Page images
PDF
EPUB

Die allgemeinen Staatenrechte im Einzelnen.

I. Recht eines ungestörten eigenen Daseins.

a. Territorialrecht.

29. Das Erste Recht eines vollendeten Staates ist, wie bei dem einzelnen Menschen, als Staat physisch für sich zu bestehen. Dazu gehört wesentlich ein eigener fester Sit der Staatsgemeinde innerhalb eines gewissen Landgebietes (territorium), wie es ein Heim für den einzelnen Menschen ist. In dem Besize eines solchen Gebietes liegt von selbst

die Benuzung aller Naturschäße innerhalb desselben, sodann die Ausschließlichkeit dieses Gebietsbesizes anderen gegen= über, worin das sog. ius territoriale beruht; endlich das Recht, sich in dieser ausschließlichen Existenz zu behaupten, was man auch das Recht auf Integrität oder Unverlegbarkeit der Staaten (droit d'intégrité) genannt hat 1).

Demgemäß kann

I. fein Hoheitsrecht in die Grenzen eines anderen Staates hinein geübt werden; keine Staatsanstalt ihre Wirksamkeit in das fremde Gebiet hinein ausdehnen 2). Es bildet damit jedes Staatsgebiet ein Asyl gegen weitere Verfolgung 3).

II. Keine Staatsgewalt darf mittelbar oder unmittelbar Ursache geben, daß der Bestand eines anderen Staates in seinen natürlichen Elementen vermindert werde. Sie darf also namentlich nicht zu Auswanderungen seiner Unterthanen direct oder indirect anreizen oder sonst eine Entvölkerung desselben zu bewirken suchen; eben so wenig darf sie die Losreißung einzelner Theile von dem fremden Staat verursachen, oder dessen Enclaven in ihrem Gebiet sich eigenmächtig zueignen ). Dagegen ist kein Staat verhindert, Auswanderer bei sich aufzunehmen, oder im Allgemeinen den Auswandernden gewisse Vortheile anzubieten, welche sie für ihn bestimmen können 5), endlich auch selbständig gewordene Theile des fremden Territoriums, nachdem ihre Trennung völkerrechtlich entschieden ist (§ 23), in sich aufzunehmen ®).

III. Keine Staatsgewalt kann einem fremden Territorium entziehen oder vorenthalten, was demselben von Natur als Theil

angehört oder zufließt. Die natürlichen Verhältnisse müssen unter den Nachbarstaaten so erhalten werden, wie sie sich mit ihrer Gründung ergeben haben, und was die Natur allen oder vielen zugleich bestimmt hat, darf nicht von einzelnen als Eigenthum an sich behalten werden. So darf kein Fluß, kein Bach dem Nachbarlande abgeschnitten, wohl aber im eigenen Gebiet von jedem Staate zu seinem Nußen gebraucht werden, wenn ihm nur der natürliche Ausfluß an seiner früheren Stelle gelassen wird 7).

IV. Selbst auf eigenem Gebiet darf kein Staat Anstalten treffen oder zulassen, welche einen schädlichen Rückschlag auf ein fremdes Territorium ausüben, dergestalt, daß dadurch die natürlichen Verhältnisse zum Nachtheile des anderen Staates verändert werden würden ).

Sonstige Beschränkungen der inneren Staatsgewalt und Regierungsrechte fließen aus dem nachfolgenden allgemeinen Rechten anderer Staaten; aus den allgemeinen, unter dem internationalen Schuße stehenden Menschenrechten; aus der Natur der Privatrechte; aus den Verhältnissen der Unterthanen zu auswärtigen spirituellen Mächten in Betreff ihres Religionscultus; aus dem Verhältnisse der Exterritorialität; aus der Bestellung der Staatsservituten.

1) Vattel II, § 78. 93.

2) Z. B. keine Postanstalt kann sich in das Ausland ohne die Zustimmung der dortigen Regierung erstrecken; keine Lotteriecollecte, keine Werbeanstalt. Kein Notar darf in fremdem Gebiete instrumentiren, keine gerichtliche oder polizeiliche Verfolgung über die Grenze gehen, kein Beamter in fremdem Gebiete mit öffentlichem Charakter angestellt werden ohne Placet oder Exequatur der auswärtigen Regierung.

