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Die Beschaffung ärztlicher Hülfe zur Nachtzeit und bei Unglücksfällen. Sanitätswachen.

Von Dr. M. Pistor,

Regierungs- und Geheimer Medicinalrath in Berlin.

Die Beschaffung ärztlicher Hülfe zur Nachtzeit und bei Unglücksfällen oder plötzlichen Erkrankungen, welche das Leben in Frage stellen, hat zwar gewöhnlich und in der Mehrzahl der Fälle eine mehr persönliche Bedeutung, ist aber zu Zeiten von Epidemieen, insbesondere von Choleraverbreitung, auch für die Allgemeinheit, für die öffentliche Gesundheitspflege, von der grössten Wichtigkeit. Gerade umfangreichere Choleraepidemieen reiben die Kräfte der einzelnen Aerzte namentlich in grösseren Städten, in welchen die Bevölkerung meist höhere Ansprüche an die ärztliche Hülfsbereitwilligkeit stellt, als auf dem Lande, sehr schnell auf, so dass der einzelne Arzt ausser Stande ist, jedem Rufe Folge zu leisten. Aber auch andere epidemische Krankheiten können bei grosser Verbreitung und Heftigkeit der Einzelerkrankungen (z. B. epidemische Ruhr oder Flecktyphus) besondere Einrichtungen erfordern, um den Bedarf an ärztlicher Hülfe einigermaassen zu decken. Bei umfangreicherem Auftreten von Cholera, Ruhr, Pocken und Flecktyphus sind wiederholt ärztliche Wachen auf Zeit eingerichtet worden; es soll hier nur an die grossen Choleraepidemieen aus sämmtlichen Jahrzehnten dieses Jahrhunderts von 1831 ab bis zu den 70er Jahren, an die ostpreussischen und oberschlesischen Flecktyphusseuchen von 1868, 1846 bis 1848 und 1876/77 und an die Pockenepidemieen im Anfange dieses Jahrhunderts erinnert werden.

Vorstehende Bemerkungen dürften genügen, um die Besprechung der Sanitätswachen in dieser Zeitschrift zu rechtfertigen, zumal ein erneueter Ausbruch der Cholera in Deutschland für die nächste Zeit nicht ausgeschlossen ist.

Die Einrichtungen behufs Erlangung ärztlicher Hülfe zur Nachtzeit sind zum Theil in Folge des Auftretens von Choleraepidemieen entstanden, z. B. in Paris und Berlin wurden die ersten Anregungen dazu nach den Choleraepidemieen von 1836 bezw. 1849 gegeben, weil sich zu jenen. Zeiten ein Mangel an ärztlicher Hülfe selbst in dem vor 20 Jahren noch kleinen Berlin fühlbar gemacht hatte. Dazu kam aber auch in allen grossen Städten, d. h. solchen, welche mehrere Hunderttausend oder gar eine Million und mehr Einwohner zählten, der Umstand, dass es immer schwieriger wurde, zur Nachtzeit, bei Unglücksfällen oder plötzlichen Erkrankungen, besonders in den vom Verkehre entfernteren Stadttheilen, aber auch im Mittelpunkte der Städte schnell ärztliche Hülfe zu erlangen. Diesem Uebel

Vierteljahrsschrift für Gesundheitspflege, 1887.

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stande zu begegnen, waren einzelne Menschenfreunde bestrebt, feste Wachen zu schaffen, in welchen zur Nachtzeit stets ärztliche Hülfe gewährt, oder doch nachgewiesen wurde; der Gedanke wurde dann von Vereinigungen zu wohlthätigen Zwecken, von Orden (Johanniter, Maltheser) und von Behörden weiter ausgebaut.

Zur Rettung Ertrunkener hatte eine Gesellschaft zu Amsterdam bereits im Jahre 1767 Hülfshäuser mit ärztlichem Dienste errichtet, welche sich im Laufe eines Jahrhunderts über das ganze Königreich der Niederlande verbreitet haben. Dem gegebenen Beispiele folgte man bereits 1772 in Paris durch Errichtung von Rettungspavillons an der Seine, welche noch heute, selbstredend wesentlich vervollkommnet und erheblich an Zahl vermehrt, zum Segen der Bevölkerung fortbestehen; ähnliche Einrichtungen wurden 1774 in London getroffen. Diese ältesten Hülfsanstalten für Unglücksfälle sollen hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden.

