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Laut der

Vorhersagungen, wurden sie erfüllt? Weltgeschichte, trügt Nichts so häufig als politische Berechnungen; ein Erfahrungsfag, so allbekannt wie die Ursachen, und doch erneuern sich jene fort und fort, in Folge des unwiderstehlichen Naturtriebs der Neus begier.

Fragen durfte man allerdings: ob nicht für Europa ein eben so gerechtes als umfassendes politisches System zu gründen sey, ruhend auf einfachen und festen Grundpfeilern, und gesichert durch Gewährleistung Aller? Jnsbesondere, ob der Besiß: stand (Status quo) der chriftlichen Staaten von Europa, in Absicht auf ihre TerritorialVerhältnisse und Staatsverfassung in einem bestimmten Zeitpunct zu einem allgemein anerkannten uud immerwährend anzuerkennenden Rechtszustand, als Grundlagə des europäischen rechtlichen Gleichgewichtes (des Suum cuique), zu erheben sey? Ob nicht dieser Zustand mittelst allgemeiner Vertheidigungs: Allianz wider jeden Eingriff, von allen christlichen Mächten von Europa follte gewährleistet werden? Ob eine Art und Weise festzuschen sey, wie in Zukunft Streitigkeite u unter europäischen christlichen Mäch. ten, oder über gewisse Verhältnisse ihrer Staatsverfassung, nach fruchtlos versuchter Sühne, fchieds. richterlich zu entscheiden seyen? Ob und wie weit ein Beschluß statt haben sollte, über allgemeine verhältnißmäßige Entwaffnung jener Mächte? Ob und wie weit das Völker Seerecht, durch Uebereinkunft auf bestimmte Regeln zu seßen sey? in: sonderheit der Verkehr der Neutralen, sor wohl unter sich, als auch mit den kriegführenden Mächten und ihren Unterthanen? und eben so die

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Rechte und Pflichten der Kaper? - Welche allge: meine Maasregeln gegen die Seeräuberei der Barbaresken zu beschliessen seyen? - Wird allenthalben eine zeit- und landgemäße Staats verfassung, (keine Cabinet,, sondern eine Nationals Constitution) die Rechte des Regierenden und der unter geordneten Subjecte gerecht und hinlänglich bestimmen, und beide gegen Willkühr sichern? Werden manche Staaten fürohin modo magis civili quam herili regiret werden? Wird man hie und da von dem Vielregieren, zu dem alten, bewährt gefundenen Wenigregieren zurückkehren? Wird ein kräftiges Bundesgericht den Schlußstein des teut. schen Bundesgewölbes machen? Werden die teut. schen Staaten, sammt und sonders, eine Volksver. tretung durch Landstände erhalten, und mit welchen Rechten? - Werden die von Napoleon und Andern fchuldlos Unterdrückten, in ihre Rechte wieder eingefeßt, oder für erlittenen Verlust entschädigt wer den? Fragen knnnte und durfte man so, und noch mehr und ruhig die Antwort erwarten von der Geschichte.

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Der erste October war der Tag, an welchem der Congreß sollte eröffnet werden. Früher schon hatten sich die meisten Bevollmächtigten in Wien eingefunden. Kaiser und Könige waren anwesend, Fürsten in Menge, auch Fürstinnen, noch weit mehr Grafen und andere sogenannte Standespersonen, Präz tendenten, Hülfberechtigte und Hülfbedürftige, Bedräng te, Rathgeber, Beobachter, Neugierige, Zuschauer, Späher. Vor Allen fielen ins Auge: die Kaiser von Oestreich und Rußland, der König von Preus sen. Man sah die Könige von Dänemark, Baiern,

und Wirtemberg. Der König von Sachsen kam erst am 4. März des folgenden Jahres nach Presburg, und acht Wochen später nach Laxenburg bei Wien. Man bemerkte den Großherzog von Baden, den Kur fürsten von Hessen, den Erbgroßherzog von Hessen, die Herzoge von Braunschweig, von Sachsen Weimar und Coburg, die Fürsten von NassauWeilburg, Hohen: zollern, SchaumburgLippe, Lichtenstein, Reuß, auch den Prinzen Eugen, gewesenen ViceKönigvon Italien, so wie mehrere sowohl teutsche als auch andere Prins zen. Der Glanz der Hoffeste und anderer festlichen Vers sammlungen, blendete für den Augenblick. Doch ward überall, begierig, nach der Eröffnung des Con greffes geforscht.

