Page images
PDF
EPUB

1827 verabredeten England und die Verein. Staaten, ihren Grenzstreit dem Schiedsspruche des Königs der Niederlande zu unterbreiten, leßtere verwarfen denselben, da er die eigentliche Streitfrage nicht entschied, sondern eine neue hypothetische Basis empfahl. [G. Hinzuzufügen wäre den angeführten Gründen etwa noch zweifelhafte Fassung des Schiedsspruches selbst. Dagegen ist der von Bluntschli § 495d angeführte: „wenn der Inhalt des Spruchs mit den Geboten des Völker- oder Menschenrechts unverträglich ist“, weil nicht durch einen Schiedsspruch auferlegt werden soll, was nicht durch einen Vertrag vereinbart werden darf, viel zu vag, um Bedeutung zu haben. Die Partei zu deren Ungunsten der Spruch ausgefallen, könnte zu leicht finden, daß derselbe dem widerspricht, was sie für ihr Menschenrecht hält.]

14) Die fog. reductio ad arbitrium viri boni, worauf sich auch 1. 76. 78. 79 D. pro soc. u. 1. 9 D. qui statisd. cog. bezicht.

15) Die лólis Exudytos. M. j. des Verf. Athen. Gerichtsverf. S. 340.

16) Gallus Aelius bei Festus: „Reciperatio est, cum inter populum et reges nationesque ac civitates peregrinas lex convenit, quomodo per reciperatorem reddantur res reciperenturque, resque privatas inter se persequantur." S. Karl Sell, Die Recuperatio der Römer. Braunschw. 1837. [G. Auch im Mittelalter finden wir zahlreiche_Beispiele des Schiedsspruchs, die Gepiden bieten ihn den Lombarden an, Ludwig IX. von Frankreich übte ihn mehrmals und Kaiser Friedrich II. erflärte sich bereit, ihm seinen Streit mit dem Papst zu unterbreiten. Die Doctoren der Italienischen Universitäten übten das Amt als Schiedsrichter vielfach in Streitigkeiten Italienischer Staaten, Alexander VI. zwischen Spanien und Portugal 1493 hinsichtlich der neuentdeckten Länder.]

17) (G. Ebendeshalb war die Entscheidung nicht mehr eigentlich internationaler Schiedsspruch.]

Retorsion unbilliger Rechtsgrundsähe und Maßregeln 1).

110. Erlaubt sich eine unabhängige Macht gegen andere oder deren Angehörige zwar keine Ungerechtigkeit, wohl aber eine Unbilligkeit, d. h. eine ungleiche Behandlung fremder Staaten oder ihrer Angehörigen innerhalb des eigenen Rechtskreises, indem sie dieselben von gewissen Vortheilen entweder ganz ausschließt, welche sie ihren eigenen Unterthanen bewilligt, oder sic doch zu Gunsten der lezteren, oder auch gegen andere bevorzugtere Nationen zurückstellt, oder indem sie auswärtige Nationen bei der Einräumung ge= wisser Vortheile auf ungewöhnliche Weise belastet, oder endlich selbst dann, wenn sie im Allgemeinen, sogar in Betreff der eigenen Unterthanen, Grundsätze aufstellt oder befolgt, welche den von anderen Nationen befolgten Regeln zuwiderlaufen und mit materiellen Nachtheilen für dieselben verbunden sind 2), so tritt das Recht der Retorsion in Kraft, d. h. die Rückanwendbarkeit desselben Princips gegen die solchergestalt handelnde Macht, um sich in Gleichheit mit derselben zu stellen oder zu erhalten, bis die Unbilligkeit gehoben ist, eine retorsio iuris, geheiligt in dem Rechtssaß: quod quisque

in alterum statuerit ut ipse eodem iure utatur, um den Egoismus oder die Einseitigkeit des Anderen ihm selbst fühlbar zu machen 3).

Einer Anwendung dieser Marime ist nicht allein dann erst Raum gegeben, wenn eine Macht von dem für eine andere Nation beschwerlichen Grundsatz bereits im einen oder anderen Falle Gebrauch gemacht hat, sondern es genügt dazu schon die Aufstellung des Grundsages als eines fortan gültig sein sollenden. Ungenügend ist hingegen eine bloße Verschiedenheit der Geseze verschiedener Länder, wonach zufällig bei einzelnen Ereignissen der Ausländer nicht dasselbe Recht erlangen kann, welches er in seinem eigenen Vaterlande unter gleichen factischen Voraussetzungen haben würde, ohne daß aber das von dem einheimischen abweichende ausländische Gesetz gegen die Fremden berechnet ist; z. B. wenn ein Staat bei der Intestaterbfolge andere Erbqualificationen oder Klassificationen aufstellt, als ein anderer Staat.

