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Die geschichtliche Entwickelung der Grenzen Deutsch = lands bestand nun darin, daß der auf der Grundlage des deutschen Dolkstums in den Jahren 800 bis 1200 entstandene deutsche Staat, das auf den Säulen des deutschen Königtums errichtete Deutsche Reich, weit über die Grenzen des deutschen Volkstums nach allen vier Himmelsrichtungen hinausflutete und daß dann in den Zeiten der Schwäche die Grenzen des Staates weit hinter die des Volkstums zurücktraten.

Eine Gegenbewegung begann mit der straffen politischen Zusammenfassung Preußens und Kleindeutschlands zunächst unter Preisgabe aller deutschen Grenzgebiete. Diese Bewegung muß aber entweder erstarren und zu neuer Schwäche des Deutschtums führen oder bei fortgesetzter Ausdehnungskraft und Ausdehnungslust des deutschen Volkstums ein Staatsgebilde anstreben, dessen Grenzen mit den Grenzen des in Mitteleuropa geschlossen gesiedelten deutschen Volkstums zusammenfallen. Dies schafft innerhalb der Grenzen des jetzigen Deutschen Reichs einen deutschen Nationalstaat damit haben wir uns im ersten Hefte dieses Bandes beschäftigt und führt auf Grund der durch die Siedelung des deutschen Volkstums geschaffenen Grundlage - deren Entstehung wir im zweiten Hefte dargestellt haben zu einer Zusammenfassung dieses deutschen Nationalstaates mit den deutsch besiedelten Nachbarländern. Davon soll dieses dritte Heft handeln.

Seit einem Jahrtausend hat sich die Ausdehnungskraft und Ausdehnungslust des deutschen Volkes in Mitteleuropa betätigt. Sollte dies seit dem Jahre 1871 anders geworden sein?

Für unsere Zukunft werden wir auf das Wasser vertröstet. Uber haben wir dort nicht seit 400 Jahren fast erfolglos gearbeitet? Sind nicht die Nöte unserer Zeit zum großen Teile das Ergebnis unserer volklichen Kräfteverschwendung über See?

Sind nicht auch die Ausdehnungsversuche des deutschen Volkes seit 1884 über See nichts anderes als eine Reihe schwerer Mißerfolge ? Noch heute haben wir kein einziges nennenswertes Siedelungsgebiet über See gewonnen. Was wir erreicht haben, ist nützlich für kultivatorische Versuche, aber gänzlich ungenügend für die eigentliche Kolonisation, die Siedelungstätigkeit, zwei Dinge, die in ihrer Verschiedenheit noch immer nicht von unseren Regierenden und unseren Regierten genügend gewürdigt werden.

Gewiß müssen wir für die Zwecke der Kultivation auf das Wasser gehen. Wir müssen Weltpolitik und Kolonialpolitik betreiben. Aber doch nur gestützt auf eine erfolgreiche Heimatpolitik und Festlandspolitik in Mitteleuropa.

Selbst wenn wir zur Seemacht heranreifen sollten, wird Deutschland immer noch eine europäische Binnenlandsmacht bleiben. Aber wir sollten endlich aufhören, immer nur die Nachteile dieser unabänder lichen Tatsache in den Kauf zu nehmen, die uns bei jeder Militärvorlage genügend klar gemacht werden, und wir sollten wieder wie früher ein Jahrtausend lang unsere Ausdehnungskraft und Ausdehnungslust auch in Mitteleuropa betätigen. Das hat unser Volk früher meisterhaft verstanden. Und auf diesen Grundlagen beruht unser junges Staatstum. Ob man eine derartige Betätigung Eroberungspolitik zu nennen beliebt, ist völlig gleichgültig. Es erschreckt nur korrekte Diplomaten und schwachmütige Spießbürger, die aus der Geschichte nicht gelernt haben, daß die großen fortschritte von Völkern und Staaten nur durch Blut und Eisen möglich sind. Vor allem aber, wer verbürgt uns denn, daß unsere Nachbarn mit uns einen Frieden in alle Ewigkeit weiter fortsetzen werden, den sie seit einem Menschenalter nicht aus Liebe zu unseren schönen Augen, sondern in Erinnerung an unsere kriegerischen Leistungen bewahrt haben? Wie oft haben wir trotzdem seit 1871 am Rande des Krieges gestanden. Wer vermag nur für ein Menschenalter hinaus die Gewähr dafür zu übernehmen, daß nicht einer unserer Nachbarn, von denen keiner uns liebt, einen Streit mit uns vom Zaune bricht? Dem trägt denn auch unser Generalstab Rechnung, denn bereit sein ist alles.

Aber ist denn auch unser Volk selbst bereit? Ist es sich darüber klar, was es braucht, was es will? Ich möchte das Gegenteil behaupten. Wenigstens war dies bei dem plötzlichen Ausbruch kriegerischer Zusammenstöße mit unseren Nachbarn bisher in der Regel nicht der Fall.

