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hatten sich nämlich die ritterlichen Geschlechter in diesen Gegenden schon seit dem XIII. Jahrhunderte in Folge der Auflösung der dortigen Herzogthümer nach dem Sturze der Hohenstaufen von der Landeshoheit der Fürsten und Grafen unabhängig erhalten), und zur Erhaltung ihrer Reichsunmittelbarkeit oder Reichsfreiheit verschiedene Ritterbünde oder ritterliche Gesellschaften geschlossen ). Hieraus waren allmählig drei grössere Vereine (Partheien), hervorgegangen, welche sich endlich (1577) zu einem gemeinsamen Ganzen (corpus) aneinander schlossen 9), und sich zur Besorgung ihrer Angelegenheiten eine besondere wohlgegliederte Organisation gaben, wonach seitdem drei sog. Ritterkreise, und zwar seit 1650 jeder mit einer Unterabtheilung in sog. Ritter-Cantone, Orte oder Viertel bestanden 10).

4 Hfte. Dessen neueste Geschichte der Reichsritterschaft, 1775. 2 Bde. Burgmeister, reichsritterschaftl. Corp. Jur. oder Codex diplomaticus etc. Ulm 1707. — Burgermeister, Cod. dipl. equestr. oder reichsritterschaftl. Archiv, Ulm II. 1721. - Dessen Thesaur. jur. equestr. Ulm 1718. 3 Thl. - Dessen Status equestris, 1709. Dessen Bibliotheca equestris, II. 1721. Dessen Grafen- u. Rittersaal, 1715 (1721). Mader, Samml. reichsritterschaftlicher Erkenntnisse in Reichsritterschaftssachen, 1776–90. XXV Hfte. Dessen reichsritterschaftl. Magazin, 1780-90. XIII Hfte. Lünig, Reichsarchiv, Part. spec. contin. III die freie Reichsritterschaft etc. J. L. Klüber, isagoge in elementa jur. publ. quo utuntur Nobiles immediati in imp. Rom. Germ. Erlangen 1793. Pütter, inst. §. 460 flg. Gönner, Staatsr. §. 263 flg. Leist, Staatsr. (2. Aufl.) §. 56 flg. Schmid, Staatsr. §. 144. Meine deutsche Rechtsgesch. 3. Aufl. 1858. Thl. II. §. 72; und meine Schrift: Ueber hohen Adel und Ebenbürtigkeit, 1853. §. 78. K. H. Freih. Roth v. Schreckenstein, Geschichte der ehemaligen Reichsritterschaft in Schwaben, Franken und am Rheinstrom, Bd. I. Tübingen 1859.

7) Die erste urkundliche Anerkennung einer reichsfreien Ritterschaft findet man in der Aufforderung des K. Friedrich III. (IV.) an die Ritterschaft in Schwaben, dem schwäbischen Bunde zur Erhaltung des Landfriedens beizutreten. Urk. v. 1478, bei Datt, de pace publ. p. 286. Note 18. ,, So dann das Land zu Schwaben uns und dem hl. Reiche ohne alles mittel vor andern zugehörig, und keinen eigenen Fürsten hat."

8). Die schwäbische Ritterordnung ist v. 1560; die erste fränkische v. 1590; nach der Revision v. 1718 gedruckt 1772; die erste rheinische v. 1652. 9) Die im J. 1577 gestiftete Verbindung der drei Ritterkreise war 1650 erneuert worden.

10) Es bestand ein unter den drei Ritterkreisen auf deren Versammlungen (sog. Correspondenztagen) wechselndes Generaldirektorium,

III. Es wurde ein Verzeichniss (Ritter-Matrikel) über die zur Reichsritterschaft gehörigen Familien und Güter geführt 11). Man unterschied Realisten und Personalisten, je nachdem die Familie immatrikulirten reichsfreien Grundbesitz hatte oder nicht 12). Der Verlust oder die Veräusserung oder Mediatisirung der reichsunmittelbaren Güter zog daher auch, so lange das Reich bestand, den Verlust der persönlichen Reichsunmittelbarkeit keineswegs nach sich 13).

