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1. Das Deutsche Reich muß davon absehen, ohne äußere Veranlassung einen Eroberungskrieg gegen Rußland zu führen zum Erwerbe des alten deutschen Ordenslandes an der heutigen russischen Küste.

2. Kommt es zu einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen dem Deutschen Reiche und dem Russischen Reiche, dann muß eine Loslösung der heutigen Ostseeprovinzen in Betracht gezogen werden und zwar nicht nur zum Zwecke der Schwächung des Russischen Reiches, sondern auch auf der Grundlage, daß diese Länder nicht zum Gebiete des großrussischen Volksbodens gehören, und daß Rußland bisher nicht den Befähigungsnachweis dafür erbracht hat, diese Gebiete russisch zu machen.

3. Jede Gelegenheit im Kriege und im Frieden ist deutscherseits zu benutzen, um eine politische Selbstverwaltung in diesen Gebieten möglich zu machen und um die Reste des deutschen Volkstums, der deutschen Kultur und des evangelischen Glaubensbekenntnisses in diesen Gebieten sicher zu stellen. Man wird diese Punkte mit eben derselben Berechtigung zu Gegenständen internationaler Verträge machen können, wie andere Fragen des Völkerrechts, und man wird hierbei von der verknöcherten formel der Nichteinmischung in fremde Staatsverhältnisse endlich ebenso absehen dürfen, wie dies bei wirtschaftlichen Fragen in den sogenannten Handelsverträgen längst üblich ist.

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V. Die Südgrenze.

Pas heutige Deutsche Reich hat nach Süden, besonders nach Böhmen hin verhältnismäßig alte und verhältnismäßig natürliche1) Grenzen. Böhmen wird im Riesengebirge, im Erzgebirge und im Böhmerwalde2) durch einen mächtigen Gebirgswall vom Deutschen Reiche geschieden, der im letzten Grunde für diese Scheidung verant wortlich gemacht werden kann. Undererseits darf nicht verkannt werden, daß Böhmen zum Stromgebiet der Elbe gehört oder vielmehr das wichtigste Quellgebiet der Elbe ist. Dadurch wird Böhmen auf die wirtschaftliche und eigentlich auch politische Zusammengehörigkeit mit den Gebieten der mittleren und unteren Elbe hingewiesen.

Das Erzgebirge bildete schon um das Jahr 1000 im wesentlichen die Grenze zwischen Sachsen (Meißen) und Böhmen. Auch das Riesengebirge schied seit den Zeiten der ersten deutschen Besiedelung beider Länder Böhmen und Schlesien. Hieran wurde nichts dadurch geändert, daß bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts Schlesien und Böhmen wiederholt und auf lange Zeit denselben Herrschern untertan waren. Fast seit derselben Zeit steht die Grenze zwischen Böhmen und Bayern fest.

Um so wechselvoller sind die Grenzen des heutigen Bayerns, Württembergs und Badens gegen den Süden hin gewesen. Teils ragten die österreichischen Besitzungen weit nach dem heutigen Südwestdeutschland hinein, teils erstreckten sich die alemannischen und bajuwarischen Stammes

1) Das erleidet im einzelnen erklärlicherweise Ausnahmen. Ratzel macht (a. a. . S. 73) mit Recht darauf aufmerksam, daß die sächsisch-böhmische Grenze auf dem Erzgebirge zwar in der Nähe des Kammes und parallel mit diesem läuft, aber nicht auf ihm selbst, sondern nördlich der Wafferscheide. Und er erblickt hierin ein bedauerliches Zeichen der Schwäche auf deutscher Seite. Frankreich habe heute auf den Vogesen eine bessere Grenze als Deutschland im Erzgebirge und den Alpen.

2) Der Böhmerwald und seine Stellung in der Geschichte, eine geographischhistorische Abhandlung von Dr. Paul Müller, Straßburg i. E., 1904.

herzogtümer und ihre Rechtsnachfolger weit in die heute zu Oesterreich und der Schweiz gehörenden Ulpenländer hinein. Uber schon um 1200 verlief die Nordgrenze der Eidgenossenschaft von heute vom Bodensee den Rhein entlang bis nach Basel und fast ganz auf der heutigen Südgrenze von Elsaß.

