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Das deutsche Reichsgericht, verglichen mit den obersten Gerichtshöfen der wichtigsten Staaten.

Von

Rechtsanwalt Dr. LUDWIG FULD in Mainz.

Mit dem Untergange des alten deutschen Reichs hörte auch die Thätigkeit des Reichskammergerichts auf und es dauerte mehr denn ein Menschenalter bis die deutsche Nation einen solchen Fortschritt auf dem Wege staatlicher Konsolidation gemacht hatte, dass das Bedürfniss eines judicium supremum, als Schlussglieds der Kette der deutschen Gerichtsorganisation, ein sichtbares Zeichen der nationalen Einheit und der einheitlichen Handhabung des Rechts, nicht länger unbeachtet und unbefriedigt gelassen werden konnte.

In der Zwischenzeit machte die grosse Zahl oberster Gerichtshöfe der Einzelstaaten die grösste Rechtsunsicherheit gerade in Ansehung solcher Rechtsmaterien, welche für grosse Theile des deutschen Volkes einheitlich geregelt waren, beinahe zur unabweisbaren Nothwendigkeit. Während das Reichskammergericht der einheitlichen Auslegung, Fort- und Weiterbildung des gemeinen Rechts römischer Grundlage eine unschätzbare Stütze gewesen war, während es trotz seiner sprichwörtlichen Langsamkeit und Langweiligkeit ein nicht unwirksames Aufsichtsrecht über die übrigen Gerichte ausübte und gegen die Verweigerung der Justiz in kräftiger Weise einschritt, fehlte nach dem Untergang dieses ehrwürdigen Denkmals deutschen Rechtslebens jeder Ersatz für es. Besonders fühlbar wurde dieser Mangel, als nach endlosen Bemühungen für die Gebiete des Handels-, See- und Wechselrechts ein gemeinsames Recht zu Stande kam. Es wird

stets einen Gegenstand lebhafter Verwunderung in der Rechtsgeschichte bilden, dass die deutsche Nation sich im Verhältniss sehr lange Zeit damit zufrieden gab, dass ihr neugeschaffenes allgemeines Recht hier so und dort anders ausgelegt und dass hierdurch eine Rechtsverschiedenheit in vollem Umfange, wenn auch nicht de jure so doch de facto wieder eingeführt wurde. Was half dem deutschen Rechte, dass die Voraussetzungen, unter welchen die Haftpflicht des Frachtführers hinwegfällt, im Norden dieselben waren wie im Süden, im Osten nicht anders wie im Westen, wenn das hanseatische Oberappellationsgericht die bezüglichen Bestimmungen durchaus anders auslegte wie das preussische Obertribunal, wenn dieses wieder mit der Ansicht des Obergerichts in Celle zwar harmonirte, dafür aber zu den Anschauungen des badischen Oberhofgerichts und des hessischen Kassationshofes in schärfstem Widerspruch stand? Je zahlreicher diese Verschiedenheiten in der rechtlichen Auffassung der obersten Gerichte der einzelnen Bundesstaaten waren, um so dringender machte sich das Bedürfniss geltend, wenigstens auf den Gebieten, welche einheitlich geregelt waren, ein oberstes Gericht zu besitzen. Die Schaffung des Norddeutschen Bundes ermöglichte die Erfüllung eines heissen Wunsches der Nation und mit dem Bundes-, später dem Reichsoberhandelsgerichte war der deutschen Nation wieder ein einheitlicher oberster Gerichtshof gegeben, freilich nicht für alle Gebiete des Rechts, aber doch für sehr wichtige und umfangreiche. Die Tendenz, die Kompetenzsphäre dieses Gerichtshofs zu erweitern, trat in den Jahren nach seiner Konstituirung sehr deutlich zu Tage. Während der Gerichtshof ursprünglich, wie es schon sein Name besagte, auf das Gebiet der oberstrichterlichen Entscheidung in Handels- und Wechselsachen beschränkt war (Bundesgesetz vom 12. Juni 1869), wurde durch das Bundesgesetz, betreffend die Aufhebung der Flössereiabgaben vom 1. Juni 1870, bestimmt, dass, wenn wegen der Beseitigung bestandener Abgaben der Flösserei ein Entschädigungsanspruch gegen den Fiskus des Norddeutschen Bundes erhoben würde, darüber in letzter Instanz das Bundes-Oberhandelsgericht entscheiden solle. Das Bundesgesetz vom 11. Juni 1870, betreffend das Urheberrecht an Schriftwerken, wies ihm die oberste Entscheidung in allen Sachen zu, in welchen es sich um einen Anspruch auf Entschädigung oder