Oder ist es nicht beschämend für den politischen Verstand unseres Volkes, daß 1813, 1815, 1840, 1866 und 1870 eigentlich nur wenige wußten und es aussprachen, was wir im Falle eines Sieges vom Gegner fordern durften, weil mußten ?

Was hätte damals erreicht werden können, wenn nicht Ernst Moritz Arndt und Treitschke unser deutsches Volk erst hätten laut aufrufen müssen zu den forderungen, die selbsttätig jedem deutschen Herzen und Munde hätten entquillen sollen.

Bereit sein ist auch hier alles. Und darum möge hier manches ausgesprochen werden, was ängstlichen Gemütern unbequem sein mag, in der bescheidenen Hoffnung, unsere eigenen Wünsche zu einem Gemeingut des ganzen deutschen Volkes werden zu lassen, um dadurch die Wucht der politischen Macht zu gewinnen.

Leider müssen wir aber auch vieles aussprechen, was selbstverständlich sein müßte, was es aber nicht ist, da die belangreichsten Tatsachen der früheren Entwickelung der Grenzen Deutschlands dem Bewußtsein des heute lebenden Geschlechts entschwunden sind. Wer ist sich denn dessen bewußt, daß das лavτa qɛi auch von den Grenzen unseres Volksbodens und unseres Reichsgebietes gilt, daß auch diese im ewigen flusse begriffen sind?

Wir müssen es uns versagen, für frühere Jahrhunderte dies nachzuweisen, soweit sich dies nicht ohne weiteres aus unseren Darlegungen über die Besiedelung des deutschen Volksbodens ergibt. Aber die Entwickelung der Grenzen Deutschlands im 19. Jahrhundert müssen wir in aller Kürze behandeln, um unsere Schlüsse daraus ziehen zu können oder um selbstverständliche Schlüsse unseren aufmerksamen Lesern selbst zu überlassen. Sollen wir etwa mit Rücksicht auf das Ausland auf die Erörterung derartiger Dinge verzichten? Nur um des lieben Friedens willen? Wir würden eine solche Rücksichtnahme für töricht und zwecklos halten. Kein anderes Volk nimmt solche Rücksichten auf uns oder auf das Völkerrecht. Niemand verweist auf das Völkerrecht, an Bündnisse des Augenblickes oder an sonstige schulgerechte Schranken des Wollens, wenn die Russen sich das Testament Peters des Großen1) oder die forderungen des Panslawismus als Hochziel stecken, wenn die Amerikaner die Monroedoktrin nicht nur als eigene

1) Bismarck sagte im Jahre 1877 zu dem Abgeordneten Karl Braun: „Ich glaube nicht, daß das Testament Peters des Großen apokryph ist. Jedenfalls gibt es in Rußland noch Leute, welche demselben anhängen, und welche Rußland immer mehr nach Westeuropa wollen vordringen lassen, wo es sich doch nichts holen kann als den Nihilismus und ähnliche Krankheiten, welche auch mit einer „heiligen Allianz" nicht zu kurieren wären. Seine Aufgabe ist in Asien. Dort repräsentiert es den Kulturfortschritt“. (Poschinger, Bismarck und die Parl. II 253.)

Nach anderweiter Annahme ist das Testament Peters des Großen († 1725) eine Erfindung, wenn nicht sogar ein Diktat Napoleons I. und stammt aus einem 1812, vermutlich auf dessen Bestellung, geschriebenen Buche: Des progrès de la puissance russe.

Gleichgültig ob echt oder unecht. Dieses Testament ist zum Glaubensbekenntnis des russischen Volkes geworden und es ist von der russischen Staatskunst in vielen Beziehungen bereits zur Ausführung gelangt.

Ueber dieses Testament ist viel geschrieben worden, seinen Wortlaut kennen außerhalb Rußlands nur wenige. Es ist abgedruckt u. a. in der Flugschrift: „Rußland und das Testament Peters des Großen“ (Militärische Zeitfragen, Heft 28), Berlin, Luckhardt 1876 und in der Monatsschrift „Der Orient" (Heinz Bothmer, Charlottenburg) Juliheft 1899.

Lehre aufstellen, sondern deren Unerkennung auch von aller Welt verlangen1) und sie selbst doch nur da anwenden, wo sie ihnen nicht selbst nachteilig ist, wie bei ihren Ausdehnungsbestrebungen auf andere Weltteile; wenn die Engländer die „Oberherrschaft zur See“ in Unspruch nehmen und sich zu einem Imperialismus2) bekennen, der mit einem Kampfe Großbritanniens gegen alle Welt gleichbedeutend ist.

