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Gutachten

über das

Actiengesellschaftswesen

erstattet von

H. Wiener, Justizrath in Berlin.

Die Beantwortung der vorgelegten Fragen hängt in erster Reihe von dem Standpunkte ab, welchen der Gutachter in Betreff der Aufgabe einnimmt, die er der Gesetzgebung hinsichtlich der Actiengesellschaften vindicirt. Ein gewisses Gefühl der Ohnmacht gegenüber all den Verfuren und Simulationen, welche sich bei der Gründung von Actiengesellschaften eingeschlichen haben, hat den Glauben erzeugt, daß es überhaupt unmöglich ist, gesetzgeberisch derartigen Handlungen vorzubeugen, daß alle Gefeße auf diesem Gebiete nur den Charakter der Gelegenheits-Gesetzgebung haben und gegen die augenblicklichen Symptome des der Sache nach unheilbaren Uebels ankämpfen, das Nebel selbst aber nicht verscheuchen, vielmehr dasselbe nur zum Ausbruch an einer andern durch die Gesetzgebung nicht geschützten Stelle bringen würden. Von diesem Gesichtspunkte aus würde allerdings der Gesetzgebung nur die würdelose Aufgabe zufallen, dem Scharfsinne der Contravenienten nachzuhinken, um, während sie mit der Reparirung einer durch Einbruch beschädigten Stelle beschäftigt ist, schon wieder den Einbruch an einer andern Stelle sich vorbereiten zu sehen, und andererseits würde der Gesetzgeber durch neue Aenderungen in dem Publikum das Gefühl einer vergrösserten Sicherheit wach rufen, welche er von diesem Gesichtspunkte aus zu garantiren nicht in der Lage ist.

Es wird daher von verschiedenen sehr beachtenswerthen Seiten der Standpunkt inne gehalten, daß jeder Eingriff der Gesetzgebung wirkungslos, ja gefährlich ist; daß es Sache des Publikums ist, wie bei jedem Contract so auch bei dem Eintritt in eine Actiengesellschaft resp. beim Erwerbe von Actien sich selbst zu informiren; und daß sich insbesondere

Actiengesellschaftswesen.

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der Gesetzgeber zu hüten hätte, dem Publikum die Sache so erscheinen zu lassen, als wenn er selbst bis zu einem gewissen Grade die Information für dasselbe übernommen hätte.

Man motivirt diesen Standpunkt principiell auch als den Standpunkt der sonst überall innegehaltenen völligen Vertragsfreiheit.

Dieser Standpunkt ist besonders energisch bereits bei der Berathung des französischen Gesezes vom 24. April 1867 im gesetzgebenden Körper durch Emile Ollivier vertreten worden, welcher gegenüber dem Regierungsvorschlage einen aus 9 Artikeln bestehenden Gesetzentwurf, der diese unbedingte Vertragsfreiheit statuirt, eingebracht hatte 1). Erscheinungen wie sie jezt bei uns an der Tagesordnung sind, waren in den Jahren 1835-38 und fernerhin in Frankreich in Folge der lediglich Grundsätze des Gemeinen Rechtes reproducirenden Bestimmungen des Code de commerce in noch weit eklatanterem Maße zu Tage getreten 2), und hatten daselbst zu dem sehr restrictiven Gesetze vom 17. Juli 1856 geführt, welches indessen nicht besonders interessirt, da es für die eigentlichen Actiengesell= schaften das Princip der Staatsaufsicht aufstellte. Die Gesetzgebung von 18673), welcher zum großen Theil die Grundfäße unseres Gesetzes vom 11. Juni 1870 entlehnt sind, stellte sich die Aufgabe, behufs Ermunte= rung der durch die frühere Gefeßgebung eingeschüchterten Capitalien das Princip der Vertragsfreiheit mit dem Interesse des Publikums zu ver= einigen 4), und die eingehenden Erörterungen bei der Berathung des ge= dachten Gesetzes, welches für Frankreich die Staatsaufsicht über die Actiengesellschaften aufhob, sind für die vorliegenden Fragen besonders lehrreich.