3) Das sachlich Richtige spricht schon L. 239 § 8 D. de V. S. aus: „Territorium est universitas agrorum intra fines cuiusvis civitatis, quod ab eo dictum quidam aiunt, quod magistratus eius loci intra eos fines terrendi i. e. summovendi ius habet."

4) Die Politik hat freilich diesen unbestreitbaren Saß des Völkerrechtes nicht immer beobachtet. Sie hat zuweilen zu Empörung offen aufgefordert, oder doch wenigstens Anreizungen und Propaganden in ihrem Interesse befördert, ja es ist hin und wieder als stehende Politik erweislich gewesen. Doch hat sie sich selten als Recht geltend zu machen gewagt, meist hat sie insgeheim gespielt. [G. Ein neueres Beispiel giebt das Verhalten Sardinien's zu den Revolutionen in den anderen Italienischen Staaten 1859 und später, das völkerrechtlich nicht zu rechtfertigen war, so wünschenswerth die Einheit Italiens an sich sein mochte.]

5) Vgl. Moser, Vers. VI, 118.

) [G. Z. B. Texas in die Verein. Staaten.]

7) Vattel I, 22, 271. 273.

*) Die privatrechtliche Regel: In suo quisque facere non prohibetur dum alteri non nocet ist auch im Völkerrecht Wahrheit, muß aber im obigen Sinn

verstanden werden, wie sie im Civilrecht Anwendung findet. Auf keinen Fall kommt ein bloßes lucrum cessans in Betracht. Denn multum interest utrum damnum quis faciat, an lucro quod adhuc faciebat, uti prohibeatur. L. 1 § 11 D. de aqua. L. 26 D. de damno inf. S. auch Cocceii, de iure nocendi aliis in Vol. dissert. II, p. 1199.

b. Recht der Selbsterhaltung.

30. Mit der Existenz ist auch das Recht, sie zu behaupten, gegeben, daher auch Vertheidigung und Kampf gegen jede, die staatliche Existenz bedrohende Gefahr 1), so wie die Ergreifung vorläufiger Sicherungsmittel gegen die Möglichkeit einer solchen.

Die Gefahr kann entweder in Naturgewalt und Verwickelung der Weltverhältnisse liegen, oder in menschlicher Vergewaltigung. Erstere geben an sich kein Recht, andere Staaten oder deren Angehörige in ihrer Existenz, ihren Besigthümern und Rechten zu be= einträchtigen; nur die äußerste Noth entschuldigt die Rettung der eigenen Existenz auf Kosten eines fremden oder seiner eigenen Rechte mit Hintanschung der Rechte Anderer, ja auch dieses nur, wenn man nicht etwa selbst die Gefahr herbeigeführt hat und gegen eine wenigstens fünftig zu leistende Entschädigung 2).

Gegen drohende oder bereits angefangene Vergewaltigung Anderer tritt das Recht der Nothwehr bis zur völligen Abwendung der Gefahr in Kraft, und jeder Dritte ist sogar berechtigt, dazu Beistand zu leisten, wenn der Bedrohte ihn nicht von sich weiset. Wesentliche Voraussetzung ist jedoch Wirklichkeit der Gefahr und Absichtlichkeit auf Seite dessen, woher sie kommt. Bis dahin können rechtmäßiger Weise nur Sicherungsmittel, z. B. durch Coalition mit Anderen, Befestigungen, Kriegsrüstung u. s. f., ergriffen werden; mit dem ersten Moment der Gefahr ist aber auch der Bedrohte befugt, zuvorkommend thätlich einzuschreiten und durch eigenen Angriff den zu befürchtenden zu beseitigen 3).