IV. Uebrigens war die Reichsritterschaft darauf bedacht, die bei ihr immatrikulirten Güter möglichst innerhalb ihrer Genossenschaft zu erhalten. Zu diesem Zwecke bestand ein

sodann für jeden Ritterkreis ein Specialdirektorium, im schwäbischen Ritterkreis stets geführt vom Canton Donau, in den beiden anderen Ritterkreisen unter den Cantonen wechselnd. Das Cantonsdirektorium bestand aus einem Ritterhauptmann, einigen Ritterräthen, einem Ausschuss und dem erforderlichen Kanzleipersonal. Die Cantone hiessen I. in Schwaben: 1) an der Donau; 2) im Hegau, Algau und am Bodensee; 3) am Neckar, am Schwarzwald und an der Ortenau; 4) am Kocher; 5) im Craichgau; II. in Franken: 1) Odenwald; 2) Gebürg; 3) Röhn-Werra, mit dem in besonderer Verfassung bestehenden Quartier (Viertel) Buchen; 4) am Steigerwald; 5) an der Altmühl; 6) an der Baunach; III. am Rhein: 1) Oberrhein-, 2) Mittelrhein- und Unterrheinstrom. Die beiden Cantone Ober- und Niederrhein waren schon durch den Lüneviller Frieden (1801) hinweggefallen.

11) Zur Reception eines neuen Mitgliedes gehörte stets Stimmenmehrheit, sowohl der Mitglieder in den einzelnen Cantonen, als auch sämmtlicher Cantone eines Kreises, und sodann Einstimmigkeit der drei Ritterkreise. Ein zu immatrikulirendes reichsfreies Gut musste mindestens 6000 Thlr. Werth haben. Dass ein solches Gut vom Kaiser oder einem Landesherrn zu Lehen ging, war kein Hinderniss seiner Anerkennung als reichsfrei. (Vasallagium non involvit homagium.)

12) Ausserdem konnten noch Grundbesitzer vorkommen (die auch von Einigen Realisten genannt wurden), welche ohne persönlich recipirt oder zur Reception in die Reichsritterschaft qualificirt zu sein, reichsfreie immatrikulirte Güter erworben hatten (siehe oben §. 103. XIII.). Die Reichsritterschaft übte über sie dieselben Rechte aus, wie über die wirklichen Reichsritter. Leist, Staatsr. §. 58.

13) Dies ist der Sinn der Parömie : Immediatus "" semper et ubique immediatus." Dass eine reichsunmittelbare Familie sich in dem Gebiete eines Landesherrn aufhielt, oder darin ihren Wohnsitz nahm, hob ihre persönliche Reichsfreiheit keineswegs auf. Leist, Staatsr. §. 21. II. Doch konnte sie dadurch in ihrer Religionsübung beschränkt werden. J. P. O art. V. §. 28. (Siehe deise Stelle unten Note 23).

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durch kaiserliche Privilegien bestätigtes sog. ritterschaftliches Retraktsrecht (retractus equestris) in der Art, dass sowohl alle Mitglieder der Reichsritterschaft, und unter diesen vor allen die Verwandten des Veräusserers, als auch das Ritter-Corpus selbst, das Recht hatten, die an einen Fremden veräusserten immatrikulirten Güter einzulösen 14).

V. Desgleichen suchte die Reichsritterschaft den Glanz der Familien durch Einführung eines eigenthümlichen Erbrechts aufrecht zu erhalten, wonach die Töchter nicht nur von der Erbfolge in die Stammgüter, sondern überhaupt sogar von aller väterlichen, mütterlichen und brüderlichen Hinterlassenschaft gegen eine geringe Aussteuer im Falle der Verheirathung, und vorbehaltlich des ledigen Anfalls, ausgeschlossen werden sollten. Wenn nun gleich das von der Reichsritterschaft angeblich im J. 1653 (Febr. 12) errichtete sog. Geislinger Statut 15) nicht nur seiner formellen Giltigkeit nach sehr zweifelhaft 16), seinem Inhalte nach sehr unbestimmt 17) und jedenfalls soviel gewiss ist, dass es die kaiser

14) Nach dem Privilegium Leopolds I. v. 1688 war für die Ausübung des Retraktes eine Frist von drei Jahren (a die denunciationis directoriae facta) bestimmt.

