. oben §. 101. Note 12.

19) So z. B. in dem ewigen Landfrieden Maximilians I. .1495. J. P. O. art. XVII. §. 7:,,Et nulli omnino Statuum Imperii liceat jus

und der Gebrauch ihres Bündnissrechts zum Schaden von Kaiser und Reich untersagt war 20).

XIV. Die Verfassung, das Kirchenvermögen, und das Vermögen der frommen und milden Stiftungen in den nach dem Lüneviller Frieden säkularisirten Ländern waren durch ausdrückliche (noch jetzt unbestreitbar praktisch giltige) Bestimmungen im Reichsdeputations hauptschlusse v. 25. Febr. 1803 gegen willkührliche Veränderungen von Seiten des neuen Landesherrn sicher gestellt worden 21).

XV. Auch hatte es der Reichs deputations hauptschluss vom 25. Febr. 1803 als ,,selbstverständlich" erklärt, dass ,,Familiensuccessionsrechte von jenseits rheinischen und ausgetauschten (d. b. an Frankreich abgetretenen) Besitzungen auf die Entschädigungs- und eingetauschten Objekte als Surrogate übergehen "22).

§. 105.

Reichsunmittelbarkeit und Mittelbarkeit, insbesondere Reichsritterschaft.

I. Das Bestehen der Landeshoheit als einer Regierungsgewalt unter der Reichshoheit begründete einen wichtigen

suum vi vel armis persequi, sed si quid sit controversiae . . . unusquisque e jure experiatur; secus faciens reus sit fractae pacis." W.-K. art. XXI. §. 5-8.

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20) J. P. O. art. VIII. §. 2 (siehe diese Stelle oben §. 77. Note 13). 21) R.-D.-H.-S. v. 25. Febr. 1803. §. 60: „, Die dermalige politische Verfassung der zu säcularisirenden Lande, insoweit solche auf giltigen Verträgen zwischen dem Regenten und dem Lande, auch anderen reichsgesetzlichen Normen ruht, soll ungestört erhalten, jedoch in demjenigen, was zur Civil- und Militär- Administration, und deren Verbesserung und Vereinfachung gehört, dem neuen Landesherrn freie Hand gelassen werden." §. 63:,,Die bisherige Religionsübung eines jeden Landes soll gegen Aufhebung und Kränkung aller Art geschützt sein; insbesondere jeder Religion der Besitz ihres eigenthümlichen Kirchenguts auch Schulfonds, nach der Vorschrift des westphälischen Friedens, ungestört verbleiben." §. 65:,,Fromme und milde Stiftungen sind wie jedes Privateigenthum zu conserviren, doch so, dass sie der landesherrlichen Aufsicht und Leitung untergeben bleiben." 22) R.-D.-H.-S. §. 45.

Unterschied sowohl in Bezug auf Personen wie auf Liegenschaften, je nachdem sie nämlich nur allein der Reichshoheit oder überdies auch einer Landeshoheit unterworfen waren. Im ersteren Falle wurden sie als reichs unmittelbar, im zweiten Falle als mittelbar oder landsässig bezeichnet1). Mit den sog. bürgerlichen Standesverhältnissen oder den Geburtsstandsrechten stand die Reichsunmittelbarkeit oder Mittelbarkeit in keiner Beziehung. Es gab sowohl adelige als unadelige Reichsunmittelbare und Mittelbare 2); eben so waren Reichsunmittelbarkeit und Reichsstandschaft ganz verschiedene Begriffe 3). In gleicher Weise konnten sowohl einfache bürger-liche oder bäuerliche Grundstücke, als auch adelige Güter (Rittergüter), sogar auch ganze Herrschaften, reichsunmittelbar oder reichsmittelbar sein 4). Auch konnte weder von der Reichsunmittelbarkeit der Person auf gleiche Eigenschaft ihrer Güter, noch umgekehrt, geschlossen werden 5).

II. Besondere Bedeutung hatte durch ihre eigenthümliche Organisation und Stellung zum Reiche die sog. freie Reichsritterschaft in Schwaben, Franken und am Rhein 6). Es

1) Der Ausdruck:,, dem hl. Reiche ohne alles Mittel unterworfen " findet sich zuerst in einer Urk. des K. Friedrich III. (IV.) v. 1478 (siehe unten Note 7). J. P. O. art. V. §. 29: immediate vel mediate imperio subjectis." Vergl. J. P. O. art. III. §. 2. W.-K. art. XV. §. 1:,, Die mittelbaren Reichs- und der Stände Landesunterthanen."

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2) So z. B. waren sämmtliche Angestellte an den Reichsgerichten und Reichskanzleien, ohne Unterschied, ob Adelige oder Unadelige, reichsunmittelbar. Siehe oben §. 99. VI. Leist, Staatsr. §. 18.

3) Dep.-Abschied v. 1564. §. 29 (siehe oben §. 90. Note 2 a. E.). 4) W.-K. art. IX. §. 10: „,.. bei Mediatständen, und andern so dem Reich immediate nicht, sondern Churfürsten, Fürsten und anderen Reichsständen unterworfen." (Siehe §. 90. Note 9).

5) Vergl. über dingliche und persönliche Reichsunmittelbarkeit: Allgayer (resp. Gregel) Bestimmung d. wesentl. Merkmale im Begriffe d. heutigen Reichsmittel- u. Unmittelbarkeit, Würzb. 1795. (v. Fahnenberg) Reichsunmittelbarkeit, Reichsstandschaft, Landeshoheit etc. 1798. Pütter, Beitr. I. S. 43. Dessen inst. §. 33. 474. Gönner, Staatsr. §. 58 flg. Leist, Staatsr. §. 18. §. 21. II.

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6) Kerner, Staatsr. d. unmittelbaren freien Reichsritterschaft, 3 Thle. Lemgo 1786-89. Moser, v. d. deutsch. Reichsständen, S. 1241 flg. Dessen vermischte Nachrichten v. reichsritterschaftlichen Sachen, 1772. 6 Hefte. Dessen Beiträge zu einer Geschichte d. Reichsritterschaft, 1775.

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