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Die Verblendung Napoleon's, statt der im Westen und im Gebiet des Handels zu machenden Conceffionen an Eng land, dessen Demüthigung auf dem Abenteuerwege durch einen russischen Krieg zu versuchen, war nicht ohne sorglichen Bedacht über das Ungeheure des Wagnisses; es wird erzählt, Mollien, Gaudin, Duroc, der åltere Segur, Caulaincourt ». hatten ihm abgerathen und er ihre Vorstellungen willig ange: hört; es ist wahr, gegen Vorstellungen der Art war er nie únempfänglich gewesen, aber schwerlich haben dergleichen in dem Maße, wie Segur erzählt, stattgefunden "7). Wenn fie aber auch Eindruck auf Napoleon machten und dieser hinfort die Unterhandlungen zur friedlichen Ausgleichung mit Rußland ernstlich fortsette, so hatte doch am Ende auch die Kriegslust ihre Stimme, und genehmer war es ihm, durch einen Krieg gegen Rußland, als durch Nachgeben gegen England zum Ziel zu kommen. In diesem Motive zum Kriege und in der Art, wie er ihn führte, liegen die Fehler, die ihm zuzu: rechnen sind; zum Losschlagen selbst aber war Alexander bereiter als Napoleon. Während dieser Aufträge zur Erhaltung des Friedens an Lauriston in Petersburg, und am 25. Apr. Vorschläge an Kurakin in Paris ergehen ließ, ja Narbonne zum außerordentlichen Botschafter ausersah, Ulerander ein Schreiben mit Vorschlägen zu überbringen 8), hatte Alexander schon in der Mitte Aprils fein Ultimatum an Kurakin abgehen lassen und darauf (21. Apr.) sich nach Wilna begeben; jenes, von Kurakin am 27. Apr. überreicht, begehrte in schneidendem Tone Entfernung aller französischen und Bundestruppen aus Preußen und Schwedisch-Pommern "); die Verhandlungen aber lösten sich so gut von Paris wie von Petersburg. Napoleon verließ, von der Kaiserin begleitet, am 9. Mai Paris und gelangte am 16. Mai nach Dresden. Die große Armee war schon an die Weichsel gelangt.

Wir werfen bei dem Aufbruche Napoleon's zur russischen Heerfahrt einen Scheideblick auf das Innere Frankreichs, das

47) Bignon 10, 468.

48) Derf. 10, 471. Boutourlin 1, 72, Thibaud. 9, 49) Ders. 10, 483.

5.

uns von nun an geraume Zeit hindurch nur selten beschäftigen wird. Das gefeßgebende Corps ward diesmal nicht zur Bewilligung des Budgets zusammenberufen. In Folge der schlechten Ernte von 1811 entstand empfindlicher Mangel; Napoleon veranstaltete Suppenaustheilungen und erließ, ohne durch die Erinnerung an den Terrorismus abgemahnt zu werden, ein Geseß, das für den Getreidepreis ein Maximum bestimmte, eine despotische Machtäußerung, die den Zustand nur zu verschlimmern geeignet war und auch bald aufgegeben wurde. Wie hier in den materiellen Interessen, so suchte Napoleon auch in den geistigen, wo nicht einer drückenden Spannung abzuhelfen, doch sich gegen eine Gefahr sicher zu stellen; er befahl, dem Papste den Palast von Fontainebleau zur Wohnung anzuweisen und ihm hier mit der äußersten und ehrendften Auszeichnung zu begegnen. Das Kreuzen einer englischen Escadre an der genuesischen Küste und die Furcht, es werde eine Entführung des Papstes von Savona beabsichtigt, scheint Anlaß dazu gegeben zu haben 5o).