Niemals versteht sich sodann die Ausübung der Retorsion gegen fremde Staaten ganz von selbst als ein Recht der einzelnen Staatsgenossen, sondern es bedarf dazu eines Beschlusses der Staatsgewalt und einer Autorisation für die Behörden oder die Einzelnen 4). Jene allein hat auch zu bestimmen, in welcher Form und in welchen Grenzen die Retorsion bestehen, wem endlich der Vortheil davon zuwachsen soll. Dies ist Sache des inneren Staatsrechtes.

Kann nach der Natur des Falles nicht genau an denselben Gegenständen oder in derselben Form eine Retaliation desjenigen geschehen, was der andere Staat gegen das Ausland statuirt, so ist eine analoge Anwendung des Princips nach den diesseits gegebenen Verhältnissen durchaus unverfänglich und gerecht.

1) Wurm im Staatslexikon XII. Berner im Staatswörterb. VIII. Phillimore III, 16. Calvo II, 595. Hall § 120. v. Martens VI § 105. v. Bulmerincq 1. c. S. 59.

2) [G. Die Verlegung der comitas, welche Phillimore hereinzieht, ist freilich sehr vag, hat aber doch als Grund für Retorsionen gedient. So hat der 49. Congreß der Verein. Staaten in den Fischerei-Streitigkeiten mit England, wo leßterem feine Verlegung von Rechten nachzuweisen war, sondern man sich nur darüber beschwerte, daß die Canadischen Behörden ihre Geseze nicht im Geiste der „international comity“ anwendeten, 1887 eine Retorsions-Bill_angenommen, welche den Präsidenten ermächtigt, eventuell die Häfen der Verein. Staaten dem Canadischen Handel zu verschließen und die Durchfuhr von Wagen und Gütern von einem Punkte Canada's zum andern oder bis zur See zu verbieten, wovon der Präsident freilich keinen Gebrauch gemacht hat. Dagegen ist, wie v. Bulmerincq bemerkt, die Behauptung von Twiß, daß eine Retorsion nur gegen die Weigerung eines Rechtes gerichtet sei, zwiefach unrichtig, denn einmal handelt es sich nicht blos um eine

Weigerung oder Nichtgewährung, sondern auch um positive Handlungen, wie z. B. gegen Erhöhung der Eingangszölle, und sodann nicht sowohl um ein Unrecht, sondern gerade um Unbilligkeit, sowohl in rechtlicher wie wirthschaftlicher Beziehung.]

3) Die Retorsion ist eine Reaction gegen eine Iniquität (ius iniquum), die Repressalien reagiren gegen eine Ungerechtigkeit (iniustitia). S. besonders Jo. Gothofr. Bauer, in Opusc. t. I, p, 157 sqq.

[G. Dieser Unterscheidung gegenüber scheint der Streit, ob die lex talionis im V. R. zulässig ist oder nicht, akademischer Natur, es handelt sich nicht darum, ob ein Staat das Recht habe den andern oder seine Angehörigen zu strafen, was gewiß nicht der Fall (wie z. B. die feltsame Verordnung der Kaiserin Katharina II., welche 1791 alle Franzosen aus Rußland auswies, wenn sie nicht die Grundsäße der Französ. Revolution abschworen), sondern um Wiedervergeltung eines erlittenen Schadens und der obige Satz quod quisque u. f. w. geht sowohl auf die Retorsion gegen Unbilligkeit wie auf die Repressalien gegen Ungerechtigkeit. Was die Art der Unbilligkeit betrifft, welche die Retorsion berechtigt, so ist es nicht richtig, daß, wie Hall meint, sie Unterthanen eines Staates im Vergleich zu anderen Fremden in Nachtheil sezen müsse, z. B. kann ein Staat zur Erhöhung seiner Zollfäße greifen, wenn dieselbe auch nur durch die veranlaßt wurde, welche ein Nachbarstaat nicht blos gegen die Unterthanen des anderen, sondern allgemein verfügte. Der Begriff der Unbilligkeit ist zu relativ und hängt zu sehr von den Umständen ab, um allgemein und für alle Fälle festgestellt werden zu können.]

4) [G. Es kann also auch nicht, wie Wurm annimmt, eine Behörde selbständig gegen die eines anderen Staates oder dessen Unterthanen Retorsion üben, sondern nur die Regierung solche verfügen.]

