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Ungesichts solcher Aufhehungen ist es doch eigentlich mehr als kindlich, wenn es noch immer Deutsche gibt, die nicht daran glauben, daß wir uns in einem von den Polen aufgedrängten Kriegszustande befinden. Wenn ein solcher Kriegszustand nicht dazu führen darf, den Gegner auszurotten, so muß er wenigstens die Mittel bieten, um durch eine anders gestaltete Grenze den Gegner dauernd unschädlich zu machen.

Bei diesen Forderungen darf man in Betracht ziehen, daß Deutschland zwar an sich keine dem russischen Reiche entgegenstehenden Interessen hat, daß viele Fälle denkbar sind, in denen für bestimmte Zwecke ein Bündnis zwischen dem deutschen und dem russischen Reiche für beide Teile große Vorteile bieten könnte, daß namentlich die Aufrechterhaltung des politischen Gegensatzes zwischen Rußland einerseits und Oesterreich und Großbritannien andererseits für uns sehr nützlich ist.

Uber wir dürfen nicht vergessen, daß selbst in Zeiten der sogenannten Deutschfreundlichkeit des amtlichen Rußlands in den Kreisen des altrussischen Volkstums ein glühender Haß glimmt gegen alles, was in Rußland und außerhalb Rußlands deutsch ist.

Daran ändert sich nichts durch die selbstmörderischen Wirkungen dieser deutschfeindlichen Empfindungen. Niemandem schuldet das russische Reich und das russische Volkstum größeren Dank, als dem Deutschtum. Die baltischen seit 700 Jahren angesessenen Deutschen und die Nachkommen der vor 200 und 100 Jahren in das eigentliche Rußland eingewanderten Deutschen haben jahrhundertelang das Reich zum Vorteile der Zaren und aller Russen als Beamte, Offiziere, Bürger und Landwirte beherrscht. Und Wilhelm Roscher hatte Recht, wenn er mir gegenüber vom deutschfeindlichen Zaren Ulerander III. oft sagte, dieser Zar komme ihm vor wie ein Mann, der sich jeden Tag den Daumen absäge, mit dem er (in etwa 80000 Deutschen) die anderen Finger seiner Hand 100 Millionen Untertanen — zusammengehalten hatte.

Bei den Erörterungen über die für uns wünschenswerte Weiterentwickelung der Ostgrenze Deutschlands besteht die heikelste frage darin, ob ein politischer Wiederanschluß der russischen Ostseeprovinzen deutscherseits angestrebt werden soll. Hierbei kommen ethnographische, geschichtliche und militärische Erwägungen in Betracht.

Ohne Zweifel sind diese Provinzen alter deutscher Kulturbesitz, jahrhundertelang beherrscht und kultiviert durch deutsches Blut, deutschen Geist und deutschen Schweiß. Leider aber kann nicht geleugnet werden, daß diese Gebiete von den deutschen Kolonisten trotz einer fünfhundertjährigen Herrschaft nicht eingedeutscht worden sind, im Gegensatz zu dem Siedelungsgebiet des Deutschen Ordens in dem heutigen Ostpreußen und Westpreußen. Niemand kann die Tatsache aus der Welt schaffen, daß nur die oberen Schichten der Bevölkerung der baltischen Provinzen, nämlich der Udel, die Literaten und das Bürgertum deutsch sind, daß dagegen die bäuerliche und ländliche Bevölkerung ihr ursprüngliches lettisches, ehstnisches und littauisches Volkstum bewahrt haben, ja daß diese Nationalitäten vielfach in bewußter Weise durch deutschen Einfluß gefördert worden sind. Daran wird nichts geändert dadurch, daß diese Urbevölkerung das evangelische Religionsbekenntnis der deutschen Herrschaftsbevölkerung teilt und alles das, was sie an Kultur besitzt, ihr verdankt. Es ist eine geschichtliche Schuld, die von den früheren Geschlechtern übernommen, sich an dem heutigen Geschlechte rächt, daß in den Ostseeprovinzen heute nur etwa 166000 Deutsche einer Bevölkerung von 1070 000 Letten und 885 000 Ehsten gegenüberstehen. Hieran wird auch wenig dadurch geändert, daß das russische Volkstum in den Ostseeprovinzen noch viel schwächer als das deutsche, nämlich fast gar nicht vertreten ist.

