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wurden die der Verfassung und Freiheit so nachtheilig gewesenen Wahlartikel der Verordnung vom 13. Jul. 1815, námentlich Doppelheit der Wahlcollegien (le double vote), des Arrondissements und des Departements, und Besetzung des lettern mit den Höchstbesteuerten, beseitigt, dem Einfluß der großen Gutsbesiger, deren Mehrzahl auch jezt noch aus altem Adel bestand, Schranken geseht und dem wohlhabenden Mittelstande die eigentliche Macht bei den Wahlen zu Theil. Der Artikel vom Wegfall des Gehalts für die Deputirten, dem thatsächlich schon bei der Kammer von 1815 Verzicht der Deputirten darauf vorausgegangen war "), konnte wol auf Erzeugung einer günstigen Ansicht von echt patriotischer Stimmung in der Kammer und auf günstige Ansicht des Volkes von seinen Vertretern wirken. An der Charte ward durch das Wahlgeseh nichts geändert, vielmehr kam man zu ihr zurick; sie hatte in Gefahr geschwebt; jezt erst schien sie sichergestellt zu sein; man freute sich ihrer als eines neugewonnenen Gutes. Royer-Collard sagte: „Die ganze Charte ist durch dies Geset gegangen" 18).

Demnächst lag es im Sinne der Nation, daß die Gesetze vom 29. Oct. und 9. Nov. 1815 über Beschränkung der individuellen Freiheit und über Preßvergehen, desgleichen die durch das Gesetz vom 8. Aug. 1815 verordnete Aufsicht über die Journale, wo nicht abgeschafft, doch gemildert würden. Das Ministerium war sich dessen bewußt; schon am 7. Dec. legte es der Deputirtenkammer Gesehentwürfe darüber vor 19). Sie lauteten nicht auf gänzlichen Wegfall der außerordentlichen Verhaftungen und der Aufsicht über die Journale; es mußte bei Beschränkung der Presse Rücksicht auf die Spåherblicke der Verbündeten genommen werden; ungezügelt würde sie sich in Schmähungen gegen diese ergossen und dies einen Grund gegeben haben, Frankreich als noch nicht beruhigt anzusehen und die Occupation zu verlängern. Gegen beide Gesehentwürfe traten die Ultras der Rechten, Villèle, Castelbajac,

17) Lacretelle 2, 146.

18) La charte toute entière a passé par cette loi.
19) Moniteur 1816, 1347.

Labourdonnaye, Salaberry, in Opposition, als sei es ihnen um vollkommene Sicherstellung der persönlichen Freiheit und um Gedanken- und Redefreiheit zu thun. Sie verstanden recht wohl, ihr Parteiinteresse, dem es nur darauf ankam, dem Ministerium Hindernisse in den Weg zu legen, unter stattlichem Schein zu verstecken. Doch fiegte auch hier das Ministerium. Von den Männern des linken und rechten Centrums unterstügten Camille - Jordan, de Serre, Courvoisier, Ravez, Duvergier de Hauranne und mit gewichtigem Worte Royer Collard die Minister 20). Von der äußersten Linken redeten nur einige Deputirte gegen den Entwurf; ihnen mangelte der volle Nachdruck, weil die Gleichartigkeit ihrer Vota mit denen der äußersten Rechten des guten Scheins ermangelte, und noch nicht die Leidenschaftlichkeit das Zusammenwirken der beiden schroff einander entgegenstehenden Extreme für natürlich erachten ließ. Das Gesetz über individuelle Freiheit, vom 12. Febr. 1817 21), beschränkte die außerordentlichen Verhaftungen auf den Fall, daß Jemand des Complots oder der Umtriebe gegen die Person des Königs, die Sicherheit des Staats oder die Personen der königl. Familie bezichtigt sei, und gestattete die Gefangenhaltung nur kraft eines vom Präsidenten des Ministerraths und vom Policeiminister unterzeichneten Befehls. Das Gesez vom 29. Oct. 1815 folle abgeschafft sein und das gegenwärtige am 1. Jan. 1818 seine Giltigkeit verlieren. Die Beschränkung der Preßfreiheit kraft des Gesetzes vom 28. Febr. 22) ging darauf

