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nenne ich die Gesamtheit der Theorien, welche das Individualprinzip ins Extrem verfolgen, d. h. das Dogma, dass der Staat, die organisierte Gesellschaft, um des Einzelnen willen da ist, dass Staat und Recht in den Dienst der Einzelinteressen gestellt werden müssen, während das Sozialprinzip die Einzelnen als Organe des Staatsinteresses und Pflicht nimmt.<<

Wir bezweifeln sehr, dass jemals diese Definition in der wissenschaftlichen Terminologie Aufnahme finden wird. Man kann wohl bei Charakterisierung der einzelnen Autoren hervorheben, ob sie Vertreter des Sozial- oder des Individual-Prinzips seien; wenn man aber diese dogmatischen Eigentümlichkeiten zur Grundlage der Klassifikation macht, so trennt man dadurch solche Sozialisten, die zusammengehören, weil sie dieselben Mittel zu sozialer Reform vorschlagen, und man bringt anderseits solche Sozialisten, die grundverschiedene praktische Vorschläge machen, zusammen, nur weil sie von denselben Dogmen ausgehen; die Konsequenz der Definition Dietzels wäre daher, dass man z. B. Proudhon zu den Kommunist en zählen müsste, weil er vom Individual-Dogma ausgeht, obwohl gerade dieser Sozialist einer der heftigsten Gegner des Kommunismus ist. Ob sich jemals der Sprachgebrauch wird daran gewöhnen können, die Kommunisten als Vertreter des Individualprinzips zu bezeichnen, scheint uns besonders zweifelhaft. Dazu kommt noch ein weiterer Grund gegen Dietzel's Definition; dies ist die Schwierigkeit der praktischen Durchführung dieser Terminologie; es ist zu verwundern, dass ein so gründlicher Kenner der sozialistischen Litteratur, wie Dietzel, die Schwierigkeit so gering angeschlagen hat, die darin besteht, die Autoren überhaupt nach seinem Schema zu klassifizieren. Wie vielfach haben Sozialisten

und nicht die unbedeutendsten darunter ihre sozialpolitischen Postulate teils vom Sozial- teils vom Individual-Prinzip aus verteidigt. Wir schlagen daher vor, zunächst die oben angegebene allgemeine Definition des Sozialismus zu geben, und dann nach den praktischen Vorschlägen die Abarten des Sozialismus zu unterscheiden, z. B. als Sozialismus im engeren Sinne diejenige Richtung, welche nur die Produktionsmittel, Kommmunism us diejenige, welche die Produktionsund Konsumtions-Mittel, Bodenverstaatlichungsparte i diejenige, welche nur den Boden ins Gemeineigentum überführen will.

Doch dies sind nur kleine Differenzpunkte, die kaum ins Gewicht fallen gegenüber der sonst fast völligen Uebereinstimmung, in der sich Ref. mit dem Verf. befindet, was die Darlegung der Rodbertus'schen Ideen sowohl, als deren Kritik betrifft. Wir möchten mit dem Wunsche schliessen, dass der Verfasser seinen bisherigen so überaus verdienstvollen Publikationen über Rodbertus nun recht bald weitere über die nationalökonomisch-theoretischen Anschauungen des grossen Meisters folgen lassen möge. Halle. Dr. Karl Diehl.

I. Abhandlungen.

Zur rechtsphilosophischen Theorie des Ausnahme

rechtes.

Von Dr. Schäffle.

I. Zum Begriff des Ausnahmerechtes.

Das Ausnahmerecht lässt sich in einem weiteren und in einem engeren Sinne auffassen.

Im weiteren Sinne umschliesst es alle Gesetze, Verordnungen und Verfügungen, rechtlich erlaubten Regierungs- und Verwaltungsmassregeln, welche einzelne (singulos) im selben Falle oder Lebensverhältnisse rechtlich abweichend von dem für alle andern Glieder des Gemeinwesens geltenden Rechte behandeln. Es ist kurz jus singulare im Gegensatz zum jus commune. In diesem weiteren Sinn bedeutet das Ausnahmerecht alles und jedes Singularrecht im Gegensatz zur gemeinrechtlichen Gesetzgebung und Verwaltung, ob dasselbe Bevorrechtung (Privilegierung), oder Entrechtung und Rechtsbeschränkung (Zurücksetzung) vollzieht, ob es als befristetes oder als unbefristetes (»ewiges «) Recht auftritt, ob es im materiellen Rechte oder im Verfahren und in den Organen der Ausübung des Rechts Einzelne abweichend vom gemeinen Recht behandelt, ob es offen oder versteckt, d. h. in gemeinrechtlicher Verkleidung auftritt.

Im engeren Sinne heisst nur ein sehr begrenzter Teil des Singularrechts Ausnahmerecht. Wir werden diese engste Abgrenzung des neustzeitlichen Sprachgebrauches alsbald finden.

Zeitschr. £ Staatsw. 1891. IV. Heft.