Der gefeßgebende Körper verwarf die Ansichten Oliviers, indem er die Analogien zwischen einer Actiengesellschaft und einer sonstigen Con= vention wegen des Mangels jeder individuellen Beziehung und Verhandlung der Contrahenten unter einander bei der ersteren für unzutreffend erachtete.

über:

Der Bericht der Commission des gesetzgebenden Körpers sagt dar

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ce qui est vrai, c'est que la rapidité et le nombre des affaires, la bonne foi, qui en est l'âme, la multiplicité des points, sur lesquels la société opère, en dehors de son centre ne permettent pas d'étudier, à l'occasion de chaque opération, les stipulations sociales, comme cela se fait, quand on traite avec une femme dotale une affaire

1) cfr. Bericht der Commission des gesetzgebenden Körpers cfr. commentaire de la loi sur les sociétés des 24.-29. Juli 1867 par Mathieu et Bourgignat. Paris 1868. S. 311 f.

2) cfr. eodem Vorrede S. 28. Ferner S. 315.

3) Schon das Gesetz vom 23. Mai 1863 sur les sociétés à responsabilité limitée befreite diese sociétés von der Staatsaufsicht; dieselben unterschieden sich von den eigentlichen anonymen Gesellschaften durch nichts anderes, als daß das Grundkapital, auf welches sie gegründet werden durften, auf 20 Millionen Francs beschränkt war.

4) Mathieu et Bourgignat S. 309.

isolée.

. . .

Il faut donc que la loi, prévoyante pour ces interêts que la force des choses pousse et condamne à une imprévoyance inévitable, stipule, à l'occasion de chaque espèce de société le minimum de garantie, dont l'expérience enseigne la nécessité❝5).

Meines Erachtens sind zwei von einander principiell verschiedene Gesichtspunkte auseinander zu halten.

Es frägt sich einmal, ob eine Einschränkung des Vertragswillens im Wesen des Actiengesellschaftsvertrages eine Rechtfertigung findet, resp. ob dieselbe ein wirksames Schußmittel für die schutzberechtigten Interessen ge= währen kann.

Verneint man diese Frage, so bleibt noch die fernere Frage zu entscheiden, ob nicht gerade behufs Erreichung einer wirklichen Freiheit des Vertragswillens der Gesetzgeber gewisse Cautelen aufzustellen berufen ist.

Ich bin der Meinung, daß der Gesetzgeber die materielle Vertragsfreiheit auch auf dem Gebiete der Actiengesetzgebung anerkennen muß, sowohl aus principiellen Gründen wie aus Gründen der Nüßlichkeit. Principiell liegt nach dieser Richtung im Wesen der Actienvereinigung nichts, was sie von anderen Vereinigungen unterscheidet ®).

Weder die besondere Complicirtheit der Stipulationen, noch das Zurücktreten des individuellen, rein persönlichen Elements bei der Vertragsschließung geben principiell einen Grund dafür ab, daß der Willen der Contrahenten beschränkt werde. Daß Jemand Theile seines Vermögens von Dritten verwalten läßt und die Früchte der Thätigkeit des Verwalters genießen will, gewährt keinen Grund dafür, daß der Betreffende als persona miserabilis behandelt wird, bloß weil erfahrungsmäßig die Verwalter häufig betrügen. Ein materieller Eingriff in die Freiheit der Normen der Einigung zwischen Gründern und Publikum und des Zusammenlebens der einzelnen Actienbetheiligten mit einander, erscheint aber auch nur dann rathsam, wenn man sicher ist, dadurch das Uebel selbst zu treffen. Ein Prohibitiv-System, geschöpft aus den Erfahrungen einer kurzen Anzahl Jahre und gerichtet lediglich gegen diejenigen Erscheinungen, durch welche sich in dieser Zeit die betrügliche Gewinnsucht Einzelner manifestirt hat, bietet diese Garantie nicht. Es würde nur dem Publikum den ge= fährlichen Schein einer Rechtssicherheit geben und die Gesetzgebung in der That mit dem Charakter einer bloßen Gelegenheitsgesetzgebung behaften.

