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Gegenwart.

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Allgemeine Betrachtungen.

Wir haben in kurzen Umrissen die geschichtliche Entwickelung des Schweizervolkes darzustellen gesucht; wir wollen nun eine Weile bei diesem Volke selbst, seinen Zuständen, feinem öffentlichen und häuslichen Leben, seinem Charakter, seiner Gegenwart ausruhen, und die Perspektive in seine und die Zukunft Europas vor uns aufzurollen suchen.

Ein alter Sag erwahrt sich auch für das Schweizervolk; das Leben, der Charakter der Völker wird wesentlich mitbedingt durch die Physiognomie der Länder. Die Schweiz ist ein Gebirgsland: das mächtigste Hochgebirge Europas hat hier seine massenhaftesten Züge abgelagert, an welche sich im Westen der Jura schließt. Wir finden wenige Ebenen von Bedeutung; eine Menge von Thälern durchfreuzen die Bergketten, øder laufen ihnen entlang, von ihnen aus erheben sich die Hügel- und Berglande, und die Hochs ebenen; also auf einem verhältnißmäßig sehr beschränkten Naume die größte Mannigfaltigkeit, in derselben aber doch wieder Harmonie und Uebereinstimmung ohne die charakterlose Flachheit groBer Tiefländer. Daher die mannigfaltigen Nüancen schweizerischen Lebens und Charakters, die sich jedoch alle zurückführen lassen auf den Grundcharakter eines genügsamen, gesunden, kräftigen Hirtenvolks mit frischer Kraft und hellen Sinnen. Welcher Unterschied zwischen dem stämmigen, deutschphlegmatischen Urner, und dem bes weglichen Waadtländer leichten, französischen Blutes; zwischen dem frommen, kindlichen Bewohner des lieblichen Unterwaldens und dem besonnenen, betriebsamen, praktischklugen Bürger der prote= stantischen Tiefländer! Auf dem Gebirge, unter dem Eis der Gletscher, umrauscht von den frischen Quellen werdender Ströme, in der reinen Atmosphäre der Alpen ein Hirtenvolk einfach, un

gefünftelt, rauh, auf die wenigsten Bedürfnisse beschränkt, kräftig wie seine Berge, kühn und entschloffen durch die Gewöhnung an Noth und Gefahr. Ohne Ackerbau, beinahe ohne Gewerbe, ohne höhere Bildung sind sie die Halbnomaden des mittlern Europas. Aber wo die Berge sich absenken, wo die freundlichen Thäler fich ausbreiten, wo hunderte fließender Gewässer dem Boden Lebensfülle, dem Menschen ihre Kräfte leihen: da hat der Landbau Plag genommen, immerhin aber im vehrältnißmäßig beschränkten Raume; der Weinstock fand seine Pflege, der Obstbaum breitete sich nicht selten zum herrlichen Walde aus; darauf konnte sich der Bewohner jedoch nicht beschränken. Das Bedürfniß trieb den Landbauer zur Industrie, der Natur reichte die Kunst die Hand: So sehen wir die drei Hauptstufen schweizerischen Lebens nach einander natürlich entwickelt: den Hirtenstand, den Ackerbau, die Gewerbthätigkeit, den industriellen Betrieb. So steigen wir von den zerstreuten Holzhütten der Aelpler zu freundlich wohnlichen Dörfern und Flecken, zu ansehnlichen, reichen, fleißigen Städten hinab.

Niemand spricht dem Schweizervolke gesunden, praktischen Verstand ab; er ist die Grundlage seines Charakters, an ihn schließt sich die besonnene, kluge Berechnung der Verhältnisse, der schöne Sinn für Reinlichkeit in Haus und Feld, für Sparsamkeit und Eingezogenheit im Bedürfen und Genießen; damit verknüpft sich der entschlossene, thatkräftige Muth, der Soldatengeist und das Soldatengeschick. Die Natur des Landes, seine natürliche Unfruchtbarkeit und Beschränktheit hat die Schweizer eben so gut zu einem fleißigen, rechnenden, industriellen, zu einem Handelsvolke gemacht wie die Holländer.

Das gemüthliche, beschauliche Leben hat sich nur auf den Bergen erhalten, wo das Leben einfach, der Bedürfnisse wenige sind; im Thal und in den Ebenen hat die praktische Verstandesthätigkeit das Stillleben des Gemüthes in den Hintergrund gedrängt, es mußte sich flüchten in die Häuslichkeit, ins Familienleben, das in der Regel ein musterhaftes genannt zu werden verdient. Darum hat sich auch dort der Katholizismus, mit seinem Sinn und Gemüth ansprechenden, Culte, erhalten, während hier der strebsame, rationelle, die nächsten irdischen Bedürfnisse über

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