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den ernsten Wirkung für das staatsbürgerliche Element im Individuum. Den Völkern selbst war daher die einschneidende Wichtigkeit solcher staatlichen Ereignisse mit der dämmernden Erkenntniss ihrer Würde früher in's Bewusstsein gedrungen, als die Wissenschaft ihr formulirten Ausdruck gab. So tritt uns die Erscheinung entgegen, dass im Verkehr gesitteter Völker eine Reihe constanter Uebungen und völkerrechtlicher Institutionen sich an die vollendete Thatsache der Verletzung oder Zerstörung einer Staatsintegrität knüpft; dass diese Einrichtungen zum Schutze des Individuums mit den grossen Wandlungen des europäischen Staatenlebens sich umbilden und erneuen, ohne dass die berufene Lehre bis vor Kurzem jenen Ergebnissen der rechtzeugenden Staatengemeinschaft die ihrer inneren Bedeutung angemessene Beobachtung widmete.

Mit Einemmale zog das internationale Recht den Kreis der durch die Gebietswandlung bedrängten Interessen des Individuums in Berathung, den es vorher gänzlich übersah. Wodurch wurde dieser scharfe Umschwung hervorgebracht? Welcher äussere Anlass legte die Lücken im Lehrstoffe blos und liess auf ihre Ausfüllung bedacht sein? Die Lösung der Frage wird nothwendig den springenden Punkt enthalten müssen, der die beiden Literaturperioden scharf von einander trennt. Was die neue Epoche theoretischer Arbeit von der früheren scheidet, das ist die geänderte Grundanschauung über das Werden und über die Verwirklichung des Rechtes, des öffentlichen wie des privaten. Der Gegensatz, welcher zwischen den beiden Anschauungen besteht, von denen die eine das Recht nur aus dem harten unablässigen Kampfe hervorgehen lässt, während die andere, ältere das Recht schmerzlos, unmerklich wie die Entwicklung einer Syntax-Regel aus der ruhigen Entfaltung des Volks

wesens,,organisch" hervorgehen lässt,

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jener Gegensatz hat sich auf dem Gebiete des öffentlichen Rechtes zu der in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts befestigten Erkennt niss zugespitzt: Der Krieg ist entgegen der alten Ansicht nicht ein überflüssiges Uebel des Völkerlebens nicht etwas dem Rechte Fremdes, ,,sondern er ist mit dem Wesen desselben unzertrennlich verbunden, ein Moment seines Begriffs" 9). Damit war der gewaltsamen Durchsetzung des Staatswillens und ihren Folgen das Heimatrecht im System zu Theil geworden. Es war nicht mehr gefährlich für den positiven Rechtscharakter der Disciplin, von ,,diesen Dingen" zu handeln, sie traten vielmehr mit ihrer entscheidenden Bedeutung aus der Bildfläche hervor, und bezeichneten in Einem die nothwendigen Ausgangs- und Zielpunkte einschlägiger Untersuchungen.

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2. Die Antwort auf die bedeutsame Frage: welche Stellung ist dem Individuum gegenüber dem Kriege und dem Kriegsergebnisse angewiesen? - beinhaltet immer in Einem zugleich die genaue Ausdrucksformel für das Maass der in einem bestimmten Zeitpunkte bei einem bestimmten Volke in das Bewusstsein getretenen völkerrechtlichen Pflicht. Das Individuum im Staate bezeichnet jedoch immer etwas Doppeltes. Es ist das an sich und durch seinen persönlichen Interessenkreis Bestimmt e und zugleich aber auch der unbestimmte, weil wechselnde und generell vertretbare Theil der staatlichen Gesammtheit. Jene Frage muss daher immer

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9) IHERING. Der Kampf um's Recht. S. 2. CALVO. Droit international. T. II., §. 684. En se plaçant à un certain point de vue on peut dire que l'histoire du droit des Gens n'est pas autre chose au fond que la justification complète de la guerre. LAURENT. Hist. du Droit des Gens. T. I., Ch. 2., §. 1.

eine doppelte Behandlung erfahren: Die Untersuchung muss die rechtliche Stellung der Persönlichkeit nach ihrer individuell-wirthschaftlichen und ihrer staatlichen politischen Seite

umfassen.