Einrichtungen behufs Erlangung ärztlicher Hülfe zur Nachtzeit sind, soweit meine Ermittelungen reichen, zuerst in Paris im Jahre 1836 getroffen worden; wenigstens erliess der Polizeipräfect unter dem 1. Januar 1836 eine Verordnung nebst Anweisung betr. die erste Hülfe bei Verunglückungen. In dieser Verordnung werden Hülfsstationen (depôts de secours) erwähnt, wohin alle auf der Strasse Verunglückten, sowie Verwundete, Ertrunkene, Erstickte etc. gebracht werden; jene Depôts können hiernach nicht gleichbedeutend mit den vorerwähnten Seinepavillons gewesen sein. Die Verordnung vom 1. Januar 1836, betreffend secours à donner aux Noyés, asphyxiés ou blessés, wurde unter dem 17. Juli 1850 mit zeitgemässen Aenderungen erneuert. Indessen erfreuten sich die nach jenen Vorschriften geschaffenen Hülfsdepôts wegen ihrer vielen Mängel keines grossen Beifalls in der Bevölkerung; die Räumlichkeiten befanden sich in den Polizeistationen oder Militärkaseruen und boten oft nicht einmal einen geeigneten Raum für die zeitweilige Aufnahme Verunglückter und Erkrankter; letztere mussten vielmehr fast immer bei den Wachthabenden untergebracht werden (man denke dabei an Frauen im schwangeren Zustande, an Epileptische etc.); endlich verging nicht selten geraume Zeit bis zur Ankunft des Arztes. In Folge dieser Unzuträglichkeiten wurden die Hülfsstationen nur in der äussersten Noth bei Unfällen benutzt. Anderweite zweckmässigere Einrichtungen scheinen mehrfach, aber ohne Erfolg, in Anregung gebracht worden zu sein.

Im Jahre 1869. trat endlich Dr. Passant, Generalsecretär des armenärztlichen Vereins (Société médicale des bureaux de bienfaisance) zu Paris in Gemeinschaft mit dem inzwischen verstorbenen Chirurgen Nélaton der Angelegenheit ernstlich näher, um eine assistance médicale au nuit zu schaffen. Die nach dieser Richtung gemachten Vorschläge wurden wiederholentlich von der Landesvertretung erörtert, aber durch den deutschfranzösischen Krieg und später durch andere Zwischenfälle wieder in den Hintergrund gedrängt.

Dr. Passant's Antrag ging dahin, dass diejenigen Aerzte, welche zu ärztlicher Hülfsleistung während der Nachtzeit bereit waren, auf dem zuständigen Polizeirevier ihre Namen angeben sollten; unter diesen wählen die Hülfesuchenden nun einen Arzt aus, welcher unter Führung eines von der Wache abgegebenen Schutzbeamten abgeholt wird und unter dessen

Schutz seinen Krankenbesuch abstattet. Darauf erhält der Arzt von dem Polizeibeamten eine Anweisung auf 10 Francs Vergütigung, zahlbar an der Kasse der Polizeipräfectur, welcher die Auslage von der Pariser Gemeindekasse erstattet wird, falls die Vermögenslage des Kranken keine Kostenerstattung zulässt.

Die Passant'schen Vorschläge fanden eine nachdrückliche und erfolgreiche Unterstützung bei dem damaligen Polizeipräfecten Léon Renault, welcher in voller Würdigung der Bedeutung einer derartigen Einrichtung für das Gemeinwohl im November 1875 im Pariser Gemeinderath für die geplante Einrichtung lebhaft eintrat und in warmen Worten insbesondere auch darauf hinwies, dass man den Aerzten, welche auch nur über menschliche, also begrenzte Kräfte verfügten und durch ihren Beruf, welcher unter steten Gemüthsbewegungen und oft persönlichen Gefahren ausgeübt würde, derartig angestrengt würden, dass körperliche und geistige Ruhe für dieselben zu gewissen Stunden eine unabweisbare Nothwendigkeit würde, keinen Vorwurf machen dürfe, wenn dieselben unter Umständen ihre Hülfe verweigerten.

Die Verwaltung habe daher dafür zu sorgen:

1. dass Personen, welche der unverzüglichen Hülfe eines Arztes bedürftig seien, eine solche sicher und ohne Zeitverlust finden könnten;

2. dass der herbeigerufene Arzt auch im Stande und bereit sei, dem Rufe zu folgen;

3. dass diese seine aufopfernde Thätigkeit den Arzt nicht in persönliche Gefahr bringe und vielmehr durch eine Vergütigung der entstandenen Störung in billiger Weise anerkannt werde.