Wenn erfahrungsmäßig auf Kosten der Gesellschaft Gewinne durch

5) Mathieu et Bourgignat S. 312.

6) Unter der Vertragsfreiheit wird hier die Willensfreiheit der Contrahenten im Verhältniß gegen einander verstanden.

Daß der Staat mit Rücksicht auf die Privilegien der juristischen Persönlichkeit und der Gestattung der Inhaberpapiere, durch welche er der Actienvereinigung erst das Dasein giebt, ein principielles Recht darauf hat, seinem Geschöpf die Lebensbedingungen vorzuschreiben, soll nicht geleugnet werden. Dies hat aber auf die Stellung der Contrahenten unter einander keinen Einfluß, da diese Beneficien den Contrahenten gleichmäßig zu Gute kommen.

Inferirung von Objecten über, das Doppelte ihres Werthes gemacht worden find, so würde eine Vorschrift, wonach Objecte nicht über einen bestimmten Werthsbetrag hinaus, resp. nicht über einen bestimmten Aufschlag über ihre Werthe resp. ihre Kaufpreise in einer bestimmten Anzahl voraufgegangener Jahre hinaus inferirt werden dürfen, nur zu andern Bersuren und Simulationen, insbesondere zu künstlichen Werthschraubungen und fictiven Zwischenverkäufen führen. Wenn erfahrungsmäßig gewisse Be= stimmungen eines Statuts die Möglichkeit unerlaubter und schädigender Handlungen und die Benutzung dieser Möglichkeiten herbeigeführt haben, so wird die Aufstellung eines Normativ-Statuts, welches diese bestimmten Möglichkeiten beseitigt, damit noch in keiner Weise der Benutzung anderer Bestimmungen des Statuts zu dem gedachten Zwecke vorbeugen. Wenn der Gesetzgeber die Abschätzung einzubringender Objecte durch Sachver= ständige und die entscheidende Maßgeblichkeit des von ihnen festgesetzten Werthes für den Illationspreis vorschreibt, so wird er damit nur den Kreis derjenigen Personen, welche in die Corruption hineingezogen werden, vergrößern, zumal es an allen objectiven Anhalten für die Schäßung der= artiger Vermögenswerthe, wie z. B. eines Bergwerkes fehlt 7). Dazu kommt, daß alle derartigen Normativbestimmungen auch ein Hinderniß für die loyale Vereinigung von Capitalien bilden können und die Entstehung und Vermehrung dieser loyalen Capitalsvereinigungen das beste Correctiv gegen den Versuch der Schädigung des Publikums durch unsaubere Unter= nehmungen bildet 8).

Um aber das Princip voller Vertragsfreiheit gelten zu lassen, hat der Gesetzgeber die Aufgabe, diejenigen Garantien zu schaffen, vermöge deren der eine Contrahent, das Publikum, auch wirklich frei wird, und dazu gehört, daß er die wirk= lichen Bedingungen der contractlichen Einigung genau kennt. Es hat auch Niemand das Princip aufgestellt, daß, weil ein Jeder sich

7) Diese Experten kennt die Französische Praxis. Der Art. 4 des Gesetzes von 1867, der gemäß art. 24 für reine Actiengesellschaften ebenfalls gilt, erfordert für die Gültigkeit der Einbringung von Vermögensstücken die Genehmigung einer Generalversammlung, welcher die Prüfung einer Borgeneralversammlung und die Veröffentlichung eines Berichtes über den Werth Seitens hierzu von der Vorgeneralversammlung Delegirter vorausgehen muß. cfr. Mathieu et Bourgignat S. 44.

