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IV. Die Oftgrenze.

Pie Ostgrenze des deutschen Siedelungsgebietes ist fast niemals

mit der politischen Ostgrenze des Deutschen Reiches oder dessen Zubehörungen zusammengefallen. Das Besiedelungsgebiet des deutschen Volkes ragte regelmäßig in die benachbarten slawischen Staats= gebiete hinein, wie wir im zweiten Hefte dieses Bandes nachgewiesen zu haben glauben. Die am weitesten nach Osten vorgeschobene staatliche Grenze Deutschlands fällt zusammen mit der Ostgrenze der Gebiete des Deutschen Ordens. Daß dieses Ordensland, und zwar nicht nur Preußen, sondern auch Ehstland, Livland, Kurland mit Semgallen und vorübergehend auch Samogitien, Zubehörungen des Deutschen Reiches gewesen sind, kann wohl nicht bestritten werden, wenn auch gerade diese Dinge immer im fluß waren, insofern als die Gebiete des Deutschen Ordens vorübergehend unter fremder Botmäßigkeit gestanden haben, und zwar im wesentlichen polnischer, aber auch schwedischer und russischer. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts haben sich die Dinge dann derart weiterentwickelt, daß nach vorübergehenden Schwankungen das heutige Østpreußen und Westpreußen sich immer enger politisch an das deutsche Heimatland anschlossen, während die heute zu Rußland gehörigen baltischen Gebiete des deutschen Ordens sich immer mehr und mehr der heimischen politischen Einflußnahme entfremdeten und nur in bezug auf Glaubensbekenntnis und Kultur bis auf den heutigen Tag als deutsche Zubehörungen angesprochen werden können.1)

Die fortgesetzten Schwankungen der Ostgrenze des Deutschtums hingen später zusammen mit der unaufhörlichen, zunächst bis zum 17. Jahrhundert aufsteigenden und dann abfallenden Entwickelung Polens.2)

1) Vergleiche die außerordentlich lehrreiche Karte der Entwickelung der Ge biete des Deutschen Ordens auf Blatt 71 des historischen Handatlasses von G. Droysen. 2) Uebersichtliche Darstellung der Entwickelung Polens, vergleiche Blatt 73c des Historischen Handatlafses von Droysen.

Unter diesen Umständen ist es außerordentlich schwer, mit den politischen Forderungen der Gegenwart für die Ostgrenze des Deutschen Reiches an geschichtliche Tatsachen anzuknüpfen. Es bleibt hier nichts übrig, als die Erörterungen über die Zweckmäßigkeit unserer Østgrenze nach den zwei Gesichtspunkten zu gliedern, ob es nützlich erscheint, an der durch den Wiener Kongreß von 1815 erhaltenen staatlichen Østgrenze Preußens, die dann durch die Ereignisse von 1867 und 1871 zur Ostgrenze des Deutschen Reiches geworden ist, festzuhalten oder hinter sie zurückzuweichen, angesichts des Umstandes, daß sich diesseits dieser Grenze ein nicht unbeträchtlicher Teil des heutigen polnischen Siedelungsgebietes findet, oder den Versuch zu machen, diese Grenze weiter ostwärts vorzuschieben, angesichts der Tatsache, daß jenseits dieser Grenze Millionen von deutschen Volksgenossen gesiedelt sind und weite Gebiete frühere Zubehörungen des Deutschen Reiches, seiner Gliederstaaten und seiner Zubehörungen gewesen sind.

Es braucht auch hier an dieser Stelle kaum darauf hingewiesen zu werden, daß es sich dabei niemals um spontane Handlungen drehen kann, sondern daß diese westlichen oder östlichen Verschiebungen das Ergebnis großer europäischer Auseinandersehungen sein müssen und werden. Aber auch hier empfiehlt es sich, derartigen Möglichkeiten, die jeden Tag eintreten können, nicht unvorbereitet gegenüber zustehen. Bei diesen Erörterungen kommen selbstverständlich nicht nur die Bezugnahmen auf das Vorhandensein älterer oder jetziger deutscher Siedelungen, mithin das Vorhandensein deutschen Blutes, die Reste früherer deutscher Herrschaftsausübung, die Einflüsse deutscher Kultur auf fremdem Volksboden, sondern namentlich auch militärische Erwägungen in Betracht, die wir aber im Rahmen unserer Deutschen Politik nur in beschränktestem Maße anstellen können.