Einziehung und um Strafsachen auf Grund dieses Gesetzes handelte. Die analoge Bestimmung traf das Reichsgesetz, betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste vom 9. Januar 1876, das Gesetz, betreffend den Schutz der Photographien vom 10. Januar 1876 und das Gesetz, betreffend das Urheberrecht an Mustern und Modellen vom 11. Januar 1876. Endlich bestimmte das Reichspatentgesetz vom 27. Mai 1877 in § 32, dass die Berufung gegen die Entscheidungen des Patentamts zur Kompetenz des Reichsoberhandelsgerichts gehöre. Dieselbe war aber nicht nur durch diese Gesetzgebung über die sogen. Individualrechte, sondern auch durch andere, theils privatrechtliche, theils öffentlich-rechtliche Gesetze erweitert worden. Nachdem das Bundesgesetz vom 8. November 1867 das preussische Obertribunal als höchste richterliche Instanz in Sachen der Konsulargerichtsbarkeit bestimmt hatte, wurde durch das Reichsgesetz vom 22. April 1871 diese Funktion von dem Obertribunal auf das Reichsoberhandelsgericht übertragen. Durch das Haftpflichtgesetz vom 7. Juni 1871 wurde die oberstrichterliche Zuständigkeit des Gerichtshofes für alle unter dieses Gesetz fallenden Rechtsstreitigkeiten begründet, während das Reichsbeamtengesetz die Entscheidung über vermögensrechtliche Ansprüche der Reichsbeamten aus ihrem Dienstverhältniss und über Entschädigungsansprüche gegen Reichsbeamte, welche auf Ueberschreitung ihrer amtlichen Befugnisse oder pflichtwidrige Unterlassung ihrer Amtshandlungen gegründet werden, ihm in letzter Instanz übertrug. Ebenso dehnte die Strandungsordnung seine Kompetenz auf die Entscheidung von vermögensrechtlichen Ansprüchen aus, welche auf die Fälle der Bergung ausser dem Falle der Seenoth gestützt werden. Endlich war durch das Gesetz vom 14. Juni 1871 das Reichsoberhandelsgericht zum obersten Gerichtshof für ElsassLothringen in Ansehung aller Rechtssachen bestellt worden, welche nach der französischen Gesetzgebung von dem Pariser Kassationshofe zu entscheiden waren. Durch diese Gesetze war für einen nicht unerheblichen Theil des Zivilrechts die einheitliche Judikatur gesichert worden. Das Reichsoberhandelsgericht wurde seiner Aufgabe, auf die einheitliche Gesetzesauslegung bedacht zu sein, in vollstem Umfange gerecht; seine Judikatur war eine geradezu glänzende. Seitens der deutschen Rechtswissenschaft ist es ganz allgemein anerkannt, dass die Wirkung,