20) Les journaux, fagte er, sont des écrits particuliers qui, allant trouver le public et se renouvelant sans cesse comme la parole, participent de la nature des allocutions publiques; on ne doit pas méconnaître que là où il y a des partis, les journaux cessent d'être les organes des opinions individuelles, mais que voués aux intérêts qui s'en emparent, voués à leurs intérêts, instrumens de leur politique, théâtre de leurs combats, leur liberté n'est en vérité que la liberté des partis déchainés! S. seine gesammten Reden über die beiden Gesezentwürfe Moniteur 1817, p. 44. 45. 80. 109.

21) Duverg. 21, 91.

22) Ders. 21, 98: Les journaux et écrits périodiques ne pourront paraître qu'avec l'autorisation du Roi.

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hinaus, daß bis zum 1. Jan. 1818 alle Journale von der Autorisation des Königs abhängig gemacht wurden. Kürzer als dies Gesetz war noch keins über diesen Gegenstand gefaßt gewesen.

Eine höchst dringliche Angelegenheit war ferner das Budget. Die Kriegssteuer, die Occupation, die Rückstände drückten schwer und die Berechnung der Schuldforderungen, die Frankreich kraft des 19. Artikels des ersten Pariser Friedens vergüten follte, ward von Seite der Verbündeten höher und höher gesteigert. Das Deficit betrug gegen 250 Mill. Franken. Die Regierung hatte mit den beiden ausländischen Bankiers Baring und Hope über eine Anleihe unterhandelt' und darüber waren die französischen Bankiers, namentlich Cafimir Perier, in Unmuth gerathen 23). In den Kammern aber war die Opposition der Rechten gegen Veräußerung von Staatswaldungen noch sehr lebhaft. Es war in der That schwer zu helfen. Schon am 14. Nov. 1816 hatte der Finanzminister das Budget an die Deputirten gebracht. Roy und Beugnot berichteten darüber. Ersparungen, Verkauf von Waldungen zc. follten Hilfe schaffen. Über Bonald, durch das oben angeführte Gefeß, welches Schenkungen an den Klerus erlaubte, für das Budget nicht günstiger gestimmt, eiferte wider Verkauf von Staatswaldungen, weil darunter auch vormalige Waldungen des Klerus begriffen waren, und Clauzel-de-Coussergues ging so weit, den Ministern zur Last zu legen, daß sie spanischen Flüchtlingen Unterstüßung zukommen ließen 24). Jenem entgegnete Camille-Jordan 25), diesem Laine, beide mit trefflichen Reden 26). Richelieu wandte sich indessen an Kaiser Alexander, um den Abzug eines Theils der Occupationsarmee zu erlangen und durch frohe Kunde auf die Stimmung der Kammer zu wirken "). Seine Vorstel

23) Hist. de la rest. etc. 5, 156, 157.

24) Moniteur 1817, p. 250.

25) Daf. p. 268.

26) Das. p. 252. Abgedruckt b. Lacretelle 2, 168. Sie ist ein herrliches Denkmal wackerer Gesinnung.

27) Hist. de la rest. etc. 5, 171.