Napoleon's Aufenthalt in Dresden dauerte vom 16. bis 29. Mai. Kaiser Franz mit seiner Gemahlin, König Friedrich Wilhelm mit dem Kronprinzen und sämmtliche Rheinbundfürsten erschienen, dem Gewaltigen Ehre zu bezeugen. Wie wenn ihm dafür die Völker zugejauchzt hätten! Die Feste in Dresden hatten kein Leben, keine Seele; die Huldigungen hatten Sorge und Unmuth im Hinterhalt. Für Napoleon war das Berweilen daselbst peinlich: er harrte auf Antwort von Wilna; ihm war es nicht um Feste zu thun; seine Gedanken richteten sich von dem festlichen Fürstengedränge um ihn her nach dem Feldlager. Ein halbe Million Streiter waren Napoleon voraus im Marsche; sie zu leiten war auch dieses Mal Berthier's Sorge; für Napoleon war die Hauptfrage noch eine diplomatische. Diese mußte sich mit Narbonne's Ankunft lösen. Inzwischen sandte Maret noch am 20. Mai an Lauriston den Befehl, sich von Petersburg nach Wilna zu begeben. Eine andere Seite hatte die außerordentliche Mission nach Warschau, wozu der Erzbischof von Me

50) Thibaud, 9, 9. 13.

cheln, de Pradt, am 24. Mai ernannt wurde; hier galt es Rüstzeug zum Kriege; er sollte den öffentlichen Geist der Polen für Napoleon bearbeiten. Ursprünglich war dieser Auftrag Talleyrand zugedacht gewesen; Napoleon, voll Argwohn gegen ihn, hatte ihn nicht in Paris zurücklassen wollen: doch es unterblieb, wegen einer Indiscretion Talleyrand's "1), zu Napoleon's Nachtheil. De Pradt genügte seinem wichtigen Auftrage nur in geringem Maße 52). Narbonne kam am 28. Mai in Dresden an; sein Bericht, daß Alexander auf dem Ultimatum vom April beharre 53), bestimmte Napoleon zu sofortigem Aufbruch; er verließ am 29. Mai Dresden. Er schien nicht långer von der Hoffnung, Ulexander werde nachgeben, befan gen; am 12. Juni erhielt Lauriston den Befehl, seine Påffe zu fordern. Schon am 19. Juni ging eine Meldung Lauriston's ein, daß ihm nicht gestattet worden sei, sich nach Wilna zu begeben, und daß nicht an Frieden zu denken sei. Darauf sprach Napoleon das berühmte Wort: Wir wollen als eine Gunst die Gelegenheit annehmen, die uns Gewalt anthut"). Sein bisheriges gesammtes Vertrauen auf ein: schüchternden Erfolg von Unterhandlungen und Rüstungen, auf die Macht seines Geistes über Alerander hat das Damonische der Ute; wir werden unten sehen, wie auf dem Schutte von Moskau sein Berderben aus jenem, auch damals von ihm nicht ganz gewichenen Wahne hervorging. Aus der spåtern heillosen Befangenheit erklärt sich vollkommen die frůhere; zugleich auch wol die mit vollem Grunde Napoleon als arger Fehler angerechnete Verspätung des Feldzuges. Er hatte gezögert, weil er nicht fest zum Kriege entschlossen war. Die schlechte Ernte des J. 1811, der Verrath Michel's und andere Nebenursachen können wenig in Betracht kommen. So war schon ein Theil des Frühjahrs verflossen, als er den Krieg

51) Thibaud. 9, 5.

52) Davon zeugt selbst seine Histoire de l'ambassade dans le grand-duché de Varsovie. Par. 1815, nebenbei ein Eselsfußtritt auf den gefesselten Löwen.

53) Thibaud. 9, 21.

54) Bignon 10, 489 f.

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begann. Daß hiebei nun alle Vortheile eines nationalen Wehrkrieges für die Russen waren, konnte Napoleon nicht åndern, denn sie blieben in ihrem Lande. Die Geschichte Karl's XII. ist reich an Lehren, was ein Krieg im Innern Rußlands zu bedeuten habe und wie er nicht zu führen sei: hat Napoleon etwas daraus gelernt? Das Vertrauen zu seiner Meisterschaft im Kriege, seiner kolossalen Macht und zu seinem Glücke war wol geeignet, ihn Siege hoffen zu lassen; der Krieg war eine Nothwendigkeit geworden; über den Unfang ist mit Napoleon nicht zu rechten; seine Verblendung über die Natur des russischen Landes und Volkes und seines Fürsten ward erst später unheilvoll für ihn und sein Heer. Talleyrand's angeblich damals, vielleicht spåter, vielleicht gar nicht gesprochenes Wigwort: es ist der Anfang des Endes", war beim Beginn des Krieges noch so zweideutig wie der Pythia Spruch, als Krösus über den Halys gehen wollte; die furchtbare Katastrophe der Armee Napoleon's hat er schwerlich vorausgesehen.