In höchstem Grade belangreich ist es, daß das deutsche Siedelungsgebiet fast an keinem einzigen Punkte an das Siedelungsgebiet des russischen Volkes grenzt. Aus dieser einfachen Tatsache kann und muß man mit aller Entschiedenheit die Voraussage ableiten, daß die heutigen Grenzen des Deutschen Reiches und des Russischen Reiches nicht für alle Ewigkeiten dauernde sein werden. Wie wir im Westen ein Zwischenland zwischen Deutschland und Frankreich kennen lernten, dessen allmähliche Aufteilung zwischen Deutschland und Frankreich den wesentlichen Inhalt des westlichen politischen Schauplatzes bildet, so haben wir auch im Osten ein Zwischenland zwischen dem Deutschtum und dem Russentum, das heute durch die Siedelungsgebiete der Polen, der Finn

länder, Ehstländer, Livländer, Litauer und der Ruthenen ausgefüllt wird und voraussichtlich den Schauplak politischer Weiterentwicklungen und staatlicher Auseinandersetzungen im 20. und 21. Jahrhundert bilden wird.

Wenn wir zuerst der Frage näher treten, ob wir Deutschen hinter die jetzige Grenze des russischen Reiches, etwa bis zur westlichen Grenze des vorwiegenden Polentums, zurückweichen sollen, so genügt es nicht, einfach auszusprechen, daß wir Erworbenes grundsätzlich nicht aufgeben dürfen, und daß das polnische Siedelungsgebiet innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches auf das innigste mit deutschem Volkstum durchsetzt ist, wie wir im zweiten Hefte dieses Bandes nachgewiesen haben. Bei dieser Frage dürfte die Entscheidung auf dem militärischen Gebiete liegen. Heute ist Berlin die Hauptstadt des Deutschen Reiches, eine Tatsache, die wir selbst nicht einmal abändern könnten, wenn wir es wollten, die aber auch von bestimmendem Einfluß auf unsere Grenzgestaltung sein muß. Da liegt nun die Grenze der alten polnischen Herrschaft des polnischen Volkes so nahe an Berlin (sie reichte bis nahe an Landsberg an der Warthe heran), daß es Selbstmord sein würde, wollte man den polnischen Wünschen auf Wiederherstellung der alten Westgrenze des polnischen Reiches auch nur in bescheidenster Weise Rechnung tragen. Niemand ist zum Selbstmord verpflichtet. Und so wird das deutsche Volk seinen letzten Blutstropfen einzusetzen haben, um das Vordringen des Polentums von der jetzigen Grenze des russischen Reiches auf die deutsche Reichshauptstadt Berlin zurückzuwerfen. Wir haben im ersten Hefte dieses Bandes S. 38 ff. bereits dargelegt, daß selbst bei dem Bestreben, unser Deutsches Reich zu einem Nationalstaat auszugestalten, von einer Ubstoßzung der polnischen Bevölkerung im Osten des Reiches in alle Wege keine Rede sein kann und haben dort die Aussprüche des Fürsten Bismarc als Zeugnisse für unsere Auffassung beibringen können.

für die Beibehaltung der gegenwärtigen deutsch-russischen Grenze sprechen viele Erwägungen, von denen die entscheidenste in der Besorgnis beruht, durch ein Verschieben der Grenze nach dem Osten mehr Slawen und zwar Polen in unser Reich einzubeziehen als Deutsche oder verpolte Deutsche.

für eine östliche Vorschiebung unserer Grenze sprechen dagegen viele geschichtliche und militärische Erwägungen. Es liegt auf der Hand, daß das weitere Vordringen Russisch-Polens über eine Linie, die von dem nordöstlichsten Punkte des preußischen Staates in Ostpreußen, also

etwa von Eydtkuhnen bis nach dem östlichsten Punkte Oberschlesiens in der Nähe von Kattowitz oder Neuberun an der Weichsel führt, um etwa 150 Kilometer westlich, unsere Verteidigung gegen ein russisches Dordringen auf das äußerste erschwert.

für den Fall eines kriegerischen Zusammenstoßes zwischen Rußland und Deutschland könnte man unter Voraussetzung des deutschen Sieges in der Tat eine deutsche Ostgrenze verlangen, die von Kowno nach Kattowitz führt und mithin Warschau einschließt. Eine derartige Forderung erscheint um so weniger unnatürlich, als sie Zustände wieder herstellen würde, die bereits genau vor einem Jahrhundert bestanden.') Denn der Wiener Kongreß des Jahres 1815 hat bekanntlich dem preußischen Staate nicht alle seine früheren Erwerbungen in Polen wiedergegeben. Polen verlor nämlich hierbei2) an Rußland Neu-Ost-Preußen und Südpreußen.