15) Abgedruckt in Burgmeister, reichsritterschaftl. Corp. Jur. (1707) p. 533; auch in Burgermeister, Cod. dipl. I. 515, u. in Emminghaus, Corp. Jur. Germ. (2. Aufl. 1844) p. 464.

16) Vergl. Reyscher, in der Zeitschr. für deutsches Recht, Bd. VI. 1842. S. 297 flg. Das angebliche Statut spricht selbst am Schlusse nur von den ,, sich zu diesem Statut verstehenden Mitgliedern", so dass es selbst die dissentirenden nicht binden will. Es soll nur von 45 Mitgliedern des Kantons Neckar-Schwarzach unterschrieben worden sein.

17) Das sog. Geislinger Statut erkennt übrigens das Erbrecht der Töchter an sich unbedingt an, und behält ihnen (und ihren ehelichen Leibeserben) ausdrücklich ihren vollen Erbtheil für den ledigen Anfall vor. Es setzt keine Abfindungs-Quote fest, sondern will darüber gütliche. Verständigung unter den Interessenten, und wenn diese nicht stattfindet, ein arbitrium des Cantonsdirektoriums. Der Pflichttheil, welcher den adeligen Töchtern nach dem gemeinen deutschen Rechte eben so gut wie den Bürgerstöchtern aus allem Vermögen ihrer Aeltern, welches nicht Stammgut ist, insbesondere der Mutter, und unter gewissen Voraussetzungen ihrer Brüder, gebührt, ist eben so, wie überhaupt der bei der Intestaterbfolge wesentliche Unterschied zwischen Stammgut und freiem Vermögen, das nicht diese Eigenschaft hat, bei dem sog. Geislinger Statut ganz

liche Bestätigung nicht erhalten hat, so haben doch mehrere reichsritterschaftliche Familien ähnliche Grundsätze wirklich seither praktisch beobachtet 18), woraus aber noch keineswegs geschlossen werden darf, dass sich die Töchter solcher Familien die Anwendung derselben gegen ihren Willen und somit die Schmälerung ihres im gemeinen Reichsrechte begründeten Pflichttheilsrechts gefallen lassen mussten 19), es wäre denn,

unberücksichtigt geblieben. Dies haben auch die Praktiker des vorigen Jahrhunderts wohl gefühlt, und daher die Bedeutung des Geislinger Statuts von jeher auf das wirkliche Stammgut eingeschränkt. Vergl. Kerner, Staatsr. d. fr. Reichsrittersch. I. S. 92 flg.

18) Bei der Ritterschaft in Schwaben bekam ein,, verziehenes", d. h. verzichtetes Fräulein nach allgemeinem Gebrauch 2500 fl. zum Heirathgut. (Kerner, 1. c. S. 94); bei einigen fränkischen Familien sogar nur 2000 fl.

19) Mit Unrecht würde man in dem sog. Geislinger Statut mindestens ein Zeugniss einer allgemeinen reichsritterschaftlichen Observanz in dem Sinne eines rechtsverbindlichen Herkommens sehen. Wenn das sog. Geislinger Statut auch gleichwohl auf,, unvordenkliches Herkommen und üblichen Gebrauch" Bezug nimmt, so ist nicht zu übersehen 1) dass eine solche Uebung, so langjährig sie auch sein möchte, die so sehr gegen alle Grundsätze des gemeinen Rechts verstösst, und die Töchter nicht blos von der Folge in das Stammgut, sondern überdies von der Intestaterbfolge. in die übrige Hinterlassenschaft der Aeltern und Brüder verdrängen will, welche doch das gemeine Reichsrecht jedem Kinde ohne alle Standesrücksichten wenigstens bis zum Betrage des Pflichttheils verbürgt, an sich vielmehr eine abusio oder corruptela, als ein usus bonus ist; 2) dass sich der Kaiser in mehrfachen Rescripten, z. B. Ferdinand III. d. d. Wien 25. Mai 1652 (Burgmeister, S. 663) ausdrücklich gegen eine solche Nichtbeachtung des Pflichttheilsrechts der adeligen Töchter bezüglich der Hinterlassenschaft, die nicht Lehen- oder Stammgut ist, erklärt hat; ferner 3) dass ohne ausdrückliche kaiserliche Confirmation (s. unten Nr. XI) keine solche Bestimmung in ein Ritterstatut noch in ein Hausstatut einer reichsfreien Familie hätte aufgenommen werden dürfen, und dass daher 4) den neuerdings sich verheirathenden Töchtern rechtlich nicht angesonnen werden kann, sich eine Ausschliessung und Beschränkung, die so sehr gegen alle Grundsätze des Reichsrechts anstösst, blos darum auch gefallen zu lassen, weil andere vor ihnen aus Gutmüthigkeit oder Unkenntniss der Rechte sich dieselbe gutwillig haben gefallen lassen. Uebrigens soll hiermit nicht geläugnet werden, dass der Adel auch in anderen Theilen von Deutschland bemüht war, ähnliche Beschränkungen der Töchter zu Gunsten seines Mannsstammes durchzusetzen. Vergl. die Vereinigung der Ritterschaft des Hochstifts Osnabrück über Absteuer und Verzicht adeliger Töchter, bestätigt v. König v. Grossbritannien als Vaters des Bischofs v. 15. Mai 1778, in Möser. patr. Phant. IV. 242. Vergl. das Mandat des Kurfürsten

