Page images
PDF
EPUB

überhaupt eigentümlich ist, daß 1866 wie 1815 und 1871 die deutschen Grenzen eigentlich nicht durch die Erwägungen derer, die sich feindlich gegenüber gestanden hatten und nun Frieden schlossen, zustande kamen, sondern durch die Rücksichtnahme auf Dritte und die Einsprüche von Dierten und fünften.

Wenn wir aber bedauern, daß Preußen 1866 nicht Böhmen erworben hat, so geschieht dies auch noch aus Erwägungen, die auf deutscher Seite liegen. Ganz gewiß hätte diese Erwerbung den Kampf zwischen Deutschen und Tschechen in Böhmen verschärft. Uber er hätte die Deutschen noch in einer günstigeren Stellung vorgefunden, als sie 3. B. heute von den Deutschen eingenommen wird.

Das Entscheidende liegt aber darin, daß die Erwerbung eines zweiten halbslawischen Gebietes neben dem vorhandenen halbpolnischen das Deutsche Reich von vorneherein in eine deutschvolkliche Kampfesstellung hineingedrängt hätte, die für die Entwickelung zum deutschen Nationalstaat nützlicher gewesen wäre, als die liberalisierende Richtung, die sich aus der Entwickelung zum Rechtsstaat notwendigerweise ergab. Die Reichsentwickelung wäre mehr „national“ und weniger liberal" geworden. Und das wäre ein unendlicher Gewinn gewesen.

Man soll nicht sagen, das preußische Beamtentum habe sich nicht einmal dem Kampfe gegen das Polentum gewachsen gezeigt; wie hätte es auch noch gleichzeitig einen Kampf gegen das Tschechentum führen können? Diese unbestreitbar mangelhafte Fähigkeit ist doch nur das Ergebnis einer überfriedlichen Stimmung, einer Entwöhnung vom Kampfe, der ganz allein Preußen und Deutschland groß gemacht hat.

Hätten das deutsche Beamtentum und die deutsche Urmee schon seit 1866 den Kampf gegen Polen und Tschechen führen müssen, dann wäre es nicht zur Schlappheit des Caprivischen Zeitalters und zur Mutlosigkeit von heute gekommen.

Wir sind nun nicht so kindisch, zu verlangen, Deutschland solle heute oder in absehbarer Zeit Böhmen erobern und bei günstiger Lage der hohen Politik das nachholen, was 1866 versäumt worden ist. Ein Zeitraum von vierzig Jahren hat Zustände geschaffen, die sich nicht ohne weiteres wieder beseitigen lassen. Wir müssen heute nach anderen formen suchen, um das alte Ziel zu erreichen, das Ziel, Organisationen zu finden, die dem Deutschtum auch nach Süden vorteilhafte und dauerhafte Grenzen geben. Vielleicht gelingt dies in dem Rahmen des größeren Deutschland", von dem weiter unten die Rede sein soll.

[ocr errors]

VI. efterreich-Ungarn als deutsches
Grenzland.

$

eber die wirtschaftliche und politische Bedeutung der benachbarten österreichisch-ungarischen Monarchie für das Deutsche Reich herrscht Uebereinstimmung bei allen deutschen Politikern. Die Meinungen gehen nur insoweit auseinander, als die Kleindeutschen meinen, das völkerrechtliche Bündnis zwischen beiden Staaten genüge, höchstens könne noch ein über die Meistbegünstigung hinausgehender Handelsvertrag oder Wirtschaftsvertrag hinzutreten. Die nationalen Verhältnisse in dem Donaustaate müßten aber für uns im Deutschen Reiche ebenso gleichgültig sein, wie die Nationalitäten in dem anderen Teilnehmer am Dreibunde, dem Königreiche Italien oder wie die Volkstumsverhältnisse in Frankreich oder Rußland oder irgend einem anderen Großstaate, mit dem wir etwa in Zukunft Bündnisse abschließen könnten. Die Ulldeutschen (im Deutschen Reiche) dagegen sind der Meinung, daß ganz unabhängig von dem bestehenden völkerrechtlichen Bündnis Sonderbeziehungen zwischen dem Deutschen Reiche einerseits und Oesterreich-Ungarn andererseits bestehen, die durch die bis 1866 gemeinsame Geschichte beider Großmächte und vor allem durch den Umstand bedingt werden, daß in dem Donaustaate mindestens 12 Millionen Deutsche wohnen, und diese Deutschen in der Monarchie eine geschichtliche, politische, wirtschaftliche und kulturelle Vorzugsstellung vor den anderen Völkern einnehmen, sodaß es geboten sei, das 1866 verloren gegangene staatsrechtliche Verhältnis zwischen beiden Großstaaten auf einer den jetzigen Verhältnissen entsprechenden, aber vor allem die Belange des gemeinsamen Deutschtums berücksichtigenden Grundlage neu aufzubauen.