Anwendung von Gewaltmitteln, im Besondern von Repressalien.

111. Sind gütliche Versuche vergeblich angewendet, oder gestattet die Dringlichkeit der Umstände überhaupt keinen derartigen Versuch, so beginnt das Recht der Selbsthilfe, und zwar bei Forderungsrechten auf bestimmte Sachen durch Wegnahme derselben, wo man sie findet, oder durch Aneignung eines Acquivalentes aus den Gütern des Schuldners, welche man in seiner Gewalt hat, außerdem aber durch Anwendung von Repressivmitteln gegen das Unrecht des anderen Theiles, es sei nun mit Eröffnung eines eigentlichen Kriegszustandes (Abschnitt 2) oder vorerst mit Anwendung von einzelnen Repressalien1) (von reprendere, altsächsisch withernam), d. h. von Gewaltmaßregeln gegen eine andere Partei, um sie dadurch zu Gewährung des Rechtes, im Besonderen zur Leistung schuldiger Genugthuung zu veranlassen, äußersten Falles sich eine solche selbst zu verschaffen. In älterer Zeit 2) bestanden sie hauptsächlich in der Gestattung der Fehde (des kleinen Krieges) und bei Seestaaten in der Concessionirung eines Unterthanen oder Fremden zum Seeraub mittels sog. Markebriefe, oder in ähnlichen Vergewaltigungen gegen eine gewisse Nation 3), was allmählich aus der Staatenpraxis ver

schwunden und nur noch in Gestalt der Kaperci bei förmlichem Kriegszustande benutzt worden ist (§ 124 a). Dagegen üben die Staatsgewalten selbst noch für ihre und ihrer Unterthanen Interessen sog. specielle Repressalien *)

durch Retaliation derselben rechtswidrigen Handlung oder Unterlassung, deren sich eine andere Macht schuldig gemacht hat, und zwar an Personen oder Objecten, welche derselben angehören, so weit ein solches Verfahren mit den Anforderungen der Menschlichkeit zusammen bestehen kann; durch Sperrung des Verkehres, z. B. mittels Blokade (§ 112); durch Wegnahme, Innebehaltung und Beschlagnahme von Personen, Sachen und Forderungen des anderen Theiles, welche sich im Bereiche des verlegten Theiles befinden; cine Art von Arrest oder Pfändung, wodurch jedoch weder ein Recht auf Leben und Tod der gepfändeten Personen, noch auf Appropriation der gepfändeten Sachen begründet wird. Erst wenn das Mittel bei dem Gegner seinen Zweck nicht erreicht, können jene Sachen zur Genugthuung für die verlegten Interessen verwendet werden. Die Personen aber sind als Geiseln zu behandeln 5).

Einen zureichenden Grund zu derartigen Repressalien gewährt jede völkerrechtlich anfechtbare Verzögerung oder Verweigerung des Rechtes durch Eigenmächtigkeit der zum Recht verpflichteten Partei, es sei nun im legislativen, gerichtlichen oder Verwaltungswege, unter den im § 103 a erörterten Bedingungen). Nur unabhängige Mächte können von jenen Mitteln Gebrauch machen, oder auch Einzelnen ihrer Angehörigen die Ausübung überlassen, welcher lettere Gebrauch jedoch aufgehört hat; dritte Mächte sind hingegen weder schuldig, auf etwaige Requisition sich der Ausübung zu unterziehen, noch auch berechtigt, Repressalien im Interesse einer anderen Macht anzuwenden, wofern kein legitimer Fall einer Intervention vorliegt, wie bei Staatenvereinen vorkommen kann), oder eine Verlegung allgemein erheblicher Grundsäße des Völkerrechtes durch ein absolut rechtswidriges Verfahren 3).

1) Grotius III, 2. Ubi de repressaliis. Bynkershoek, Quaest. iur. publ. I. 24. Wurm, Staatslexikon XII. Berner, Staatswörterb. VIII. Vattel II, § 342-54. Phillimore III, p. 18-43. Hall § 120. Calvo II, p. 597. Wharton, Digest. III, § 318. v. Martens II, 468. v. Bulmerincq 1. c. 72. Sanford, The law of special reprisals. 1858. Wurm, Selbsthilfe in Friedens

zeiten. D. Vierteljahrschr. 1858. Mas Latrie, du droit de marque et du droit de représailles 1868.