Bachsmuth, Gesch. Frankr. im Revol.-Zeitalter. IV. 33

lungen hatten, da auch Wellington sich günstig über Frankreichs politische Zustände äußerte, guten Erfolg. Eine Note vom 10. Febr. gab nebst dem Ausdrucke der Zufriedenheit mit den dermaligen Zuständen Frankreichs die Bereitwilligkeit der Verbündeten, die Last desselben theilweise zu erleichtern, zu erkennen. Ein Fünftheil der Occupationsarmee, 30,000 M., follte am 1. Apr. Frankreich räumen. Das machte ungemein günstigen Eindruck auf die Kammern. Das Finanzgesetz wurde großentheils genehmigt und am 25. März 1817 bekannt ge macht 28). Zunächst einige Modificationen der vorjährigen Verordnung über die Rückstände (l'arriéré), die hinfort als Staatsschuld in das große Buch eingetragen werden könnten; dann nachträgliche Fixation der Budgets von 1814, 1815 und 1816, Bestimmung des Budgets von 1817, nämlich für die consolidirte Schuld und den Tilgungsfonds 157,000,000 Franken, ordentlicher Ausgaben 481,345,967 Fr., außerordent: licher 430,915,859 Fr., zusammen 1,069,261,826 Fr. Dars auf Bestimmung, daß Pensionen künftig nur nach Bekannt machung im Gesehbulletin ertheilt werden und nie doppelt oder neben einem Staatsgehalte stattfinden, auch die Gesammtsumme für Pensionen nie über 23 Millionen jährlich betragen sollte. Unter der Einnahme wurden die Patentsteuer und die indirecten Steuern neuen Ansåhen unterworfen. Alle Staatswaldungen wurden der Tilgungscaffe (caisse d'amortissement) überwiesen, mit Ausnahme von vier Millionen Renten zur Ausstattung kirchlicher Institute und Personen 29). Veräußerung von Waldungen sollte vom Jahre 1818 an in gewissem Maße stattfinden. Also ward diesmal ein Hauptpunct der vorjährigen Opposition der Priesterpartei beseitigt. - Die Zahlungen an die Verbündeten gingen ohne Stockungen ihren geregelten Gang.

Die Sihungen der Kammern wurden am 26. März 1817 geschlossen.

28) Duverg. 21, 109.

29) Art. 143 ff. über die Vertheilung der dem Klerus bestimmten Gelder f. Verordnung v. 9. Apr. Duverg. 21, 42. Es ward Bedacht genommen auf soulager la classe la plus nombreuse et la moins aisée des ministres de la religion.

Regierung und Volk seit der Kammer von 1816.

Die Minister, bei denen am 19. Jan. 1817 an d'Ambray's Stelle Pasquier als Justizminister trat, wurden trefflich durch ihnen gleichgestimmte und hochbefähigte Beamte in den Ministerien und dem Staatsrathe, Simeon, Portalis, Cuvier, Degerando, Royer-Collard, Guizot, Villemain, Barthe, Mirbel, Barante, Camille-Jordan, Molé, Ravez, Becquey rc., unterstüßt 3°); in den Landschaften waren mehre Präfecturen mit wackern Männern neu besetzt worden; der Geist der Re= actionspartei wich auch hier einer constitutionellen Waltung. Lainé und Decazes waren rastlos thätig, die noch auf Franks reich lastenden Beschränkungen der persönlichen Freiheit und der Rede- und Schreib-Freiheit mit möglichster Schonung zu handhaben; Lainé sorgte mit redlichem Eifer für Besserung des Unterrichtswesens und für den zum Theil der Dürftigkeit bloßgestellten niedern Klerus; der König, dessen innigstes Vertrauen Decazes hatte, von ihm mein Kind, mein 3gs ling" genannt, freute sich des öffentlichen Wesens. Artois hielt sich in der Entfernung von ihm; es war eine merkbare Kälte zwischen den beiden Brüdern eingetreten. Epigramme und ftachlichte Wißworte der Ultras kamen durch Decazes zu Ludwig's Kenntniß; dies half, ihn in seiner nunmehrigen Weise zu befestigen 31). Die Ruhe ward durch die Misernte des Jahres 1816 auf eine gefährliche Probe gestellt. Das Volk darbte und blickte trostlos in den bevorstehenden Winter, Wie oft hatte in den ersten Revolutionsjahren die zum Theil nur aus Einbildung hervorgegangene Angst vor Hungersnoth zu Umtrieben und Empörung geführt! Jeht lag die Noth vor Augen. In der That entstanden hie und da Unruhen; doch politische Bewegungen knüpften sich daran nur in den Dörfern um Lyon und in Lyon selbst, wo am 8. Jun. 1817 Napoleon II. gerufen wurde. Blut floß an mehren Orten bei Unterdrückung der Aufstände; zu Lyon bewies General Canuel eine grausame Thätigkeit; man sah die Schrecknisse

30) Hist. de la rest, etc. 5, 130,

31) Daf. 5, 86. 91,

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