Léon Renault drang im Gemeinderath durch, und so trat am 6. Februar 1876 der ärztliche Nachtdienst (assistance médicale au nuit) nach den Vorschlägen des Dr. Passant ins Leben. Es betheiligten sich zunächst 545 Aerzte, deren Zahl bis zum Jahre 1879 auf 664 stieg, zu denen sich noch 106 Hebammen einschreiben liessen.

Wer sich für Einzelheiten interessirt, möge in A. Dechambre's dictionnaire encyclopédique des sciences médicales Alexander Layet's Artikel „nuit", Abschnitt „assistance médicale de nuit", p. 766 einsehen, in welchem die bezüglichen Vorarbeiten eingehend erörtert sind. Einen kurzen Auszug daraus hat Dr. Pagel in Berlin im vierten Jahrgange des Berliner ärztlichen Correspondenzblattes vom 10. Mai 1886, Nr. 3, S. 63 ff., mitgetheilt.

Nach Layet's Angaben sollen in allen grösseren Städten Frankreichs, auch in Algier, sowie Petersburg, Moskau, Warschau, Rom, Mailand, Turin und Lissabon derartige Einrichtungen ins Leben getreten sein. Ueber den heutigen Stand der Sache in Paris war keine weitere Auskunft zu erlangen.

In Madrid sind, soweit mir bekannt, im siebenten Jahrzehnt durch Dr. Rivero, den späteren Minister, Hülfshäuser (casas del soccoro) in jedem Stadtbezirke (Municipaldistrict) errichtet worden, welche unabhängig und ganz getrennt von Polizeiwachen und Casernen für plötzliche Erkrankungen

und Unfälle aller Art eingerichtet sind und sogar ausgesetzte und verlassene Kinder, wie Heimathlose für eine gewisse Zeitdauer aufnehmen. Jedes Haus hat einen ständigen Arzt sowie mehrere Krankenwärter und ist mit allen erforderlichen Geräthen und Instrumenten ausgerüstet.

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In England gründete die königliche humanitäre Gesellschaft 1774 die bereits erwähnten Hülfsanstalten für Verunglückte, Ertrunkene etc. mit ärztlichem Dienst, welche in späterer Zeit sehr vollkommen eingerichtet und allmälig über das ganze Land ausgebreitet wurden. Zur Zeit sorgt nach den mir gewordenen Mittheilungen besonders der englische Maltheser Orden für die erste Hülfe bei Unglücksfällen etc. und bildet zu dem Zwecke Personen in Lehrcursen aus. Die Abtheilung des englischen Maltheser Ordens (Order of St. John of Jerusalem [english language]), welche sich mit dieser Pflege beschäftigt, führt die Bezeichnung St. John's Ambulance association" und wurde 1877 von dem Herzog von Manchester und dem Ordenscapitel zu dem Zwecke ins Leben gerufen, allgemeine Belehrung bezüglich der vorläufigen Behandlung von Kranken und Verletzten in allen Schichten der Gesellschaft zu verbreiten. Zu dem Behufe sind Haupt- und Zweigstationen in London wie in ganz England eingerichtet. Diese Stationen bezw. die daselbst Beschäftigten sollen aber nach der in bestimmtester Weise ausgesprochenen Absicht des Ordens nur die erste Hülfe bis zur Ankunft eines Arztes leisten, welcher sofort zu benachrichtigen ist. Die englischen Polizisten, welche bei den dort häufigen Strassenunfällen am häufigsten in die Lage kommen, dem Verunglückten bezw. Erkrankten die erste Hülfe zu leisten, werden in den Lehrcursen des Maltheser Ordens vorgebildet. Die Bestrebungen des Ordens sind, wie allgemein anerkannt wird, bis dahin vom besten Erfolge gekrönt worden. Mit besonderem Eifer widmet Mr. John Furley sich diesen Werken wahrer Menschenliebe und hat wesentlich zu den guten Leistungen des Ordens mitgewirkt. Ein schönes Zeugniss für den Gemeinsinn der Engländer aber giebt die Thatsache, dass die von dem Maltheser Orden auf öffentlichen, besonders verkehrsreichen Plätzen Londons zum augenblicklichen Gebrauch für Verunglückte frei angebrachten Tragbahren bisher niemals beschädigt oder entwendet worden sind 1).

Weitere derartige Einrichtungen, insbesondere zur Beschaffung ärztlicher Hülfe zur Nachtzeit in London habe ich ungeachtet mehrfacher Bemühungen bisher nicht ermitteln können. Ueber die amerikanischen Verhältnisse, insbesondere diejenigen in New York, steht mir kein Material zur Verfügung.