Im 14. Jahrhundert näherte sich die Südgrenze Bayerns dem heutigen Besitzstand. Bayerns südliche Nachbarn waren schon damals, wenn auch mit teilweise anderen Ubgrenzungen, das Erzbistum Salzburg und die zu den österreichischen Landen gehörige Grafschaft Tirol. Uuch der Reichsdeputationshauptschluß von 1803 beließ dem Erzbistum (Kurfürstentum) Salzburg seine Selbständigkeit und damit Bayern seine Südgrenze. Uber 1805 kam Salzburg an Oesterreich, 1810 an Bayern und 1814 endgültig an Oesterreich, mit Ausnahme eines Teiles vom linken Salzachufer, welcher nebst Berchtesgaden bei Bayern blieb.

Tirol kam durch den Frieden von Preßburg an Bayern und wurde diesem am 11. februar 1806 übergeben (1809 Volkskrieg unter Undreas Hofer gegen die bayerische, durch Frankreich gestüßte Herrschaft). Nach dem Falle des französischen Kaiserreichs 1814 gelangte Tirol an Oesterreich zurück.

Durch den Wiener Kongreß wurde die noch heute geltende Grenze zwischen Preußen, Sachsen, Bayern einerseits und Oesterreich und der Schweiz andererseits im wesentlichen auf der Grundlage wieder aufgebaut, die im 18. Jahrhundert bestanden hatte. Diese Grenze gilt trok der Ereignisse von 1866 und 187) noch heute. Denn die anderweiten Bildungen der nördlich davon gelegenen deutschen Länder im deutschen Bunde und später im Deutschen Reiche haben an dieser Grenze selbst nichts geändert, nur daß die bisherige Grenze zwischen deutschen Reichsgliedern 1866 zur Bundes- und 1871 zur Reichsgrenze wurde.

Nichtsdestoweniger sind aber die Verhandlungen des Wiener Kongresses und des Nikolsburger Friedens von dem allergrößten Belang für Gegenwart und Zukunft dieser Grenze. Und wir müssen uns deshalb mit ihnen eingehend befassen.

Die Schluß-Akte des Wiener Kongreffes vom 9. Juni 1815 nennt im Artikel 93 als Länder, die gemäß dem Pariser frieden vom 30. Mai 1814 an Oesterreich zurückfallen: Istrien, Dalmatien, die ehemals venetianischen Inseln des Adriatischen Meeres, die Bucht von Cattaro, die Stadt Venedig, die Lagunen, Provinzen und Gebiete des festlandes der ehemaligen venetianischen Staaten auf dem linken Ufer der Etsch, die Herzogtümer Mailand und Mantua, die Fürstentümer Brigen und Crient, die Grafschaft Tirol, Vorarlberg, das Hasse, Deutsche Politik, I. Bd., 3. H.

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österreichische Friaul, das ehemals venetianische Friaul, das Gebiet von Montefalcone, die Herrschaft und die Stadt Triest, Kärnten, Krain, Kroatien auf dem rechten Ufer der Sau, fiume und das ungarische Küstengebiet und das Ge= biet von Castua. Im Artikel 94 werden als Länder, die neu mit Oesterreich aufgeführt werden, aufgeführt: Der Rest der im vorhergehenden Artikel erwähnten Länder von Venetien und alles Land, das zwischen dem Tessin, dem Po und dem Adriatischen Meere liegt, die Täler des Veltlin, von Bormio und von Chiavenna, die Länder, die früher die Republik Ragusa gebildet haben.

Der Artikel 95 macht genaue Angaben über die österreichischen Grenzen in Italien. (Wir sahen schon oben bei der Besprechung der Ostgrenze, daß Oesterreich auch Galizen erhielt, vergl. Artikel 5.)

Im Artikel 18 verzichtete der Kaiser von Oesterreich auf seine Suzeränitätsrechte über die Lausitz in Gemäßheit eines zwischen Oesterreich und Sachsen abgeschlossenen Sondervertrags vom 18. Mai 1815.

