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geäußert hatte, kann und darf den Menschen nicht verlassen; und so groß ist die Macht des Gedankens, er sei wahr oder falsch, daß er die Erfahrung mit sich fortreißt: daher denn auch gesteigerte nnd verwickelte Maschinen der Theorie zu Diensten sein und 5 dem Wahren wie dem Falschen zur Bestätigung und Gründung dienen mußten. Nirgends war dieses umgekehrte Verfahren trauriger als in der Farbenlehre, wo eine ganz falsche, auf ein falsches Experiment ge= gründete Lehre durch neue, das Unwahre stets ver- 10 bergende und die Verwirrung immer vermehrende, verwickeltere Versuche unzugänglich gemacht und vor dem reinen Menschenverstand düster verhüllt ward.

Da ich in die Naturwissenschaft als Freiwilliger hineinkam, ohne Aussicht und Absicht auf einen Lehr- 15 stuhl, welchen besteigend man denn doch immer bereit sein muß, eben so gut dasjenige vorzutragen was man nicht weiß als das was man weiß, und zwar um der lieben Vollständigkeit willen; so konnte ich dagegen auf eine andere Vollständigkeit denken, auf den Baco= 20 nischen Weg zurückkehrend und die sämmtlichen Phänomene, so viel ich ihrer gewahr werden konnte, sammlend. welches ohne eine gewisse Ordnung, ohne ein Neben-, Über- und Untereinander, für den denkenden Geist unmöglich ist.

Wie ich in der Farbenlehre gehandelt, liegt jedermann vor Augen der es beschauen will, das Fachwerk das ich beliebt, wüßte ich noch jetzt nicht zu verändern;

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noch jezt gibt es mir Gelegenheit Verwandtes mit Verwandtem zu gesellen, wie die entoptischen Farben bezeugen mögen, die, als neu entdeckt, sich in meinen übrigen Vortrag einschalten lassen, eben als hätte 5 man sie gleich anfangs in Betracht gezogen. Hiedurch finde ich mich also berechtigt, ja genöthigt, was ich etwa nachzubringen habe, in derselben Ordnung aufzu= führen: denn es kommt hier nicht darauf an durch eine Hypothese die Erscheinungen zu verrenken, sondern 10 die klaren natürlichen Rechte einer jeden anzuerkennen und ihr den Plah in der Stadt Gottes und der Natur anzuweisen, wo sie sich denn gern hinstellen, ja niederLassen mag. Und wie sollte man einen so großen, errungenen und erprobten Vortheil aufgeben, da jeder15 mann, der ein Instrument erfunden das ihm in der Ausübung besondere Bequemlichkeit gewährt, aber andern unbekannt ist, solches bekannt zu machen sucht, entweder zu seiner Ehre, oder, wenn er das Glück hat ein Engländer zu sein, nach erlangtem Patent, zu 20 seinem zeitlichen Gewinn. Lasse man mich also auch die Vortheile wiederholt an Beispielen praktisch aussprechen, die mir aus der Methode zufließen, wornach ich die Farbenlehre gebildet. Sobald ich nämlich die Haupt- und Grundphänomene gefunden und, wie sie 25 sich verzweigen und auf einander beziehen, geordnet hatte, so entstanden wahrhaft geistige Locate, in welche man gar leicht den besondern Fall dem allgemeinen Begriff unterzuordnen und das Vereinzelte, Seltsame,

Wunderbare in den Kreis des Bekannten und Faßlichen einzuschließen fähig wird.

Zu leichterer übersicht ist deßhalb eine Tabelle vorausgeschickt.

Physiologe Farben.

Diese sind es die als Anfang und Ende aller Farbenlehre bei unserm Vortrag vorangestellt worden, die auch wohl nach und nach in ihrem ganzen Werth und Würde anerkannt, und anstatt daß man sie vorher als flüchtige Augenfehler betrachtete, nunmehr als 10 Norm und Richtschnur alles übrigen Sichtbaren fest= gehalten werden. Vorzüglich aber ist darauf zu achten daß unser Auge weder auf das kräftigste Licht, noch auf die tiefste Finsterniß eingerichtet; jenes blendet, diese verneint im Übermaß. Das Organ des Sehens 15 ist, wie die übrigen, auf einen Mittelstand ange= wiesen. Hell, Dunkel und die zwischen beiden ent= springenden Farben sind die Elemente, aus denen das Auge seine Welt schöpft und schafft. Aus diesem Grundsay fließt alles übrige, und wer ihn auffaßt 20 und anwenden lernt, wird sich mit unserer Darstellung leicht befreunden.

1.

Hell und Dunkel im Auge bleibend.

Hell und Dunkel, welche, eins oder das andere, auf das Auge wirkend, sogleich ihren Gegensah for= dern, stehn vor allem voran. Ein dunkler Gegen= 5 stand, sobald er sich entfernt, hinterläßt dem Auge die Nöthigung dieselbe Form hell zu sehen. In Scherz und Ernst führen wir eine Stelle aus Faust an, welche hierher bezüglich ist. Fauft und Wagner auf dem Felde, gegen Abend, spazierend bemerken einen 10 Pudel.

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Faust.

Siehst du den schwarzen Hund durch Saat und Stoppel streifen?

Wagner.

Ich sah ihn lange schon, nicht wichtig schien er mir.

Faust.

Betracht' ihn recht! Für was hältst du das Thier?

Wagner.

Für einen Pudel, der auf seine Weise
Sich auf der Spur des Herren plagt.

Faust.

Bemerkst du, wie in weitem Schneckenkreise
Er um uns her und immer näher jagt?
Und irr' ich nicht, so zieht ein Feuerstrudel
Auf seinen Pfaden Hinterdrein.

Wagner.

Ich sehe nichts als einen schwarzen Pudel;
Es mag bei euch wohl Augentäuschung sein.

Goethes Werke. II. Abth. 5. Bd. 1. Abth.

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Vorstehendes war schon lange, aus dichterischer Ahnung und nur im halben Bewußtsein geschrieben, als, bei gemäßigtem Licht, vor meinem Fenster auf der Straße, ein schwarzer Pudel vorbei lief, der einen hellen Lichtschein nach sich zog: das undeutliche, im s Auge gebliebene Bild seiner vorübereilenden Gestalt. Solche Erscheinungen sind um desto angenehm - über= raschender, als sie gerade, wenn wir unser Auge be= wußtlos hingeben, am lebhaftesten und schönsten sich anmelden.

2.

Weiteres Beispiel.

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Wo ich die gleiche Erscheinung auch höchst auffallend bemerkte, war, als bei bedecktem Himmel und frischem Schnee die Schlitten eilend vorbei rutschten, da denn die dunklen Kufen weit hinter sich die klar= 15 ften Lichtstreifen nachschleppten. Niemand ist, dem solche Nachbilder nicht öfters vorkämen, aber man läßt sie unbeachtet vorübergehn; jedoch habe ich Personen gekannt, die sich deßhalb ängstigten und einen fehlerhaften Zustand ihrer Augen darin zu finden 20 glaubten, worauf denn der Aufschluß, den ich geben konnte, sie höchst erfreulich beruhigte.

3.

Eintretende Reflexion.

Wer von dem eigentlichen Verhältniß unterrichtet ist, bemerkt das Phänomen öfters, weil die Reflexion 25

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