In Wien hat erst der Brand des Ringtheaters mit seinen Schrecken eine den vorstehenden ähnliche, aber dieselben an Ausstattung und Umfang weit übertreffende Einrichtung in Gestalt der Wiener freiwilligen Rettungsgesellschaft am 9. December 1881 ins Leben gerufen. Diese mit sehr grossen Mitteln seitens ihres Gründers Graf Wilczek und der hinzutretenden Stifter ausgestattete Vereinigung, um deren weitere Entwickelung sich ins

1) Während des Druckes geht mir von einem deutschen Arzte in London die Nachricht zu, dass Ordensstationen nach Art der Berliner Sanitätswachen (mit ärztlichem Dienst in der Wache) dort nicht bestehen.

besondere Baron Mundy grosse Verdienste erworben hat, bezweckt vor allen Dingen bei grossen Katastrophen, Bränden, Wassersnoth, Schiffsuntergang auf der Donau, Eisenbahnunfällen, kurz bei Massenunfällen den Verunglückten schleunige Hülfe zu leisten, beschäftigt sich gleichzeitig aber auch mit der Hülfsleistung bei Einzelunfällen.

Zu letzterem Zwecke wurde bereits am 1. Mai 1883 eine permanente Sanitätswache im I. Stadtbezirk am Fleischmarkt Nr. 1 und im Mai 1885 eine zweite Wache in demselben Bezirk Giselastrasse Nr. 1 eingerichtet.

Die erstgedachte Anstalt besteht aus zwei gut ventilirten, mit Meissnerschen Füllöfen versehenen Zimmern, von denen eins für die Wache, das andere für die Verunglückten bestimmt ist. Ausser der gewöhnlichen Zimmereinrichtung sind noch eigene Kästen für die Rettungsgeräthe und sonstige Apparate, ferner Eis- und Wasserbehälter und ein Inductionsapparat zum Beleben von Scheintodten vorhanden. In dem zweiten Zimmer befinden sich auch zwei zerlegbare Betten mit Kautschuk- und Wachsleinewandunterlagen, ferner ein Krankenstuhl, eine Operationstragbahre, vier Instrumententaschen und zwei Rettungskästen, welche Alles enthalten, was die moderne Chirurgie und Hygiene für die erste Hülfe bei plötzlichen Unglücksfällen fordern. Ein zur Bespannung hergerichteter Transportwagen für Kranke und Verwundete, sowie Tragbahren sind in steter Bereitschaft in einem besonderen Magazine aufbewahrt. In ähnlicher Weise ist die zweite Wache eingerichtet. Weitere Sanitätswachen sind bis heute nicht errichtet worden,

Als Fortschritt in diesem Theile des öffentlichen Wohlfahrtsdienstes aber ist zu verzeichnen, dass die freiwillige Rettungsgesellschaft seit Ende 1885 auf mehreren Strassen und Plätzen der inneren Stadt, sowie an den Wartehallen der Pferdebahn nach dem Vorbilde der Maltheser in London Tragbahren aufgestellt hat, welche im Bedarfsfalle von Jedermann benutzt werden können.

Im Ganzen haben sich bis 1885 für die erste Hülfsleistung bei plötzlichen Unglücksfällen 130 Aerzte und 150 Freiwillige (grösstentheils Studirende der Medicin) der freiwilligen Rettungsgesellschaft zur Verfügung gestellt, welche den Nachtdienst übernehmen und damit ein erfolgreiches Eingreifen sichern. Die Gesellschaft übernimmt auch die Ueberführung von Kranken nach den Krankenhäusern und verfügt zu diesem Zwecke über einen Fahrpark von 25 Wagen und verschiedenartigen anderen Transportgeräthen.

Aus der mir vorliegenden 1885 er Dienstanweisung für die Sanitätsstationen und Sanitätswachen sei hier Folgendes angeführt:

Die Sanitätswache hat den Hauptzweck, bei Tag und Nacht bei allen auf den öffentlichen Strassen, Gewölben, Fabriken, in öffentlichen oder Privatanstalten und Gebäuden, auf Eisenbahnen und in Kriegszeiten im Gebiete der Stadt Wien und ihres Polizeibezirkes vorkommenden plötzlichen Unglücksfällen aller Art schnell und sachgemäss die erste Hülfe zu leisten. (§. 2 der besonderen Vorschriften für den Sanitätsdienst.)

Um in den angegebenen Fällen jedem Rufe der Behörde, sowie der Einzelnen unbedingt Folge leisten zu können, muss man über den Umfang des Unglücksfalles und die näheren Umstände wenigstens theilweise unter

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