Man könnte also etwa sagen: Auf diese Ostseeprovinzen hat Deutschland den Anspruch einer 500 jährigen Geschichte, der ausschließlichen Kulturarbeit, des Vorhandenseins eines hochentwickelten Herrenvolkstums von einigen Hunderttausend Menschen, während Rußland dem weiter nichts als eine 200 jährige Mißwirtschaft gegenüberzustellen hat.

Leider kommt aber noch des weiteren in Betracht, daß diese Gebiete für Deutschland viel schwerer militärisch haltbar sind, als für Rußland, da Deutschland sich in dieser Herrschaft lediglich auf die Ostsee, Rußland auf das ganze, gewaltige russische Hinterland stützen kann. Eine militärisch-politische Eroberung und Festhaltung der

Ostseeprovinzen dürfte für das Deutsche Reich auch nur dann aussichtsvoll sein, wenn in der Eroberung und Festhaltung von Kongreß-Polen eine breitere strategische Grundlage zu Lande geschaffen würde als bisher.

Erklärlicherweise haben sich nicht nur deutsche Volksfreunde, sondern auch Geschichtsforscher und Staatsmänner mit dieser Frage oft beschäftigt.

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Heinrich von Treitschke schrieb aus Heidelberg am 5. August 1868 einen offenen Brief an den (baltischen) Redakteur der Grenzboten“, Dr. Julius Eckardt, der im Jahre 1868 unter dem Titel „Ultpreußen und die deutsch-russischen Ostseeprovinzen“ in den „Grenzboten" und dann später in dem Werke „Zehn Jahre deutscher Kämpfe“ abgedruckt worden ist.

In diesem Aufsatze verteidigt Treitschke gegen Eckardt seine Auffassung, wonach die deutsch-russischen Ostseeprovinzen durch ihre mindere Intensität der Eindeutschung es sich selbst zuzuschreiben haben, daß sie eine andere Zukunft hatten, als das deutsche Ordensland Preußzen. In diesen kolonialpolitisch überaus belangreichen Darlegungen kommt Treitschke S. 217 zu folgendem Ergebnis:

„Das lebende Geschlecht darf auf eine politische Wiedervereinigung mit den baltischen Deutschen nicht hoffen; es scheint mir sogar unsicher, ob dieser Gedanke jemals zu den berechtigten und möglichen Plänen deutscher Politik zählen wird. Unsere Wünsche für die Ostseeländer müssen sich darauf beschränken, daß dort deutsche Sprache und Sitte, die überlieferten Formen des deutschen Gemeinwesens ihr gutes Recht behaupten und die Ureinwohner allmählich der deutschen Bildung gewonnen werden.

Da wir zu bewaffnetem Einschreiten nicht berechtigt sind und sogar eine diplomatische Einmischung nur bei einer ungewöhnlich günstigen Verwickelung der europäischen Politik ratsam ist, so kann ein unzeitiges übereifriges Auftreten der deutschen Presse den Ostseeländern leicht schaden und das gute Einvernehmen zwischen Deutschland und Rußland, dessen der Weltteil jetzt bedarf, gefährden. Verständige Vorsicht erscheint leicht als Kaltsinn.“

Bekanntlich hat der fürst Bismarck sich wiederholt auf denselben Standpunkt gestellt und alle Versuche der Deutschen aus den russischen Ostseeprovinzen abgelehnt, bei dem Kaiser von Rußland eine günstigere Behandlung des Deutschtums in den russischen Ostseeprovinzen zu befürworten.