Bis zum Jahre 1806 hatten diese Gebiete einschließlich Warschau zu Preußen gehört, bis zu einer Grenze, die von Gleiwitz die Piliza abwärts bis zur Weichsel, die Weichsel entlang bis westlich von Warschau und Praga führte, den Bug aufwärts bis in die Gegend von Janow, von dem Buge sich nördlich wendend, Bialystok einschließend, Grodno ausschließend, bis an den Niemen ging und diesem folgend bis an die jetzige Østgrenze von Ostpreußen führte. Diese 1815 nicht wieder hergestellte Grenze hätte den Vorzug, eine unmittelbare fast gradlinige fortsetzung der Grenze zwischen Oesterreich und Ungarn herzustellen.

Zunächst einige Worte über die geschichtliche Entwicklung der deutschen Ostgrenze.

Die Vorschiebung der deutschen Grenzen nach dem Osten war das Ergebnis der mächtigen räumlichen Entwickelung3) des preußischen Staates seit dem 17. Jahrhundert. Sie vollzog sich unter den folgenden Fürsten durch nachstehende östliche Erwerbungen:

1) Kartographische Uebersichten über die Teilungen Polens in dem Historischen Handatlas von Droysen, Blatt 73; in dem Historischen Handatlas von Spruner. Menke, Nr 71.

2) Vgl. die vortrefflichen kritischen Bemerkungen zur Geschichte Preußens von Karl Wolf in Meyers Konversationslexikon, 5. Auflage, 14. Band, S. 210 ff. 5) Kartographische Uebersicht der Territorialentwickelung Preußens in Droysens Historischem Handatlas S. 52, 53 und in Meyers Konversationslexikon, 5. Aufl., 14. Band, S. 210. Ebenda auch eine übersichtliche Tabelle über das Wachstum des preußischen Staates unter den Hohenzollern seit 1415.

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Von besonderem Belang waren dabei die Teilungen Polens in den Jahren 1772, 1793 und 1795 (1796). Die Beweggründe für die Teilungen Polens lagen in dem inneren Zerfalle des polnischen Reiches. Wenn Preußen und Oesterreich sich an diesen Teilungen beteiligten, so geschah es, um Polen nicht ganz in die Hände Rußlands fallen zu lassen.

In der ersten Teilung 1772 verlor Polen an Oesterreich Ost= galizien und Wladimir, an Rußland einen Teil von Littauen und an Preußen Westpreußen, jedoch ohne Danzig und Thorn und den Neşedistrikt.

Die Kölnische Zeitung Nr. 829 vom 10. und Nr. 832 vom 11. August 1905 enthält zwei Artikel über „Die Entstehung der ersten Teilung Polens“, in denen die früheren Sagen, auch die Ferrands in seiner Geschichte der 3 Teilungen Polens an der Hand des 30. Bandes der Politischen Korrespondenz Friedrichs des Großen zurückgewiesen werden. Friedrich ging sehr widerwillig und voller Mißtrauen gegen Oesterreich und Rußland an die Teilungspläne heran, die mit der Zukunft der Donaufürstentümer verquickt waren. Entscheidend find zwei Erlasse vom 20. februar 1771 an den Grafen Solms. In dem ersten formuliert Friedrich den Stand der frage dahin: „Es handelt sich nicht mehr darum, Polen unversehrt zu erhalten, da die Oesterreicher einen Teil nehmen wollen, sondern allein darum, zu verhindern, daß die Teilung nicht das Gleichgewicht zwischen der Macht des Hauses Oesterreich und meines Hauses störe." So will denn der König, nach Oesterreichs Vorbild, alte Ansprüche geltend machen und „irgend eine kleine Provinz in Polen“ besetzen. Dem Gesandten wird die Aufgabe gestellt, Katharina und ihr Minifterium für die preußischen Pläne zu gewinnen. In dem zweiten Erlaß lehnt friedrich ausdrücklich ab, sich irgendwie mit Oesterreich über die Teilung zu ver

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