Begreiflicher Weise läßt sich in den Staatenverhältnissen nicht der engere Maßstab anlegen, wonach der Gebrauch der vorstehenden Grundsäge in Privatverhältnissen beurtheilt werden muß. Bei dem Geheimniß, worin sich die Politik einhüllt, ist es oft schwer, die Absichtlichkeit einer Richtung, das wahre Ziel einer Bewegung zu erkennen. Zuweilen wird selbst längere Beobachtung des ganzen Systems eines Hofes doch nur Vermuthungen an die Hand geben

und ein Irrthum sehr zu entschuldigen sein. Gewiß ist aber auch Vorsicht gegen Ucbereilungen und gegenseitige Offenheit geboten 4).

Daß der bedeutende, obwohl völlig legitime Anwachs einer einzelnen Macht, weil sie in der Folge einmal gefährlich werden könnte, noch keinen Zustand der Nothwehr oder eines rechtmäßigen Krieges hervorrufe, beruht auf dem Mangel an den erforderlichen Bedingungen der Nothwehr, hauptsächlich eines wirklich zu befürchtenden unrechtmäßigen Angriffes. Auch kann das Kolossale einer Macht noch nicht als ein schon vorhandener Nothstand für die übrigen angesehen werden. Unbedenklich liegt es aber in deren Befugnissen, jeder ferneren Vergrößerung einer Macht, wozu sie noch keinen unbestrittenen Titel hat, z. B. Vermählungen, Cessionen u. dergl., zu verhindern zu suchen, ohne daß darin an und für sich eine Beleidigung gefunden werden kann 3).

Auf ähnliche Weise verhält es sich mit der Frage, ob bevorstehende oder schon eintretende Aenderungen des momentanen Gleichgewichtes der Staaten den dadurch möglicher Weise in Gefahr gerathenden ein Recht zum thatsächlichen Widerstande geben. Beruht die Veränderung auf bereits vorhandenen rechtmäßigen Titeln, so wird jeder Widerstand in der Regel unrechtmäßig sein; außerdem aber kann die Präventivpolitik ihre ganze Thätigkeit zur Hinderung des Bevorstehenden entwickeln ").

Die Linie zwischen Recht und Noth liegt freilich außer dem Kreise richterlicher Beurtheilung. Aber deutlich erkennbare Bestrebungen einer Macht zur Begründung einer Universalmonarchie versehen unbedenklich alle übrigen in den Fall eines Nothstandes.

1) Adversus periculum naturalis ratio permittit se defendere. L. 4 D. ad L. Aquil. G. Mit Recht nennt Cicero (pro Milone c. 4) die Selbsterhaltung eine „lex non scripta sed nata", denn für den Staat als ein rein irdisches Wesen ist es noch weit mehr als für den Einzelnen erstes Gebot, sich gegen innere wie äußere Feinde zu behaupten, also auch vorbeugend durch Befestigung, Uebung des Volkes in Waffen, defensive Bündnisse u. s. w., seine Unabhängigkeit zu sichern; denn nur in solcher Sicherheit gedeiht die friedliche Entwickelung. Die Grenze dieses Rechtes ist das gleiche Recht anderer Staaten, jene Sicherungsmaßregeln dürfen die Sicherheit Dritter nicht gefährden, welche sich keiner Verlegung der Sicherheit des betr. Staates schuldig gemacht haben. Wenn z. B. ein Staat, den Niemand bedroht, plößlich in auffallender Weise rüstet oder Truppen an der Grenze zusammenzieht, so sind die betreffenden Nachbarn berechtigt, Aufklärung deshalb zu fordern, bezw., daß er diese Maßregeln einstelle. Man mag von der früheren Herrschaft Desterreich's in Italien denken wie man will, völkerrechtlich war das Wiener Cabinet berechtigt, 1859 sich über die plößliche Bildung Sardinischer Freicorps zu beklagen und ihre Auflösung zu verlangen.]