Schon vor der Unterzeichnung der Schlußzakte des Wiener Kongresses hatten aber Oesterreich und Bayern in Paris am 3. Juni 1814 einen geheimen Staatsvertrag abgeschlossen, dem dann am 23. Upril 1815 ein zu Wien unterzeichneter weiterer Staatsvertrag folgte, durch die eine Auseinandersetzung der österreichischen und bayerischen Ländereien stattfand. 1)

Danach verpflichtete sich Bayern an Oesterreich wieder abzutreten Tirol, 2) Vorarlberg, Salzburg, letzteres nach dem Umfange, in dem es der letzte österreichische Fürst besessen hatte, mit Ausnahme von Laufen und den auf dem linken Ufer der Salzach gelegenen Dörfern, das Innviertel und den Kreis von Hausrück mit einigen kleineren Uusnahmen. Dagegen versprach Oesterreich dem Königreich Bayern eine möglichst anderweite Landentschädigung innerhalb Deutschlands. Der Vertrag vom 23. Upril 1815 bestätigte diese Wiederabtretungen an Oesterreich und gab genauere Bestimmungen über die mit Oesterreichs Zustimmung vollzogenen Landerwerbungen Bayerns in Würzburg, Uschaffenburg, Fuldaischen Landbezirken, Isenburg und Landabtretungen, die Kurhessen, Württemberg, Hessen-Darmstadt und Baden an Bayern bringen sollten.

Die Grenze zwischen Oesterreich und Preußen wurde durch den Wiener Kongreß in keiner Weise abgeändert. Denn der zwischen Preußen und Oesterreich in Wien am 12. Juni 1815 abgeschlossene Sonder

1) Diese beiden Verträge sind abgedruckt im 8. Bande der Ukten des Wiener Kongresses S. 122 ff. u. 129 ff.

2) Die Wiedervereinigung Tirols mit Oesterreich in den Jahren 1813 bis 1816. Ein Vortrag, gehalten bei der feierlichen Sitzung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien am 30. Mai 1856 von Dr. Albert Jäger, wirkliches Mitglied der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften.

vertrag1) zur Ausführung der Bestimmungen der Artikel 51 und 52 der Schlußakte des Wiener Kongresses bezog sich ebenso wie die genannten Artikel nur auf die Zustimmung Preußens zu österreichischen Erwerbungen innerhalb Deutschlands. Oesterreich behielt von allen diesen Erwerbungen endgültig für sich nur das Deutschordenshaus in Frankfurt a. M. mit Zubehör, während es alle anderen (kleinen) Erwerbungen später an Bayern, Baden, Hessen, Sachsen-Coburg und den Fürsten Metternich abtrat. Dies geschah teilweise unter Mitwirkung der vom Wiener Kongreß selbst niedergesetzten Kommission zum Dollzug der grundsätzlich beschloffenen Länderauseinandersetzungen in einem Rezeß vom 20. Juli 1819 (Frankfurter Territorialkommission).

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Die Rechte auf die alte burgundische Grafschaft Neuenburg im Jura waren vom Hause Oranien auf König Friedrich I. von Preußen übergegangen und wurden am 3. November 1707 vom Lande anerkannt. Nach vielen politischen Wandlungen erklärte der Wiener Kongreß (Artikel 23 und 76) am 6. Upril 1815 Neuenburg als einen von der preußischen Monarchie unabhängigen, selbständigen Staat unter dem Hause Hohenzollern (Personalunion) und als 21. Kanton der helvetischen Eidgenossenschaft. Trotz mehrfacher Aufstände blieb die preußische Herrschaft aufrecht, bis der König von Preußen im Pariser Vertrage vom 26. Mai 1857 auf seine Rechte an Neuenburg verzichtete und damit leider auch die wichtige Stellung Preußens im burgundischen Zwischenlande zwischen Deutschland und Frankreich aufgab. Durch neuere Wanderungen hat übrigens der Kanton Neuenburg in jüngerer Zeit wieder ein mehr deutsches Gepräge gewonnen.

Der deutsche Krieg des Jahres 1866 wurde preußischerseits ganz gewiß nicht als Eroberungskrieg gegen Oesterreich unternommen. Bismarck wollte an die Stelle der österreichischen Vorherrschaft in deutschen Ungelegenheiten die Führung Preußens sehen. Über der Gedanke lag doch außerordentlich nahe, die überraschenden Siege Preußens über Oesterreich zu einer ausgiebigen Verbesserung der preußisch-deutschen Grenze gegen Oesterreich zu benutzen und zu diesem Zwecke Böhmen

1) Abgedruckt und mit Anmerkungen versehen im neunten (Supplement) Band der Akten des Wiener Kongresses S. 286–289.

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