Wir selbst kommen bei unseren Betrachtungen der baltischen frage zu folgendem Ergebnis:

1. Das Deutsche Reich muß davon absehen, ohne äußere Veranlassung einen Eroberungskrieg gegen Rußland zu führen zum Erwerbe des alten deutschen Ordenslandes an der heutigen russischen Küste.

2. Kommt es zu einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen dem Deutschen Reiche und dem Russischen Reiche, dann muß eine Loslösung der heutigen Ostseeprovinzen in Betracht gezogen werden und zwar nicht nur zum Zwecke der Schwächung des Russischen Reiches, sondern auch auf der Grundlage, daß diese Länder nicht zum Gebiete des großrussischen Volksbodens gehören, und daß Rußland bisher nicht den Befähigungsnachweis dafür erbracht hat, diese Gebiete russisch zu machen.

3. Jede Gelegenheit im Kriege und im Frieden ist deutscherseits zu benutzen, um eine politische Selbstverwaltung in diesen Gebieten möglich zu machen und um die Reste des deutschen Volkstums, der deutschen Kultur und des evangelischen Glaubensbekenntnisses in diesen Gebieten sicher zu stellen. Man wird diese Punkte mit eben derselben Berechtigung zu Gegenständen internationaler Verträge machen können, wie andere Fragen des Völkerrechts, und man wird hierbei von der verknöcherten formel der Nichteinmischung in fremde Staatsverhältnisse endlich ebenso absehen dürfen, wie dies bei wirtschaftlichen Fragen in den sogenannten Handelsverträgen längst üblich ist.

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V. Die Südgrenze.

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Pas heutige Deutsche Reich hat nach Süden, besonders nach Böhmen hin verhältnismäßig alte und verhältnismäßig natürliche1) Grenzen. Böhmen wird im Riesengebirge, im Erzgebirge und im Böhmerwalde2) durch einen mächtigen Gebirgswall vom Deutschen Reiche geschieden, der im letzten Grunde für diese Scheidung verant= wortlich gemacht werden kann. Undererseits darf nicht verkannt werden, daß Böhmen zum Stromgebiet der Elbe gehört oder vielmehr das wichtigste Quellgebiet der Elbe ist. Dadurch wird Böhmen auf die wirtschaftliche und eigentlich auch politische Zusammengehörigkeit mit den Gebieten der mittleren und unteren Elbe hingewiesen.

Das Erzgebirge bildete schon um das Jahr 1000 im wesentlichen die Grenze zwischen Sachsen (Meißen) und Böhmen. Auch das Riesengebirge schied seit den Zeiten der ersten deutschen Besiedelung beider Länder Böhmen und Schlesien. Hieran wurde nichts dadurch geändert, daß bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts Schlesien und Böhmen wiederholt und auf lange Zeit denselben Herrschern untertan waren. Fast seit derselben Zeit steht die Grenze zwischen Böhmen und Bayern fest.

Um so wechselvoller sind die Grenzen des heutigen Bayerns, Württembergs und Badens gegen den Süden hin gewesen. Teils ragten die österreichischen Besitzungen weit nach dem heutigen Südwestdeutschland hinein, teils erstreckten sich die alemannischen und bajuwarischen Stammes

1) Das erleidet im einzelnen erklärlicherweise Ausnahmen. Ratzel macht (a. a. . S. 73) mit Recht darauf aufmerksam, daß die sächsisch-böhmische Grenze auf dem Erzgebirge zwar in der Nähe des Kammes und parallel mit diesem läuft, aber nicht auf ihm selbst, sondern nördlich der Wasserscheide. Und er erblickt hierin ein bedauerliches Zeichen der Schwäche auf deutscher Seite. Frankreich habe heute auf den Vogesen eine bessere Grenze als Deutschland im Erzgebirge und den Alpen.

2) Der Böhmerwald und seine Stellung in der Geschichte, eine geographischhistorische Abhandlung von Dr. Paul Müller, Straßburg i. E., 1904.

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