Die privatrechtliche Richtung, welche die Lehre des Völkerrechts im bequemen Anschlusse an das System des zur Zeit ihres Aufsteigens bereits hoch entwickelten gemeinen Rechtes einschlug, wandte der vermögensrechtlichen Stellung des Einzelnen zur Staatsaction frühzeitig umfassende Beachtung zu, so dass die Grundsätze über den Schutz des Privateigenthums im Landkriege heute einem ausgebildeten Gebiete dieser Rechtswissenschaft angehören. Der immer dringender werdenden Bewegung zu geschweigen, welche der Ausdehnung dieser Grundsätze auch auf den Seekrieg im Rahmen der durch des letzten Eigenart bedingten Möglichkeit zum Siege verhelfen wird. Wir haben es hier mit regelmässig gegliederten Rechtsvorschriften, mit einem funktionirenden internationalen Institute zu thun, welches ebenso wie das seit Jahrhunderten ausgebildete Gesandtschaftsrecht zum anerkannten, weil nothwendigen Inhalte der rechtlichen Völkerüberzeugung geworden ist. Wir sehen auf diesem durchaus dem täglichen Leben und seinen Bedürfnissen angehörigen Plane das Völkerrecht thatsächlich zu dem geworden, was es dem freien Willen seiner Subjekte nach recht eigentlich sein soll: Die Stimme des Gewissens. für den gesitteten Staat, wodurch er gemahnt und abgeschreckt werde, in seinem Verhalten zu anderen Staaten launenhafter Willkühr oder ungezügelter Selbstsucht zu folgen 10). Nur theoretische Rechthaberei kann nicht sehen wollen, dass der rechtliche Schutz der wirthschaftlichen Seite der Persönlich

10) BULMERINCQ. Praxis, Theorie und Codification des Völkerrechts. S. 96.

keit gegenüber dem Kriege, d. h. der gewaltsamen Durchsetzung eines staatlichen Willens durch die gesammte staatliche Kraft, - zu den in den Grundzügen gelösten Aufgaben zählt, welche der Völkerrechtslehre gestellt waren.

Jünger und darum minder scharf begrenzt, minder präcisirt, als die an sich plastischere Frage nach dem Maasse der Wechselwirkung zwischen der äussersten Kraftanspannung des Staates und dem Interessenschutze der Einzelwirthschaft ist die, jene ergänzende Untersuchung, wie sich denn der Krieg und das Kriegsergebniss zur staatsrechtlichen Seite der Persönlichkeit verhalten, und in wie weit letztere durch erstere bestimmt sei. Offenbar war die Stellung des Individuums zum Kriegsunternehmen des Staates insolange nicht klar abzusehen, als mit Uebergehung dieser staatsrechtlichen Seite jener privatrechtlichen vorweg und überwiegende Erörterung zu Theil wurde. Der Völkerrechts-Literatur des ancien régime war eine Berührung dieser gleichberechtigten Materie selbstredend völlig fremd. Das war eben ihre Natur, ihr unterscheidendes Merkmal gegenüber einer entwickelteren nachfolgenden Periode; denn gerade hier liegt die Kluft, die uns meilenbreit von den geistvollen Werken der MOSER, GÜNTHER, SAALFELD trennt, die sie uns als etwas Fremdgewordenes, Entlegenes erscheinen lässt, während uns die weit minder schöpferischen, minder originellen SCHMELZING, ARETIN, ROTTECK, GAGERN verständlicher im Ohre klingen, weil sie von einer Welt uns sprechen, in der wir selbst uns athmend wissen. Während dort mit der Erörterung der privatrechtlichen Folgen des Kriegsausbruches und seiner Beendigung das Interesse zum grössten Theile erschöpft, der Kreis geschlossen erscheint, innerhalb dessen das Individuum als Gegenstand des jus belli behandelt werden kann,

tritt bei diesen in immer steigendem Maasse das

Gefühl auf, dass die gewaltige und gewaltsame Action des Staates dem Einzelnen seine Zugehörigkeit zum grossen Ganzen erst ins Bewusstsein bringe, und dass seine geistige Natur in weit höherem Maasse als seine leibliche davon erfasst werde. Erscheint bei jenen nur der begüterte Theil des Volkes, und zumeist auch dieser nur negativ am Kriegsunternehmen des Staates interessirt, so tritt bei den Neueren der Gedanke des gleichmässigen Betheiligtseins aller Volkselemente an der Durchsetzung des Staatswillens hervor.

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Das grosse historische Ereigniss, welches zum Ausgangspunkte dieser mächtigen Entwicklung diente, waren die levées en masse zweier der bedeutendsten Culturvölker Europas. Jene beiden Volksbewaffnungen in Frankreich und Preussen an der Wende dieses Jahrhunderts zerstörten den altersgrauen Glauben: der Krieg sei nur das Ergebniss, die Erfüllung eines Einzel willens, der - Dank dem Zufall in der Geschichte ebenso gut auch nicht hätte aufsteigen können; und liessen ihn als Ausdruck des Gesammtwillens erscheinen. Im Kampfe der Republik gegen die Coalition standen sich nicht nur verschiedene Regierungsformen, sondern, was viel entscheidender werden sollte, verschiedene Wehrformen feindlich gegenüber und der Erfolg entschied zu Gunsten des neuen Gedankens. Die Mittel, welche hiebei aufgeboten werden konnten, hatten keine sichtbaren Grenzen, sondern verloren sich in der Begeisterung der Völker und der damit steigenden Energie ihrer Regierungen 11). Die Willenskraft des Staates, sein kriegerisches Element, war hier zum ersten Male von allen schwächenden Schranken befreit mit seiner ganzen natürlichen Kraft losgebrochen in

11) S. hierüber VON CLAUSEWITZ. Hinterlassene Werke vom Kriege. III. Bd., Cap. 4 u. fg.

Stoerk, Option und Plebiscit.

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