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Verimpfung als beinahe unwirksam erwies. Bei dem nächstfolgenden Falle war der Erfolg ein noch schlechterer, insofern, als das ganze Product eine Neigung zu schneller Zersetzung zeigte und absolut unverwendbar war. Wir waren somit schliesslich gerade zu dem Gegentheile von den erstrebten Resultaten gelangt, da ja die Verbände eine antiseptische Wirkung haben sollten. Es war gleichgültig, ob der Verband mit durchlässigen oder undurchlässigen Stoffen hergestellt wurde. Vergleicht man nun diese Resultate mit denjenigen, welche bei der unbedeckten Impffläche erzielt werden, so ergiebt sich, dass der Verband von einem sehr bedeutenden Einflusse auf die Blatternbildung ist. Während bei freigelassener Impffläche eine braune, trockene Kruste sich vorfindet, nach deren Entfernung die einzelnen Bläschen zu Tage treten, zeigte sich bei den im Winter hier beobachteten Verhältnissen im Wesentlichen eine Ausdehnung und Lockerung der oberen Schichten, wie sie einer serösen Durchtränkung entspricht. Es ist mir aus einer mündlichen Mittheilung des Herrn Geheimrath v. Koch bekannt, dass in Württemberg die Impffläche nach der Reinigung und vor der Abnahme mit einem heissen, feuchten Tuche bedeckt wurde. Dadurch wird ebenfalls der Impfstoff in einen Zustand der Quellung versetzt und lässt sich leicht von den Unterlagen entfernen. Die Analogie mit den durch den Verband erzeugten Verhältnissen liegt ja auf der Hand. Es handelt sich in beiden Fällen um eine Durchfeuchtung des producirten Stoffes, die seine Entfernung erleichtert.

Die beschriebenen Ergebnisse legten nun die Vermuthung nahe, dass unter den Einflüssen der Verbände der ganze Blattern process einen schnelleren Verlauf nehme als ohne dieselben. Namentlich hatte es den Anschein, als ob die am 5. Tage beobachtete Verflüssigung der oberen Schichten der Impffläche der unter normalen Verhältnissen später eintretenden Eiterung entspräche und durch die Wärme resp. Schweissbildung erzeugt werde.

Die hier während des letzten Septembers herrschende, grosse Hitze gewährte Gelegenheit, diese Frage zu prüfen. Wir impften zunächst ein Kalb, ohne andere Maassregeln zu ergreifen als die Desinfection der Impffläche, und ohne einen Verband anzulegen. Das Resultat war am 5. Tage 45 ccm einer voll wirksamen Glycerinemulsion, von welcher hier und an anderen Orten etwa 2000 Kinder mit dem günstigsten Erfolge geimpft wurden; ausserdem blieben noch 8 ccm Lymphe übrig. Ein zweites Kalb wurde so behandelt, dass die Impffläche in verschiedene Abschnitte getheilt ward, von welchen der eine offen blieb, der andere mit kleinen Verbänden bedeckt wurde. Vom Abend des 3. Tages an wurde nun alle 12 Stunden einer dieser Verbände entfernt und die darunter liegenden Blattern mit denen der offenen Abschnitte verglichen. Es zeigte sich aber kein schnellerer Verlauf an den bedeckten Theilen. Dieselben waren feucht, frei von Kruste und zeigten schliesslich die vorhin beschriebene Beschaffenheit, wie sie während des Winters am 5. Tage hier beobachtet wurde. Eine Verflüssigung war aber auch an diesem Tage nicht eingetreten. Die Vermuthung schnellerer Entwickelung hat sich somit durch diesen Versuch nicht bestätigt. Da aber die kleinen partiellen Verbände jedenfalls nicht in gleicher Weise wärmend wirken, wie ein grosses über die ganze Fläche hinwegreichendes Verbandkissen, so ist es möglich, dass eventuelle spätere Versuche dennoch die

Richtigkeit dieser Annahme nachweisen. Alsdann würde die Abnahme der Lymphe an einem früheren Tage als dem fünften vorgenommen werden müssen. Erwähnen will ich noch, dass bei der grossen Hitze, wenn die Haut des Thieres zu schwitzen beginnt, auch das Collodium auf der nassen Fläche nicht mehr haftet. Bei einer mittleren Temperatur geschieht dies. jedoch nicht und man kann, sobald man das oben erwähnte Gummikissen weglässt und einen Stall benutzt, in welchem sich eine mittlere Temperatur erhalten lässt, darauf rechnen, dass der Verband haftet.

Die Bemühungen, eine von fremden Bacterien freie Lymphe zu erhalten, stossen also auf Hindernisse, welche zur Zeit nicht zu überwinden sind.