Endlich erschien, vom achten October datirt, eine öffentliche Erklärung der Bevollmächtigten derje: nigen Höfe, welche den pariser Frieden unterzeichnet hatten. Diese Minister nahmen darin Bedenkzeit bis zu dem ersten November. An diesem Tage sollte die förmliche Eröffnung des Congresses erfolgen. Sie hätten, sagten sie, den 32. Artikel des pariser Friedens in Erwägung gezogen, und, nach reifem Nachdenken über die daraus entspringenden Ver hältnisse und Pflichten, erkannt, daß ihre erste Sorge seyn müsse, zwischen den Bevollmächtigten sämmtlicher Höfe, freie und vertrauliche Erörterungen einzuleiten. Zugleich aber seyen sie zu der Ueberzeus gung gelangt, daß es dem gemeinschaftlichen Interesse aller Theilnehmer angemessen seyn werde, eine allge: meine Zusammenberufung (Conferenz) ihrer Bevollmächtigten bis auf den Zeitpunct zu ver schieben, wo die von ihnen zu entscheidenden Fragen den Grad von Reife gewonnen haben würden, ohne

welchen ein mit den Grundsäßen des Völkerrechtes, den Stipulationen des pariser Friedens, und den gerechten Erwartungen der Zeitgenossen möglichst über, einstimmendes Resultat nicht zu erreichen seyn würde. Demnach sey die förmliche Eröffnung des Congresses, bis auf den ersten November ausgeseßt worden, und fie, die Minister, lebten der Hoffnung, daß die in der Zwischenzeit vorzunehmenden Arbeiten, zu Berichtigung der Ideen, zu Ausgleichung der Ansichten, und zu Beförderung des groffen Werkes wesentlich beitragen werden.

Diese Erklärung sagte viel; sie sagte noch weit mehr, als die Meisten in dem Augenblick ihrer Erschei nung ahnten. In ihr verrieth sich unwillkührlich der Geist, welcher bis in den Februar über die Versamm: lung waltete. Nun lag am Tage, daß das Publicum fich getäuscht hatte mit dem Glauben, die wichtigsten Vor und Hauptfragen seyen schon vor dem Congreß erledigt, und dieser nur bestimmt zu Ausarbeitung des Details, zu Erörterung und Bestimmung der Gegen: stände vom zweiten und dritten Range, zu Bekannts machung der über diese zu fassenden, und der über diejenigen des ersten Ranges schon gefaßten Beschlüsse; in Ansehung der legten also, eigentlich nur für Beob: achtung der, auch heilsamen, Form.

Mit der Bedenkzeit, welche die Minister genommen hatten, war auch dem Publicum Bedenkzeit gegeben, über den Congreß und die gleichzeitige politische Lage Europa's nachzudenken. Das Publicum kannte einen großen Theil der Forderungen, welche Gerech: tigkeit und Staatsflugheit an die Versammlung mach ten. Es erwartete, daß solchen Genüge gelristet werde. Es wollte, daß man das allgemeine Interesse nicht

über dem besondern, das besondere nicht über dem allgemeinen aus den Augen verliere. Man sah die verbündeten Mächte auf der einen, Frank: reich aufder andern Seite.Naturgemäß und bemerkbar war das Streben des leßten, sich aus dem drückenden Zustande politischer Absonderung herauszuarbeiten. Deutlich gieng dieses hervor aus Bemerkungen über die CongreßBekanntmachung vom 8. October, welche in dem Moniteur vom 22. October erschienen *), aber wahrscheinlich zu Wien in dem Schooße der französischen Botschaft verfaßt waren. Darin ward jene Bekannt: machung, welche Talleyrand mündlich für « mauvais papier» erklärt hatte, wenigstens zum Schein gelobt, weil durch Reife der Berathschlagung und bei dem Schweigen der Leidenschaften, das schüßende Ansehen der Grundfäße des öffentlichen Rechtes wieders aufleben müsse. In einem, wie es scheint, halboffi: ciellen Artikel in der strasburger Zeitung vom 2. October, war gerade heraus erklärt, es sey einleuchtend, daß auf dem Congreß die Hauptfragen auch über Teutsch. land, ohne Frankreichs Mitwirkung nicht könnten entschieden werden, das frühere Bünddnisse mit verschiedenen teutschen Souve: rainen habe. Ursache genug für den Congreß, die Mitglieder des teutschen Bundes auf etwa in der Vorzeit, mit auswärtigen Mächten geschlossene Allian; zen, verzichten zu lassen!

Die Verschiedenheit der Meinungen über wichtige Gegenstände der höheren Politik, welche zwischen

Sie stehen in den von dem Verfasser herausgegebenen, Acten des wiener Congresses, Bd. I. Heft 1, . 35 f.

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