2) Es gilt hier für den Staat dasselbe Nothrecht wie für den einzelnen Menschen. Jener wird freilich seltener in den Fall kommen, sich darauf zu berufen. Man seße indeß einen kleinen Staat in Hungersnoth gebracht, und man wird es ihm nicht als Friedensbruch anrechnen dürfen, wenn er sich nach Erschöpfung aller Mittel sogar mit Gewalt das Nöthige von den Nachbarn zu verschaffen sucht (Vattel II, 120), freilich mit der Verbindlichkeit eines künftigen Ersages. Bynkershoek, Quaest. i. publ. II, 15. H. Groot II, 2, 9. G. Ein solches ius eminens, das innerhalb des Staates für die Staatsgewalt gewiß besteht, kann gegen andre Staaten doch schwerlich behauptet werden. Hein Staat, dessen Unterthanen Hunger leiden, ist dadurch berechtigt, andern Lebensmittel wegzunehmen.]

3) Denn melius est occurrere in tempore quam post exitum vindicare. L. 1 C. Quando liceat unicuique. [G. So Friedrich II. mit seinem Einrücken in Sachsen, nachdem er die Beweise der gegen ihn gebildeten Coalition hatte. Gegen drohende Angriffe soll man sich grundsäßlich allerdings an die Regierung halten, von der derselbe droht oder die denselben Seitens ihrer Unterthanen nicht hindert, allein oft ist zu sehr Gefahr im Verzuge, um dadurch Erfolg zu erreichen, wenn z. B. Unterthanen den Schuß ihrer Regierung mißbrauchen, um andere Staaten anzugreifen, wie die Fenier Canada, die amerikanischen Flibustiere Cuba. Man darf sogar behaupten, daß das Selbstvertheidigungsrecht einer Regierung erlaubt, die Souveränetät eines andern Staates zu verleßen, wenn dieser zu schwach ist, um zu hindern, daß sein Gebiet dem Angreifer zur Basis diene. So 3. B. wäre die Lage England's gegenüber Afghanistan in Bezug auf einen Angriff Rußland's.] 4) Ueber das hier eintretende Fragerecht s. unten bei der Materie der Intervention § 44 f.

5) G. Vertrag von Utrecht gegen die Vereinigung der Kronen Frankreich's und Spanien's 1713.]

6) Hier ist vorzüglich die Coalitionspolitik an ihrem Orte. Darauf beruhten unter Anderem die großen Coalitionen in Betreff der Spanischen Monarchie vor Absterben König Carl's II., der Deutsche Fürstenbund von 1785, die Coalitionen gegen Napoleon I. u. f. f. [G. Das Recht der freien Machtentwickelung_darf feinen aggressiven Charakter annehmen; deshalb ist es auch ganz gerechtfertigt, wenn nach Zurückweisung ungerechter Angriffe die betr. Mächte Vorbeugungsmaßregeln treffen, welche den Angreifer hindern sollen, sein Beginnen zu wiederholen. So legte nach den Eroberungskriegen Ludwig's XIV. der Vertrag von Utrecht (1713), bestätigt durch die von Aachen (1748) und von Paris (1763), Frankreich die Schleifung von Dünkirchen auf, der Pariser Vertrag von 1815 die von Hüningen. Der Pariser Vertrag von 1856 untersagte Rußland die Befestigung der Alandsinseln und die Herstellung der Arsenale am Schwarzen Meere, so wie auf demselben eine Kriegsmarine zn halten, was es selbst auf dem Caspischen Meere durch Art. 5 des Vertrages von Gulistan von 1813 dem schwachen Persien untersagt hatte. Der Londoner Vertrag von 1867 verfügte die Schleifung der Festung Luremburg. Richtig ist, daß derartige Beschränkungen der Souveränetät für große Staaten eine Demüthigung sind, welche sie abzuschütteln streben werden, wie Rußland dies 1871 hinsichtlich des Schwarzen Meeres gelungen ist. Deutschland hat seine Forderung der Abtretung von Elsaß - Lothringen 1871 ebenfalls damit begründet, daß seine militärische Sicherheit gegen die fortwährenden Angriffe Frankreich's den Besiß dieser Provinz verlange.]

c. Das Recht eines freien staatlichen Waltens.

Droit de souveraineté.

31. Ein weiteres Recht jedes Staates ist eben das, seine Aufgabe als besonderer Staat mit Selbstbestimmung zu erfüllen. Jeder

« PreviousContinue »