Im Juni gelangte die große Armee an den Niemen. Wir blicken jezt auf das Heer, dessen Stärke, Bestandtheile und ihre Zusammenseßung und Unführung. Nimmermehr wird zur Gewißheit über die erstere zu gelangen sein; die Ungaben find um einige hunderttausend Mann von einander verschieden; die höchste, 700,000 M., bedarf sicherlich der Ermáßigung; doch ist es ein Anderes, wenn das gesammte Aufgebot zu jenem Kriege, die Menge Nichtsoldaten in Begleitung des Heeres, die Besatzungen und Reserven im Rücken der großen Armee, und wenn nur die Mannschaft, welche den Niemen überschritt, gerechnet wird. Wir lassen die Listen Chambray's folgen, dessen Angaben aus den Etats der Armee genommen find, zweifeln aber nicht, daß die Zahlen, wenn es die wirkliche Streitbare Mannschaft gilt, auch hier zu ermäßigen find.

Bei dem Generalstabe der Armee befanden sich Murat, der seinen Groll einstweilen hatte ruhen lassen und als Befehlshaber der gesammten Reiterei beim Heere war, Berthier, und als Napoleon's Udjutanten Junot, Lebrun, Mouton, Durošnel, Hogendorp, Narbonne, wozu in Danzig noch Rapp kam; ferner mit verschiedenen Ämtern die Divisionsgenerale Sokolnicki,

cheln, de Pradt, am 24. Mai ernannt wurde; hier galt Rüstzeug zum Kriege; er sollte den öffentlichen Geist der P len für Napoleon bearbeiten. Ursprünglich war dieser A trag Talleyrand zugedacht gewesen; Napoleon, voll Argwo gegen ihn, hatte ihn nicht in Paris zurücklassen wollen: doch unterblieb, wegen einer Indiscretion Talleyrand's "1), zu N poleon's Nachtheil. De Pradt genügte seinem wichtigen A trage nur in geringem Maße 52). Narbonne kam am 28. M in Dresden an; sein Bericht, daß Alexander auf dem Ultim tum vom April beharre 53), bestimmte Napoleon zu fofortige Aufbruch; er verließ am 29. Mai Dresden. Er schien nic långer von der Hoffnung, Ulerander werde nachgeben, befa gen; am 12. Juni erhielt Lauriston den Befehl, seine Pås zu fordern. Schon am 19. Juni ging eine Meldung La riston's ein, daß ihm nicht gestattet worden sei, sich na Wilna zu begeben, und daß nicht an Frieden zu denken se Darauf sprach Napoleon das berühmte Wort: Wir wolle als eine Gunst die Gelegenheit annehmen, die uns Gewal anthut"). Sein bisheriges gesammtes Vertrauen auf ein schüchternden Erfolg von Unterhandlungen und Rüstungen auf die Macht seines Geistes über Alexander hat das Dáme nische der Ate; wir werden unten sehen, wie auf dem Schutt von Moskau sein Berderben aus jenem, auch damals vo ihm nicht ganz gewichenen Wahne hervorging. Aus der spá tern heillosen Befangenheit erklärt sich vollkommen die frü here; zugleich auch wol die mit vollem Grunde Napoleon als arger Fehler angerechnete Verspätung des Feldzuges. hatte gezogert, weil er nicht fest zum Kriege entschlossen war Die schlechte Ernte des J. 1811, der Verrath Michel's und andere Nebenursachen können wenig in Betracht kommen. So war schon ein Theil des Frühjahrs verflossen, als er den Krieg

51) Thibaud. 9, 5.

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52) Davon zeugt selbst seine Histoire de l'ambassade dans le grand-duché de Varsovie. Par. 1815, nebenbei ein Efelsfußtritt auf den gefesselten Löwen.

53) Thibaud. 9, 21.

54) Bignon 10, 489 f.

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