Wir stellen uns natürlich auf die Seite der reichsdeutschen Ulldeutschen, möchten aber unsererseits hinzufügen, daß die Neugestaltung dieser staatsrechtlichen Beziehungen in erster Linie durch den Umstand bedingt wird,

daß Oesterreich-Ungarn seit 1000 Jahren ein deutsches Siedelungsland ist, ebenso wie das gesamte Gebiet des Deutschen Reiches östlich der Saale, daß demnach das deutsche Volk an die Donauländer unverjähr= bare Rechte besitzt, die älter und zwingender sind, als die Rechte aller mitteleuropäischen Staaten und Herrscherhäuser. Nicht nur Dynastien und Regierungen sind Rechtskörper, sondern nationale Gesamtheiten sind ebenfalls Rechtspersönlichkeiten, die in Dynastien und Staatsformen nur vorübergehende Organe besitzen zur Erreichung des Gesamtzweckes der Wohlfahrt der ganzen unteilbaren Nation. Staatsbildungen, wie sie 1866 geschaffen wurden, mögen notwendig sein, und wir erkennen die Staatsnotwendigkeiten des Prager Friedens von 1866 durchaus an. Aber sie sind nichts Endgültiges. Und sie dürfen einer endgültigen Sammlung und Regelung des Ganzen niemals im Wege stehen. Die Grundsätze des Gottesgnadentums der fürsten und der sogenannten Legitimität dürfen im 20. Jahrhundert nicht mehr angerufen werden, auch nicht von solchen, die wie wir, strenge Monarchisten sind. Die nationalen forderungen anderer Völker an ihre fürstenhäuser müssen endlich auch bei dem deutschen Volke zu den politischen Selbstverständlichkeiten gehören.

Wir werden nun in nachstehendem zu prüfen haben, ob die Einwendungen der Gegner gegen die folgerungen aus diesen unseren Leitsähen stichhaltig sind oder nicht. Schon im voraus wollen wir aussprechen, daß die Grundanschauungen derer, die von kleindeutscher Seite als Gewährsmänner angeführt zu werden pflegen, nämlich des Theoretikers Treitschke und des Praktikers Bismarck, sich durchaus mit unseren forderungen vertragen, wenn man nur so billig ist, zu berückfichtigen, daß die Aussprüche des einen und noch mehr die des anderen nur bedingte Wahrheiten sind. Sie unterliegen namentlich der Bedingtheit der Zeit, in denen sie ausgesprochen wurden.

Die Kleindeutschen, die eine Wiederherstellung bindender staatsrechtlicher Beziehungen zwischen dem Deutschtum in Oesterreich und dem Deutschen Reiche ablehnen, pflegen freilich, oft ohne dies zu wissen, sich auf die Gründe zu stüßen, die der wissenschaftliche Vertreter des Kleindeutschtums, Heinrich von Treitschke in einem Aufsatze entwickelt hat, geschrieben in Heidelberg am 15. Dezember 1871, dann abgedruckt in dem Sammelwerk „Zehn Jahre deutscher Kämpfe“. Heinrich von Treitschke geht dort von der durch nichts begründeten Doraussetzung aus, daß diese Wiedervereinigung des Deutschtums in Oesterreich mit dem Deutschtum des Deutschen Reiches auf dem Wege

des Einheitsstaates erfolgen müsse. Nur so erklärt sich die dialektisch einwandfreie Beweisführung Treitschkes. Gerade weil man uns Ulldeutschen diese Beweisführung immer und immer wieder vorhält, gebietet uns die Unparteilichkeit, sie hier im Wortlaut festzulegen. Treitschke sagt also an der angegebenen Stelle im wesentlichen folgendes:

"I

Wir deutschen Unitarier (!!) waren niemals Oesterreichs feinde, wir bekämpften nur die Herrscherstellung, die Oesterreich zum Unheile aller Teile auf deutschem und italienischem Boden behauptete. Nun wir diesen Kampf siegreich durchgefochten haben, denken denken wir österreichischer als viele Oesterreicher selbst. Unser Reich kann und darf lediglich den Ehrgeiz hegen, innerhalb seiner Grenzen, die uns allen vollauf genügen, ein freies und festes Gemeinwesen auszubauen. Wir sehen die überhastete Einheitsbewegung der Italiener als ein warnendes Beispiel vor Augen und können nicht wünschen, zu den starken zentrifugalen Kräften, die im Innern Deutschlands gähren, zu unseren polnischen, dänischen, französischen Grenzbewohnern noch an acht Millionen Tschechen, Hannaken und Tschitschen als deutsche Brüder zu gewinnen. In den Tagen Friedrichs des Großen, da das Slawentum schlummerte, war es vielleicht nicht allzuschwer, das böhmische Land gänzlich für die deutsche Gefittung zu erobern. Heute, nachdem der alte Rassenhaß mit entseßlicher Wildheit wieder erwacht ist, würde selbst die gesammelte Kraft des einigen Deutschlands lange Jahrzehnte schwerer und vielleicht unfruchtbarer Urbeit an diesen Boden vergeuden müssen, wenn wir hier jemals die traurige Erbschaft der Habsburger anträten. Wir besitzen der ultramontanen „Reichs"-feinde schon überviel, wir werden sie in Schranken halten; doch unser Reich ist nur darum ein paritätischer Staat, weil die Protestanten in ihm überwiegen; wir würden uns versündigen an der Zukunft deutscher Geistesfreiheit, wenn wir darauf ausgingen, noch 14 Millionen Katholiken in das Reich aufzunehmen."

Der Zerfall Oesterreichs aber wäre eine in der gesamten Geschichte beispiellose Umwälzung, die uns in unabsehbare Kriege zu verwickeln, das Gedeihen friedlicher Gesittung auf lange hinaus zu zerstören drohte. „Wir Deutschen haben das Nationalitätsprinzip niemals in dem rohen und übertreibenden Sinne verstanden, als ob alle Europäer deutscher Zunge unserem Staate angehören müßten. Wir betrachten es als ein Glück für den friedlichen Verkehr des

Weltteils, daß die Grenzen der Nationen nicht gleichsam mit dem Messer in die Erdrinde eingegraben sind, daß noch Millionen Franzosen außerhalb Frankreichs, Millionen Deutsche außerhalb des Deutschen Reiches leben. Wenn die heutige Lage Mitteleuropas sich befestigt, wenn in der Mitte des Weltteils zwei große Kaiserreiche bestehen, das eine paritätisch und rein deutsch, das andere katholisch und vielsprachig, doch von deutscher Besittung befruchtet; -wer darf behaupten, daß ein solcher Zustand für den deutschen Nationalstolz demütigend sei? Prächtiger, glänzender als der Tag von Königgrät strahlt der Ruhm von Sedan; doch der feste Grund unserer heutigen Macht, die schöpferischen Gedanken der neuen deutschen Politik sind durch das gesegnete Jahr 1866 geschaffen. Los von Oesterreich! hieß damals unser Schlachtruf. Wie von einem Ulp befreit, atmete Deutschlands Brust auf, als wir von Oesterreich uns trennten. Jeder neue Tag der deutschen Geschichte bewies seitdem, daß jene Scheidung eine Notwendigkeit war, daß wir erst durch sie uns selber zurückgegeben wurden. Sollen wir jetzt in zügelloser Begehrlichkeit den Bau von 1866, die Grundmauern unseres Reiches, wieder über den Haufen werfen?"

Die Vertreter kleindeutscher Unschauungen stehen auch heute noch auf diesem Boden, ohne zu bedenken, daß Treitschke diese Worte 1871 geschrieben hat. Vor allem aber pflegen sie den weiteren Teil des genannten Aufsatzes von Treitschke nicht zu lesen oder doch wenigstens nicht anzuführen. Der zweite Teil und der Schluß des Aufsakes gibt nämlich die obigen Unschauungen zum großen Teil wieder völlig auf, insofern sie von Treitschke nur als bedingungsweise gemeint waren. Diese Bedingungen bestanden für Treitschke in dem fortbestehen der Großmachtstellung Oesterreich-Ungarns und in der Uufrechterhaltung des deutschen Besikstandes in Oesterreich-Ungarn. („Auf große Erfolge hat deutsche Sprache und Sitte unter den Oesterreichern nicht zu hoffen ; uns muß genügen, wenn die Deutschen ihren Besikst and gegen Slawen und Madjaren aufrecht erhalten“.)

In beiden Beziehungen hat sich ja Treitschke nun vollständig getäuscht. Uber was das bemerkenswerteste ist, er hat diese Befürchtungen schon 1871 gehegt und im weiteren Verlauf des angeführten Aufsatzes mit klaren Worten ausgesprochen. Zunächst ist es außerordentlich bemerkenswert, daß Treitschke in Uebereinstimmung mit dem späteren Linzer Programm das Ausscheiden Galiziens und Dalmatiens aus dem

« PreviousContinue »