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Ferdinand Lassalle und Thomas von Aquino.

Die am meisten besprochene Frage unserer Zeit ist unstreitig die soziale oder gesellschaftliche, ohne dass man vorläufig behaupten dürfte, ihre Verständlichkeit habe durch die häufige Besprechung zugenommen. Im Gegentheil, es scheint sich das Chaos der Ansichten noch mit jedem neuen Schriftsteller über diesen Gegenstand, der für sich allein schon Bibliotheken füllt, zu vermehren. Doch es wird auch einem jeden Unbefangenen mit jedem Tage klarer, dass eine Verständigung (oder definitive Nichtverständigung) nur erfolgen kann, wenn sich diese Fragen einmal in wenige positive Forderungen formulirt haben, die mit einer gewissen Uebereinstimmung grosser Volkskreise an den politisch bestehenden Staat. nicht an einen bloss idealen, erst durch den Umsturz alles Bestehenden zu gründenden, gerichtet werden.

Die Gesellschaft im Gegensatze zum Staat, in der Bedeutung also, die das Wort « sozial» angenommen hat, ist (als Ganzes betrachtet) das Volk ohne Beziehung auf den Staat und speziell staatliche Interessen, m. a. W. das Volk in seinen nichtpolitischen, natürlichen Lebenskreisen. Einzelne neuere Schriftsteller hingegen versuchten dieselbe an die Stelle des Staates, sei es ganz oder in Hinsicht auf einzelne Seiten von dessen bisheriger Wirksamkeit zu setzen und sprechen von einem besondern «Gesell

schaftsrecht» und einer «Gesellschaftswissenschaft », die

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an den Platz des bisherigen Staatsrechtes » und der bisherigen Staatswissenschaft» treten sollen.

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Diese Gesellschaftslehre war anfänglich eine nicht unbegründete Reaktion gegen die Theorie der absoluten Aufhebung aller Unterschiede unter den einzelnen Gruppen von Menschen, die zusammen den Staat bilden, wie sie sich die französische Revolution nach Rousseauschen Ideen gedacht hatte die sogenannte Atomisirung. 1)

Man bemerkte bald, dass trotz der gesetzlichen Aufhebung aller Stände das Volk doch nicht eine einzige gleichmässige Heerde von lauter Individuen sei, sondern sich immer wieder in einzelne natürliche Abtheilungen von näher Zusammengehörigen gruppire.) Diese Gruppen ohne staatliche Organisation,

1) Die Revolution hätte vielleicht auch nicht zu diesem extremen Mittel gegriffen, den Staat auf eine Vereinigung von lauter zusammenhanglosen Individuen mittelst eines angeblichen, stets veränderbaren Vertrags zu gründen, eine Theorie, die im Ganzen genommen jeder Geschichte widerspricht, wenn nicht eben alle sozialen Gruppen damals des « incivisme» verdächtig gewesen wären. Sie schloss daher in ihrer Weise die Augen für die Thatsachen und ging vorwärts in ihren Prinzipien.

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2) Schon Montesquieu, der staatsrechtliche Ankündiger der Revolutionszeit, hatte mit vielem gesunden Menschenverstand gesagt: Ich habe niemals von öffentlichem Recht reden hören, ohne dass man sich sorgfältig bemühte zu ergründen, welches der Ursprung der gesellschaftlichen Kreise sei. etwas, was mir ganz lächerlich vorkommt. Wenn die Menschen nicht Gesellschaften bildeten, so müsste man nach dem Grunde fragen und nachforschen, wesshalb sie einander meiden und fliehen; jetzt werden alle in Verbindungen geboren. Ein Sohn wird beim Vater geboren und hält sich zu ihm, das ist die Gesellschaft und ihre Ursache. » Das bezieht sich ebensowohl auf die natürlichen Gruppen derselben; es sind lauter angeborene, nicht willkürlich gemachte Dinge.

oder direkte staatliche Bestimmung fing man an gesellschaftliche Kreise zu nennen, und die Gesammtheit aller wurde auch mit Vorliebe nicht Staat oder Volk genannt um nicht den einmal angenommenen Grundsatz der Gleichheit aller Individuen im Staat und der staatlichen Ignorirung aller Unterschiede zu beeinträchtigen sondern Gesellschaft.