welche seine Rechtsprechung auf sie ausübte, eine überaus heilvolle und segensreiche war und dass der genannte Gerichtshof sich unvertilgbare Verdienste um die Rechtspflege in Deutschland erworben hat. Mit der Schaffung eines einheitlichen Verfahrens in Straf- und Zivilsachen, wurde auch die Erweiterung des Reichsoberhandelsgerichts nothwendig. Es entsprach dem naturgemässen Entwicklungsgange, welchen das deutsche Rechtsleben seit zehn Jahren genommen hatte, dass die Beschränkung des obersten Gerichtshofs auf bestimmte Theile des Rechtslebens fallen gelassen wurde, dass aus dem Reichsoberhandelsgerichte ein Reichsgericht herauswuchs. Die Motive zu dem Gerichtsverfassungsgesetze, welches im Namen der verbündeten Regierungen mittelst Schreibens des Reichskanzlers vom 29. Oktober 1874 dem Reichstage vorgelegt wurde, äussern sich über diesen Punkt in folgender Weise 1): Es ist nur eine Konsequenz und zwar eine unabweisbare Konsequenz der durch die Einsetzung des Reichsoberhandelsgerichts eingeleiteten Entwicklung, dass das Reichsoberhandelsgericht einem Reichsgericht zu weichen, dass an die Stelle des mit beschränkter Zulässigkeit ausgestatteten Reichsoberhandelsgerichts das Reichsgericht mit umfassender Kompetenz zu treten hat. Und dass es geboten ist, diese Konsequenz in dem Momente zu ziehen, in welchem das Gerichtsverfassungsgesetz und die Prozessordnung eingeführt werden, folgt aus dem Umstande, dass die Schaffung der höchsten Instanz den nothwendigen Abschluss der Gerichtsorganisation bildet." Bei der Frage, in welcher Weise dieses Reichsgericht konstruirt werden müsse, konnte man sich an die analogen Einrichtungen anderer Staaten nur sehr bedingt anschliessen. Die ganz eigenartigen staatsrechtlichen Verhältnisse des deutschen Reichs, mit welchen der Gesetzgeber rechnen musste, brachten es mit sich, dass dem Reichsgerichte weder die Stellung in staatsrechtlicher Beziehung noch die Kompetenz eingeräumt werden konnte, welche dem Kassationshofe Frankreichs oder Ihrer Majestät Supreme Court zukommt. Die Grenzen, welche für den Gesetzgeber bei Regulirung der Justizorganisation durch die Rücksichten gezogen wurden, die der Justizhoheit der Einzelstaaten nach Lage der Sache gewährt werden mussten und die nach eigener Aussage

1) HAHN, Materialien zu den Justizgesetzen. Bd. I. S. 39.

des Gesetzgebers so eng gezogen wurden als irgend möglich, brachten es von vornherein mit sich, dass nicht daran zu denken war, das Reichsgericht in ähnlicher Weise zu einem Oberaufsichtsgerichte für sämmtliche deutsche Gerichte zu machen, wie die erwähnten höchsten Gerichtshöfe Englands und Frankreichs 2), sie brachten es mit sich, dass das Reichsgericht wesentlich unter dem Gesichtspunkte zu konstruiren war, durch die ihm zugewiesene letztinstanzliche Entscheidung die einheitliche Rechtsauslegung zu garantiren und die Zersplitterung des Rechts durch die abweichende Rechtsprechung verschiedener letztinstanzlicher Gerichte zu verhüten. Es wird dies von dem Gesetzgeber deutlich ausgesprochen). Von diesem Gesichtspunkte aus musste aber der Gesetzgeber die zivil- und strafrechtliche Thätigkeit des höchsten Gerichtshofes verschieden behandeln. Es musste dies namentlich um desswillen geschehen, weil die Gestaltung und Entwicklung des deutschen Strafrechts durchaus von der des Zivilrechts verschieden war und ist. Während das deutsche Strafrecht seit der Begründung des Norddeutschen Bundes sich in kräftig unitarischem Sinne entwickelt hatte, während auf strafrechtlichem Gebiete hierdurch eine Rechtseinheit, wenigstens in Ansehung der wichtigsten Materien des Strafrechts, so gut wie erzielt worden war), war auf dem Gebiete des Zivilrechts, abgesehen von den oben genannten grösseren und kleineren Kodifikationen, noch keine einheitliche Gesetzgebung und Rechtsbildung, sondern nur die Ansätze zu solchen vorhanden und der Gesetzgeber musste desshalb mit der reichsten Fülle des vorhandenen partikularen Rechts rechnen. Die Motive schildern diese Verschiedenheit der strafund zivilrechtlichen Verhältnisse sehr treffend 5). Jedes Wort derselben lässt den Grundgedanken des Gesetzgebers in vollster Deutlichkeit erkennen, die Einheit der Rechtsanwendung durch das Reichsgericht zu sichern, und die Bestimmungen des Entwurfs entsprachen diesem Gedanken in jeder Beziehung so vollkommen, dass weder die Kommission noch das Plenum des Reichstags einen Grund hatte, irgend eine Veränderung an

2) Vgl. unten die Darstellung der Organisation dieser Gerichte.
3) Vgl. HAHN, a. a. O. I. S. 382, S. 657, II. S. 968.

4) BINDING, Handbuch des Strafrechts, S. 53, 54, 97, 101.

5) HAHN a. a. O. I. S. 40.

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