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Zunächst gilt es, den Begriff, den allgemeinen Charakter des Singularrechts, welchen auch das neuzeitliche Ausnahmerecht an sich trägt, genauer festzustellen und über die Gesamtheit der singularrechtlichen Erscheinungen kurze Ueberschau zu halten.

So fragt es sich zuerst, wie sich das Ausnahmerecht im weitern Sinn von scheinbar oder wirklich verwandten Rechtsthatsachen abhebe.

Zuerst wie stellt sich das Ausnahmegesetz zum sogenannten provisorischen Gesetz? Unter provisorischen Gesetzen versteht der Sprachgebrauch Rechtsnormen, welche verfassungsmässig nur im Wege der Gesetzgebung zu stande kommen sollen, weil sie verfassungsgemäss der Zustimmung der Volksvertretung bedürfen, thatsächlich aber einseitig von der Regierungsgewalt, vorbehältlich späterer Zustimmung der Volksvertretung, aufgestellt werden. Solche provisorische Gesetze können, müssen aber nicht Ausnahmsgesetze sein. Durch sie lässt sich wohl auch gemeines Recht provisorisch herstellen. Wir lassen sie hier bei Seite; ihre Begrenzung ist im Verfassungsstaat, in welchem sie allein von den ordentlichen Gesetzen sich abheben, ganz unbestritten dahin geregelt, dass sie der nachträglichen Zustimmung der Volksvertretung bedürfen.

Wie stellt sich wirkliches Singularrecht zu einer zweiten nahestehenden Gattung, zu den ausserordentlichen Gesetzen, zu den gesetzgeberischen Ausflüssen des sog. Staats notrechts im engeren Sinn. Ausserordentliche oder Notgesetze können für bestimmte Zeit oder für jeden ausserordentlichen Staatsnotfall auf unbestimmte Dauer, sei es von der Regierung allein als provisorische Gesetze, oder von der Regierung in Uebereinstimmung mit der Volksvertretung als definitive Gesetze erlassen werden. Sie sind aber nicht notwendig Ausnahmsgesetze, sondern können ausserordentliche Verfügungen sein, welche für alle im Staatsgebiet oder in bestimmten Bezirken desselben weilenden Rechtssubjekte Geltung haben. Soweit unter denselben Voraussetzungen alle gleich behandelt werden, sind es gemeinrechtliche Gesetze und Verwaltungsmassregeln ausserordentlicher Art. Das Martialgesetz, die Gesetzgebung über

den Belagerungszustand, die Aufruhrakte müssen nicht Ausnahmsgesetze sein, so sehr sie als ausserordentliche Gesetze, als Notgesetze von dauernder oder vorübergehender Geltung sich darstellen. Die wirklich singulären Massregeln der Ausnahmegesetzgebung können gerade den Zweck haben, den grösseren Druck gemeinrechtlicher Notmassregeln zu umgehen, z. B. den grossen Belagerungszustand für alle durch den »kleinen Belagerungszustand für einzelne zu ersparen.

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Es ist weiterhin nicht statthaft, den Begriff des Ausnahmegesetzes bei dem Begriff der Spezialgesetzgebung unterzustecken. Man hat in den jüngsten Reichstagsverhandlungen dem Socialistengesetz diesen Mantel umzuhängen und demselben den Charakter eines Ausnahmegesetzes beschönigend abzustreifen gesucht, indem man es vielmehr als ein Spezialgesetz näher als ein sicherheitspolizeiliches Spezialgesetz kennzeichnen wollte. Der Versuch ist sehr unglücklich gewesen und logisch undurchführbar. Versteht man nämlich unter Sonder- oder Spezialgesetzen solche Gesetze, welche eine mehr oder weniger eng begrenzte Rechtsmaterie in besonderen Verabschiedungen gesetzgeberisch erledigen, welche mit a. W. von der kodifikatorischen Zusammenfassung oder vom Wesen eines Hauptgesetzes mehr oder weniger weit entfernt sind, so ist ein Sondergesetz darum nicht notwendig gemeines Recht für alle, obwohl es solches thatsächlich in den meisten Fällen sein wird. Dasselbe kann auch den Charakter der Ausnahmegesetzgebung an sich tragen, wie dies z. B. für das Socialistengesetz ganz zweifellos zutraf. Umgekehrt kann im obersten Grundgesetz der Nation Ausnahmerecht enthalten sein, z. B. wenn einer Klasse, Konfession, Rasse, Berufsart verfassungsmässige Vorrechte oder Beschränkungen zugedacht sind, die allgemein sein sollten. Nach seinen beiden Seiten deckt sich also auch der Gegensatz des Sonderund des Hauptgesetzes, des Ausführungs- und des Kodifikationsgesetzes mit dem Gegensatz der Ausnahme- und der gemeinrechtlichen Gesetzgebung und Verwaltung nicht.

Es sind viertens nicht zu verwechseln Ausnahmegesetze und ausserordentliche Gesetzesstrengen, beziehungs

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