Heute ist man ziemlich allgemein darüber einig, dass auch ein Volk nicht aus lauter zusammenhanglosen Individuen oder selbst Familien besteht, sondern dass zwischen seiner gesetzmässigen Gesammtorganisation, dem Staat, und dem Einzelnen noch gewisse natürlich gegebene Organisationen Volks- oder Gesellschaftskreise sich befinden, welche die Aufmerksamkeit auch des Staats und der staatsrechtlichen Theorie auf sich zu ziehen berechtigt sind.

Bemächtigt sich nun der Staat dieser Gruppirungen und organisirt sie durch seine Gesetzgebung, so entstehen dadurch Unterabtheilungen oder Organe des Staats. z. B. die ehemaligen Zünfte mit politischen Attributionen, die Landeskirchen mit ihren offiziellen Kirchspielen, die staatlich anerkannten und unterstützten Gesellschaften aller Art, die Staatsschulanstalten und Schulbezirke, die Staatsarmenbezirke, in unserer helvetischen Zeit sogar die Staatsfeste etc. Lässt er sie hingegen gewähren, so finden sich neben dem Staat und seinen Einrichtungen die freien Kirchgenossenschaften, die Schulvereine, die Gewerbevereine, die Armenunterstützungsvereine etc.. lauter gesellschaftliche Organisationen, die sich oft sogar oppositionell zu den entsprechenden staatlichen verhalten.

Ueberall pflegen heutzutage solche gesellschaftlichen Organismen in und neben dem Staat zu bestehen

und sie werden von ihm im Allgemeinen nicht als staatsgefährlich betrachtet. ')

Zeitweise aber können diese gesellschaftlichen Organisationen eine grössere und selbst übergrosse Bedeutung gewinnen und es ist das dann ein sicheres Anzeichen dafür, dass der Staat den Bedürfnissen seines Volkes in irgend einem Punkte nicht vollständig entspricht, so dass dasselbe auf anderem Wege zu

1) Darin dachte der antike Staat, besonders der römische. anders als wir. Die Gesetzgebung gegen die Gesellschaften war eine sehr strenge; politische Vereinigungen wurden gar nicht geduldet, die Christenverfolgungen mehrerer der besten Kaiser gingen aus diesem Staatsgedanken hervor. Das römische Recht ist daher auch den natürlichen Genossenschaften im Staat nicht günstig. Das Individuum (höchstens noch die Familie) und sein streng ausgeschiedenes, möglichst absolutes Eigenthum sind des Römers höchste Gedanken.

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Diese gesellschaftlichen Organisationen sind es denn auch. in denen die staatlich nicht organisirten und nicht rechtsfähigen Bestandtheile des Volkes, also namentlich, nach unseren Einrichtungen, die Frauen, zur Geltung kommen und einen grossen. stillen Einfluss ausüben. Man weiss oft nicht recht, wesshalb staatliche Einrichtungen, welche die offizielle grosse Mehrheit des Volkes für sich haben, dennoch zu keinem rechten Bestande gelangen. Cherchez la femme»; das sind die gesellschaftlichen Gegeneinflüsse und es mag sich wohl die Frage aufwerfen lassen. ob dieselben nicht besser in einzelnen Theilen des staatlichen Lebens, z. B. in Schul- und Kirchensachen, durch ein direktes Stimmrecht ersetzt würden. Die Frauen sind die letzte Instanz in staatlichen, kirchlichen und sozialen Dingen, das eigentlich konservative Element im Völkerleben. So lange dieses Gericht nicht gesprochen hat» so sagt ein berühmter Mann unserer Gegenwart scheitert alles an der Frauen stillem, unnahbarem Widerstand. Sobald sie für neue Ideen eintreten, ist die Zeit des Sieges derselben gekommen. » Ob dieser Einfluss durch staatliche Organisation nicht besser regularisirt würde, ist eine andere Frage.

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