dass ein jetzt noch giltiges Hausstatut sie dazu verpflichtete 20).

VI. Weder die Reichsritterschaft in ihrer Gesammtheit, noch die einzelnen Reichsritter hatten Reichsstandschaft. Manche Mitglieder derselben hatten im Laufe der Zeit Grafentitel erworben, wodurch aber in ihrer staatsrechtlichen Stellung keine Veränderung bewirkt wurde.

VII. Die Beschlüsse des Reichstags über Reichssteuern erstreckten sich nicht auf die Reichsritterschaft. Mitunter bewilligte sie aber dem Kaiser in Folge besonderer Verhandlung und Verständigung sogen. Caritativ-Subsidien (subsidia caritatis), für welches Ansinnen des kaiserlichen Hofes die Rücksicht auf den kaiserlichen Schutz, so wie der Umstand die Grundlage bildete, dass von den Reichsrittern der Reichskriegsdienst nicht mehr wie in früheren Zeiten in Person und auf eigene Kosten geleistet zu werden brauchte 21).

VIII. Die reichsfreien Besitzungen der Reichsritter wurden als wirkliche Gebiete (territoria) betrachtet, in welchen ihnen als Gutsherren landesherrliche Rechte 22), namentlich sogar das für wesentlich im Begriffe der Landeshoheit liegend geachtete jus reformandi zustand 23). Doch waren sie wegen

Ferdinand Maria von Bayern, v. 20. April 1672, in Lünig, Corp. Jur. Feud. II. pag. 235. Beseler, v. d. Erbverträgen, Th. II. Bd. II. S. 286. Dass der Verzicht der Töchter auf die mütterliche Erbschaft kein nach gemeinem Adelsrecht nothwendiger war, erkennt auch Beseler, a. a. O. S. 283 an.

20) Hierzu würde, abgesehen von dem Einflusse, welchen die Auflösung des deutschen Reiches zum Theile hinsichtlich der Hausgesetze adeliger Familien hervorgebracht hat, jedenfalls gehören, dass ein solches Hausgesetz die kaiserliche Confirmation erlangt hätte (siehe unten Nr. XI.).

21) Leist, de subsidio caritativo nobil. imp. immed. Götting. 1793. Zuletzt soll sich der Kaiser mit der Reichsritterschaft über eine jährliche Zahlung von 10,000 fl. verglichen haben. Häberlin, Hdbch. III. S. 548; eine geringe Summe, im Verhältniss zu den 1475 reichsfreien Rittergütern, die man noch im J. 1793 zählte.

22) Ueber den praktisch bedeutungslosen Streit, ob die Regierungsgewalt der Reichsritter in ihren Territorien Landeshoheit genannt werden dürfe, siehe §. 103. Note 5.

23) J. P. O. art. V. §. 28. „,Libera et immediata Imperii Nobilitas, omniaque et singula ejus membra, una cum subditis et bonis suis feudalibus et allodialibus, nisi forte in quibusdam locis ratione bonorum et respectu Zöpfl, Staatsrecht. 5. Aufl. I. 17

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