2) G. Die älteste Form scheint in griechischen Staaten die ardpolnyía gewesen zu sein, wonach, wenn ein Bürger eines Staates im Gebiet eines anderen ermordet war und dieser die Auslieferung oder Bestrafung weigerte, den Verwandten das Recht zustand, sich bis zu drei Angehörigen des anderen Staates zu bemächtigen und dieselben als Geiseln zu behalten, bis Genugthuung gegeben war. (Lübker, Reallexikon S. 82.) Im Mittelalter waren die Represjalien allgemein, aber schon früh wurden sie in doppelter Weise beschränkt: 1. daß nur der Staat dazu ermächtigen durfte, nachdem der Betreffende das erlittene Unrecht bewiesen, so in den Statuten lombardischer Städte vom 13. Jahrh., den Verträgen England's und der Hansa von 1326 und 1474, England's und Frankreich's von 1526, den Guidon de la mer cap. X, art. 1 und danach die Französische Ordonn. de la marine von 1681; 2. daß eine Vorverhandlung vorausgegangen, welche die Rechtsverweigerung constatirte, z. B. unter den gegenseitigen Garanten, den conservatores pacis, später in zahlreichen Statuten und Verträgen bis auf unsere Zeit. So heißt es schon im Guidon de la mer: Représailles se concèdent quand hors le fait de la guerre les sujets de diverses obeyssances ont pillé, ravagé les uns sur les autres et que par voye de justice ordinaire, droit n'est rendu aux intéressés ou que par temporisation ou délais, justice leur est desniée (Ch. X. art. 1 bei Ortolan, Dipl. de la mer I, p. 389). Art. 31 des Vertrages zwischen England und den Generalstaaten v. 31. Juli 1667 bestimmt, daß wenn Unterthanen des einen Theiles von dem anderen ein Unrecht erlitten haben, „sive in articulum aliquem huius foederis, sive contra jus commune peccatum fuerat", Repressalien nicht ergriffen werden sollen, „priusquam justitia secundum legum ordinationem implorata fuerit; et si justitia ibidem denegabitur aut praeterquam fas est, protraheretur", soll die Regierung des Geschädigten von der des anderen Theiles fordern,,ut jus et justitia administretur". Et siquando causa nihilominus per trium mensium spatium a tempore intentatae actionis, sine decisione aut_satisfactione in suspenso relinquetur, tum pignorationum literae concedentur (Schmauss, Corp. jur. gent. I, p. 908). Die Bestimmung der Französischen Marine-Ordonnanz von 1681 entspricht fast wörtlich der des Guidon. Grotius sagt (III, c. 2 V. 1) Exteri habent ius cogendi sed quo uti non liceat, quamdiu per iudicium suum possint obtinere", ebenjo Bynkershoek, Quaest. iur. publ. I c. 24: Is ordo est, ne repressaliae concedantur, nisi palam denegata iustitia." Valin (Ordonn. de la Marine III 1. 10) ,,en cas de refus sans cause légitime, ou des délais trop affectés." Sir L. Jenkins (Life II, p. 759): ,but it requires a legal process. First in the Law Courts, then an appeal to the Prince or Supreme power, before such a denial of justice can be stood upon, as is to be repaired by reprisals."]

[ocr errors]

3) Martens, Essai conc. les armateurs I § 4. [G. Ducange verbo: Marca: ,,facultas a principe subdito data, qui injuria affectum sive spoliatum ab alterius principis subdito quaeritur, de qua jus vel rectum ei denegatur."]

4) [Repressalien sind demnach stets einzelne Acte, das V. R. kennt keinen ,,état de représailles", als welchen der Minister Challemel-Lacour den Zustand bezeichnete, in dem Frankreich sich zu China befinde.] Sogenannte allgemeine Repressalien, als Verhängung oder Erlaubniß aller und jeder Gewaltmaßregeln wider Personen und Sachen eines fremden Staates, wären, wie schon der Großpensionar Witt bemerkt hat, nichts Anderes als die Eröffnung eines Kriegszustandes. Die Britische Staatspraris gebraucht übrigens die Bezeichnung General Reprisals vornehmlich für die Autorisation der gesammten K. Schiffsmacht zur Wegnahme feindlicher Güter und Schiffe. Vgl. Phillimore III, 20. Das ist Kriegsanfang. [G. so in der Kriegserklärung gegen Rußland v. 29. März 1854 „it is hereby ordered, that general reprisals be granted against the ships, vessels and goods of the Emperor of all the Russias" u. s. w.]

« PreviousContinue »