Der Artikel 136 No. 1 des Italienischen Handelsgesetzbuches vom 25. Juni 1865 spricht von einem oder mehreren Sachverständigen, welche, falls der Werth der Einlage nicht bestimmt ist, von der Generalversammlung bestellt werden', um ihn nach Billigkeit festzustellen. Da, wie weiter unten ausgeführt wird, die Gründer selbst die sogenannte constituirende Generalversammlung bilden, so ist Alles dies nur eine bloße Comödie.

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8) Daß eine große Zurückhaltung geboten ist, beweisen die in kurzen Zwischenräumen sich wiederholenden Experimente anderer Gesetzgebungen.

Frankreich hat im Laufe von 11 Jahren dreimal Gesetze über diefe Materie erlaffen, durch die Geseze vom 17. Juli 1856, vom 25. Mai 1863 und 24. Juli 1867; England ebenfalls dreimal, durch Gesetz vom 14. Juli 1856, 7. August 1862 und 20. August 1867.

um seine eigenen Angelegenheiten selbst zu kümmern habe, deshalb der Gesetzgeber den Betrug nicht zu strafen brauche.

Hier ist das Complicirte und Unpersönliche des Vertragsverhältnisses von berechtigtem Einfluß.

Je complicirter und je vielgestaltiger die Momente sind, welche für die Willenseinigung der Contrahenten von Bilang sind, je unpersönlicher das Verhältniß ist, durch welches sich die Willenseinigung vollzieht, und je schwerer die juristisch-systematische Grenzberichtigung zwischen den statthaften und unstatthasten Erwerbstiteln ist, desto mehr muß der Gesetzgeber dar= auf bedacht sein, Mittel für die Erzwingung der vollen Wahrheit auf Seiten des sich an das Publikum wendenden Contractsofferenten zu schaffen und Corrective gegen deren Verletzung zu geben.

Von diesem Gesichtspunkte aus erachte ich die Gesetzgebung des Jahres 1870 für unvollkommen und verbesserungsbedürftig, sie giebt Ver= tragsfreiheit, ohne zur Darlegung des vollen Vertragswillens zu zwingen, und sie läßt den Getäuschten schutzlos gegen Verletzungen der Vertragstreue, ja sie trifft Anordnungen, welche die Geltendmachung dieser VerLeßungen geradezu verhindern.

Zu einer gefunden Regelung der Actiengesetzgebung erachte ich drei Requisite für erforderlich:

1) bei vollkommener Freiheit der Stipulationen des Gründungsvertrages, Erzwingung vollständiger Offenlegung in Betreff aller Elemente desselben und Verantwortung der Gründer, als eines besonderen, nicht in den Actionairen unter = gehenden Factors, der Actiengesellschaft gegenüber bei erwiefenem Mangel der Offenheit resp. bei falschen Angaben,

2) die Controle der Verwaltung der Gesellschaft seitens der Actionaire durch ein in die Verwaltung nicht implicirtes, fich durch jährliche Neuwahl ergebendes, verantwortliches, mit umfassenden Rechten ausgestattetes, aber auch strict normirter Verantwortlichkeit unterliegendes Drgan, welchem, sofern es im Wege der Wahlen nicht gefunden werden kann, von der Gerichtsbehörde zu bestellende Experten zu substituiren sind;

3) die Garantie bestimmter Individualrechte des einzelnen Actionairs, welche ihm unabhängig von den Beschlüssen der Generalversammlung zustehen, sowie das Recht einer zu fixirenden Minorität der Actionaire, bei bescheinigtem Verdacht von Unzukömmlichkeiten bei der Gründung wie bei der Verwaltung, die Feststellung des Sachverhaltes durch eine ge= richtliche Untersuchung herbeizuführen.

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Zu 1. Verfolgt man den Entwickelungsgang, welchen die Gesetzgebungen in Betreff der Gründung von Actiengesellschaften genommen haben, so sind es zwei principiell verschiedene Wege, auf welchen die gedachte Construction zur Perfection gelangt.

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