Wir besitzen keinen bacterienfreien Stoff zur Aussaat; wir sind ferner, wie sich nachweisen lässt, ausser Stande, die Impffläche, so lange sie bei der Impfung offen bleiben muss, vor auffallenden Keimen zu schützen. Bedenkt man nun, dass jeder einzelne dieser Keime in der Wundfläche einen guten Nährboden findet, dass er Millionen von Abkömmlingen erzeugt, die bei der Abnahme des Stoffes mit entnommen, bei der Bereitung der Lymphe verrieben werden und bei neuer Impfung sich wieder vermehren, so erhellt, dass es mit den gegenwärtig zu Gebote stehenden Mitteln nicht möglich ist, einen bacterienfreien Impfstoff zu produciren, noch weniger ihn zu erhalten.

Ausserdem aber muss es noch zweifelhaft bleiben, ob die angelegten Verbände in Wirklichkeit einen absoluten Schutz gegen das Eindringen von Keimen gewähren, da es kein Kriterium für die Beurtheilung dieses Punktes giebt.

Demnach leisten die Verbände unter den jetzigen Verhältnissen nichts Positives. Der Zeitaufwand, den sie bei der Anlage und bei den täglichen Revisionen beanspruchen, überwiegt das Quantum an Zeit bedeutend, welches am Abnahmetage durch sie gespart wird. Sie gestatten ferner nicht eine so ausgiebige Ausnutzung der Hautfläche des Thieres wie die einfache Impfung. Endlich ist die Brauchbarkeit des unter ihnen erzeugten Impfstoffes eine sehr fragliche. Einen praktischen Nutzen haben sie demnach noch nicht, sie befinden sich vielmehr im Stadium des Experimentes. Ein Institut wie das hiesige, welches in der Hauptsache nur humanisirte Lymphe producirt und nur nebenbei geringere Summen zu Versuchen erhält, kann wohl nach dieser Richtung hin experimentiren; eine LympheerzeugungsAnstalt jedoch, die grosse Kreise mit Kälberlymphe versorgen soll, muss auf die Verbände verzichten. Wenn aber die Antiseptik bei der Kälberimpfung nichts leistet, so kann andererseits die Reinlichkeit bei der Impfung und Abimpfung bis ins Kleinste durchgeführt werden. Dies gilt sowohl für die Flächenculturen als auch für die Production einzelner Pocken, und damit ist den nothwendigen Ansprüchen für die Praxis für jetzt Genüge geleistet.

Ueber die Vaccination in Russland.

Einige Bemerkungen zu dem Aufsatze des Dr. Ucke 1).

Von Dr. Reimann in Kiew (Russland).

Ein Artikel in der in russischer Sprache geschriebenen „Medicinischen Rundschau", in welchem Dr. Ucke heftig angegriffen wird, machte mich auf seinen Aufsatz im 3. Hefte des 18. Bandes der "Vierteljahrsschrift für Gesundheitspflege" aufmerksam.

Ich bin weit davon entfernt, den Ton zu billigen, in welchem die russische Fachzeitung den Artikel und das „System Ucke" bespricht; was indess die Sache selbst betrifft, so kann ich mit Dr. Ucke nicht übereinstimmen, und wundere mich, dass ein mit bedeutender Localkenntniss ausgestatteter und so bewährter Arzt und Administrator einen solchen Vorschlag macht.

Er entwickelt ein Impfsystem, das dem ganzen Lande zur Richtschnur gegeben werden soll. Aus dem Aufsatze ist nicht recht zu ersehen, ob das vorgeschlagene System durch Regierungsbeschluss eingeführt worden ist oder werden soll, ob es bloss ein Project der eingesetzten Commission ist, oder ob es bloss ein Vorschlag des Dr. Ucke ist. Gegen das erstere spricht der Umstand, das ich bis jetzt nichts davon erfahren habe, obgleich ich doch die russisch medicinischen Blätter lese, und dass die „Medicinische Rundschau" mit solcher Heftigkeit sich dagegen ausspricht, und es das „System Ucke" nennt.

Doch sei dem wie ihm wolle, sollte ein solches Impfsystem wirklich projectirt werden, so ist leicht vorauszusehen, dass es in der Wirklichkeit undurchführbar ist und eben nur auf dem Papiere bestehen wird.

Zunächst, ist es möglich, von einem gebildeten Menschen zu verlangen, wie ein Arzt doch sein soll, 9 Monate lang ununterbrochen von einem Dorfe zum anderen zu fahren, 34 Jahre lang von allem Umgange mit gebildeten Menschen ausgeschlossen zu sein und meistens in Behausungen zu leben, die auch den primitivsten Anforderungen nicht entsprechen. Ausserdem dürfte oft auf lange Zeiten der Zustand der Wege die Reisen ganz unmöglich machen, da die einzige günstige Zeit, der Sommer, ausgeschlossen ist. Würden sich wohl, ich sage nicht viele, ja nur ein einziger Arzt finden, der solche Bedingungen eingeht? Ausserdem würde er bedeutende Schwierigkeiten mit seiner körperlichen Verpflegung haben, denn in den meisten

1) Siehe diese Vierteljahrsschrift Bd. XVIII, S. 487.

Dörfern würde er ausser schlechtem Branntwein und schwarzem Brote wohl nichts finden.