Wir nehmen das Testament Peters des Großen, den Imperialismus Großbritanniens, die Monroedoktrin Amerikas als geheiligte Kundgebungen des Willens großer fremder Völker mit Ehrerbietung entgegen, setzen dem nichts Eigenes, Ursprüngliches entgegen, sondern verketzern den, der an die großen Ueberlieferungen des deutschen Volkstums anknüpfend, auch für das deutsche Volk ein Ausdehnungsrecht in Anspruch nimmt unter der lächerlichen formel eines zünftigen Diplomatentums: Nur keine Einmischung in die Verhältnisse fremder Staaten! Und doch ist der Grundgedanke der auswärtigen Politik aller anderen Großmächte eben die vorteilhafte Einmischung in fremde Dinge!

Nur das deutsche Volk soll nach der Meinung unserer „korrekten“ Politiker auf Hochziele für eine künftige Weiterentwickelung verzichten, oder es soll wenigstens auf die öffentliche Erörterung seiner Hochziele verzichten. Wer dies verlangt, der verurteilt zugleich das deutsche Volk zu dem Verzicht auf die doch gerade unserem Volke so nötige politische Selbsterziehung. Nur Hochziele, die einem Volke Menschenalter hindurch vorgeschwebt haben und deren Erörterung einen Zustand der Begeisterung, der „Schwärmerei“ geschaffen hat, wie das Verlangen nach „Kaiser und Reich" in der Mitte des 19. Jahrhunderts, befähigen ein Volk zu Leistungen, die im entscheidenden Augenblick auch der zünftige Staatsmann von seinem Volke verlangen muß. Es ist eine falsche Rechnung, wenn Staatsmänner auch im 20. Jahrhundert glauben, das Denken und Streben in der auswärtigen Politik für sich allein in Anspruch nehmen zu dürfen. Und es ist eine Selbstentmannung, wenn die Vertreter des Volkes in den Parlamenten und in der Presse glauben, die heiklen Fragen der äußeren Weiterentwickelung des Staates als ein Rühr mich nicht an" behandeln zu sollen. Wir sind ganz gewiß nicht der Meinung, das einzig richtige

') Vgl. Dr. Karl Mehrmann-Coblenz in den Alld. Bl. Nr. 4 dom 28. Januar 1905.

2) Vgl. Dr. Otto Hötzsch in den Alld. Bl. Nr. 38 und 39 vom 17. und 24. September 1904.

Rezept für diese Fragen gefunden zu haben. Aber wir fordern unsere Volksgenossen auf, unsere Vorschläge zu prüfen, sie laut zu erörtern und bessere Vorschläge an ihre Stelle zu sehen.

Auf Grund unserer Darlegungen im ersten und zweiten Hefte dieses Bandes meinen wir, daß neben der Erstrebung der Verwandelung des Deutschen Reiches in einen Nationalstaat, als zweites Hochziel die Fortsehung der deutschen Siedelungstätigkeit in Mitteleuropa und die staatliche Organisation des deutschen Vokstums auch außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches in Frage kommt.

Hieraus ergibt sich, daß das Deutschtum das Recht hat, zu prüfen, ob seine bisherigen Grenzen seinen Lebensbedingungen entsprechen. Bei der Aufsuchung neuer geeigneter Grenzen für ein Reich, auch für einen Nationalstaat, wird man aber niemals von einem einzigen Grundgedanken ausgehen dürfen. Vielmehr kommen gleichzeitig und nebeneinander, wenn auch nicht mit ganz gleichmäßiger Würdigung in Betracht die von uns bereits besprochenen sogenannten natürlichen Grenzen, ferner die geschichtliche Entwickelung der bisherigen Grenzen, militärische Rücksichten auf die Sicherung des Reiches und nicht zuletzt die Grenzen des Siedelungsgebietes des maßgebenden Volkstums.

Wir werden jede unserer vorhandenen Reichsgrenzen auf diese Vorbedingungen hin zu prüfen haben. Uber im allgemeinen muß schon im voraus darauf hingewiesen werden, daß keine der Grenzen des jetzigen deutschen Reiches schon durch jahrhundertelangen Bestand geheiligt ist. Wir dürfen deshalb auch für das 20. Jahrhundert ohne weiteres die Entwickelungsfähigkeit dieser Grenzen annehmen.

Die Keime für eine derartige Entwickelung liegen darin, daß das Deutschtum fast überall da, wo es mit fremden Volkstümern grenzt, notleidend1) geworden ist.

Die Grenzen dieser Entwickelung sind im voraus gegeben durch die Grenzen der geschlossenen Siedelungsgebiete der anderen großen Kulturvölker Europas, denen wir im 1. Hefte dieses Bandes das Recht und die Möglichkeit der Entwickelung zu Nationalstaaten einräumen mußten.

Das Entwickelungsgebiet liegt also in den Zwischenländern zwischen den Siedelungsgebieten des deutschen Volkes und jener anderen

1) Den Beweis hierfür erbringt die im Verlage von J. F. Lehmann erschienene Flugschriftenreihe „Der Kampf um das Deutschtum", deren Titel im Anhange II, Seite 182 abgedruckt sind.

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