Was seine sonstigen medicinischen Beschäftigungen anbetrifft, so wäre es natürlich sehr erspriesslich, wenn er die im Orte befindlichen Kranken besuchte, wäre aber der Nutzen sehr gross, da er sie doch erst in Jahresfrist wieder sehen würde?

Der Herr Verfasser ist auch in Betreff der Zahl und Beschäftigung der bestehenden Aerzte nicht recht unterrichtet. In allen Gouvernements, wo noch nicht die Landordnung eingeführt ist (z. B. die westlichen Gouvernements), giebt es in jedem Kreise nur einen Arzt für die Behandlung der Landbevölkerung; der zweite ist nur mit gerichtlich- und polizeilich - medicinischen Angelegenheiten beschäftigt, und der dritte existirt nur für die Kreisstadt. Könnte dieser eine Arzt seinen Kreis in 9, ja in 12 Monaten auf diese Weise besuchen? In den Gouvernements, wo die Landordnung eingeführt ist, steht es besser; dort hat die Landgemeinde 3 bis 4 Aerzte angenommen; doch auch diese sind in ihren Rayons hinlänglich beschäftigt und könnten sich nicht 9 Monate lang ausschliesslich dem Impfgeschäft widmen. Es müssten also im ganzen Reiche speciell zu diesem Zwecke besondere Aertzte engagirt werden, und es ist sehr fraglich, ob Regierung und Landschaft die Mittel zur Erhaltung dieser neuen Aerzte (wenigstens 200) hergeben würde; jetzt schon macht sich in vielen Landschaften eine grosse Unlust zu Ausgaben für Volksmedicin geltend.

Noch viel schlimmer aber steht es mit dem Impfen der Kälber. Wer wird denn dafür sorgen, dass die Kälber zur rechten Zeit bereit stehen, wer wird für sie sorgen, wer wird sie füttern und wer wird ihnen im Winter eine warme Stallung geben? Es ist vorauszusehen, dass trotz aller Befehle die Kälber meistens nicht zur rechten Zeit bereit sein werden, oder dass sie nichts taugen, dass sie vor Mangel an Pflege, Nahrung und Reinlichkeit sterben oder keine erträgliche Lymphe geben werden, und dass die Beschaffung der Lymphe, die doch eine ununterbrochene Continuität erfordert, bald zu Ende sein wird. Oder sollen überall besondere Wärter und Pfleger für die Kälber angestellt, Ställe etc. gemiethet werden? Die Kosten würden bald die ganze Sache unmöglich machen.

Welchen Verlass kann man ausserdem auf die Feldscheerer haben, welche, selbstständig durch die Dörfer reisend, Kälber und Kinder impfend dem Arzte vorhergehen? Würde nicht sehr oft der ankommende Arzt sich sehr in seinen Erwartungen getäuscht finden, um so mehr, als er den immer vor ihm her reisenden Feldscheerer ein ganzes Jahr nicht zu Gesichte bekommt und also seine persönliche Autorität nicht geltend machen kann? Es soll dabei gar nicht erwähnt werden, ob es so leicht ist, so viele Feldscheerer dazu anzulernen, Kälber und Kinder gut zu impfen, die Qualität der Kälber und der Lymphe zu erkennen u. dergl. Es ist zu fürchten, dass abermals die Vaccination nur auf dem Papiere stehen würde und mit bedeutend grösseren Kosten abermals nur pompöse Vaccinationslisten erreicht werden würden, denen die sich immer wiederholenden Pockenepidemieen das Dementi geben würden.

Als

Endlich ist noch auf einen wichtigen Umstand aufmerksam zu machen, auf die Unentwickeltheit und die Vorurtheile der Landesbevölkerung. ich vor ungefähr 15 Jahren in Kiew, einer grossen Stadt, Sitz einer Universität, begann, Kälber zu impfen, begegnete ich nicht nur von Seiten des Publicums, sondern auch vieler meiner Collegen, grossem Widerstande, und erst nach langer Zeit, vielen Bemühungen und Unannehmlichkeiten drang die Ansicht vom Nutzen der Kalbslymphe durch. Was ist also von dem ungebildeten Bauer zu erwarten, dem bis jetzt der Impfact als eine von der Regierung geforderte Leistung und Pflicht erschien? Freilich fangen in der letzten Zeit die Ansichten an sich zu bessern, aber es wird doch noch lange dauern, bis ein Feldscheerer Autorität genug unter der Dorf bevölkerung haben wird, um das Impfen durchzusetzen.

Andere Punkte sollen hier nicht berührt werden, z. B. die Schwierigkeit der Beschaffung guter Lymphe, einer genügenden Zahl von Kälbern und manches andere. Meine Absicht war nur zu zeigen, dass der von Dr. Ucke entwickelte Modus der Vaccination, so sinnreich er ersonnen, bei den bestehenden Verhältnissen absolut nicht ausführbar ist.

Wie eine zweckmässige Impfung in Russland einzurichten wäre, liegt ausserhalb des Bereiches dieses Aufsatzes und würde für das deutsche ärztliche Publicum auch vielleicht kein Interesse haben.

Vierteljahrsschrift für Gesundheitspflege, 1887.

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