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trieben wurde, so hat man das Bild der alten französischen Gerichtsverfassung mit allen feinen Schlagschatten, in seiner vollkommensten Dunkelheit. Es war daher sehr natürlich, daß beim Ausbruche der Revolution von 1789 in den, der assemblée nationale constituante eingereichten Beschwerdeschriften (cahiers de doléances) die Grundreform der Gerichtsverfas fung ein stehender Artikel war. Das Interesse der Bittsteller, das Interesse von ganz Frankreich, wurde in der Natioalversammlung durch Männer wie Thouret, Duport, Barnave, Prugnon vortrefflich vertreten. Der Sturm erhob sich. Die Revolution, die so viele und weit solidere Dinge zermalmte, untergrub auch den feudalen, morschen Bau der alten französ fischen Gerichtsverfassung, und auf ihren Trümmern führte man ein Gebäude auf, dessen Umrisse in den folgenden Capiteln gezeichnet werden sollen.

Zweites Kapitel.

Von den Grundlagen der heutigen Gerichtsverfassung Frankreichs.

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Die Fundamente der alten französischen Gerichtsverfassung standen mit den Grundprincipien der Revolution, Gleichheit vor dem Geseze, Freiheit der Person, Schuß des Eigenthums, Verbannung aller Willkühr, Deffentlichkeit, geradezu im Widerspruche. Es mußte alles neu geschaffen und neu gestaltet werden. Nichts vom Alten durfte, oder konnte bestehen. Daher - wie schon bemerkt die radicale Verschiedenheit zwischen der alten und neuen Gerichtsverfassung Frankreichs. Dort Gemischtheit, hier Reinheit und Abgeschlossenheit der Justiz! Dort Ungebundenheit, hier Beschränkung der Richtergewalt! Dort Abhängigkeit, hier Unabhängigkeit der Richter! Dort materielle und formelle Ungleichförmigkeit, hier materielle und formelle Gleichförmigkeit der Justiz! Dort endlich Heimlichkeit, hier Deffentlichkeit der gerichtlichen Verhandlungen!

Die heutige französische Gerichtsverfassung zeichnet sich in der That durch Reinheit und strenge Abgeschlossenheit auf sehr vortheilhafte Weise aus. Denn es ist der richterlichen Gewalt nichts Fremdartiges beigemischt, es ist nichts Unverträgliches, nichts Störendes mit ihr verbunden. Die Justiz hat nichts mit dem Hypothekenwesen, nichts mit dem Steuerwesen, nichts mit dem Notariaté, nichts mit der Obervormundschaft *)

*) Der Familienrath (Cod. civ. art. 405-419) bildet in Frank, reich die obervormundschaftliche Behörde:

zu schaffen. Die Trennung aller, nicht im engsten Begriff der Justiz enthaltenen Richterfunktionen ist grundsäßlich ausgesprochen und strenge durchgeführt. Trennung der Justiz und der Verwaltung ist hier oberster Grundsaß. In Frankreich steht daher die Hierarchie der Justiz, einer in sich abgeschlossenen Hierarchie der Verwaltung, stehen die Friedensgerichte den Bürgermeisterämtern, die Erstinstanzgerichte den Unterpräfecturen, die Appellationshöfe den Präfecturen in strengster Sonderung gegenüber. In Frankreichs heutiger Gerichtsverfassung ist daher eine von Justizstelle zu Justizstelle fortschreitende, in sich selbst streng abgeschlossene Ordnung der Justizhierarchie, eine charakteristische Eigenthümlichkeit, die alles Lob verdient. Diese Regel der Reinheit und Abgeschlossenheit der Justiz bildet nur bei den Friedensgerichten einige Beschränkung, in so fern dieselben nebenbei noch verschiedene Handlungen der freiwilligen Gerichtsbarkeit, wie z. B. das bureau de concilation *), Versiegelungen und Entsiegelungen, das Vorsißen im Familienrathe, Aufnahme von Adoptionsacten, Emancipationen 2c. zu besorgen haben. Wegen dieser Eigenthümlichkeit und wegen der Abweichung von der Regel der Collegialität der Gerichte, werden die Friedensgerichte zu der sogenannten justice extraordinaire gerechnet. So sehr nun auf der einen Seite die Reinheit und Abgeschlossenheit der französischen Justizverfassung zu loben ist, so sehr ist auf der andern Seite der Mangel der Integrität derselben zu tadeln. Denn die Justiz hat nicht alles, was ihr zusteht. Es ist ihr so vieles entzogen, was ihr gebührt. Sie ist beeinträchtigt, verkürzt, beraubt. Es find nämlich nicht alle und jede Streitsachen, die Rechte im Innern des Staates zum Gegenstande haben, der französischen Justiz unterworfen. Vielmehr gibt es in Frankreich gewisse Behörden, denen, obwohl sie sonst mit der Gerichtsverwaltung nichts zu schaffen haben, dennoch gewaltige Eingriffe in das Gebiet der Justiz gestattet sind. Frankreich hat eine doppelte Justiz. Eine

*) Vgl. Code de procédure civile art. 48 ff.

gerichtliche und eine Verwaltungs justiz (droit contentieux judiciaire droit contentieux administratif). Die gerichtliche Justiz fällt in die Domäne der eigentlichen Justizstellen (cours tribunaux justices de paix). Aber welchen Behörden ist die Verwaltungsjustiz übertragen? Die erste Instanz der Administrativjustiz bildet ein aus 3-5 Mitgliedern bestehender Präfecturrath (conseil de préfecture), der gleichsam das Erstinstanzgericht der AdministrativJustiz ist. Der Präfecturrath wird vom Präfecten präsidirt, der auch im Falle der Stimmengleichheit mit einem überwiegenden Votum ausgerüstet ist. Das Verhältniß zwischen dem Präfecten und seinem Präfecturrathe ist im Grunde von der Art, daß die ganze Verwaltung lediglich in den Händen des Präfecten ruht. Denn nicht genug, daß derselbe mit einem überwiegenden Votum dotirt ist, er hat auch das Recht des,,exequatur." Selbst der einstimmige Beschluß des Präfectenrathes hat nämlich für sich allein keine verbindende Kraft, diese erlangt er erst durch eine Ordonnanz des Präfecten, die das „exéquatur" heißt *). Und der Präfect ist in gewissen Fällen nicht bloß befugt, sondern sogar verbunden, das exéquatur zu verweigern und an den Minifter des Innern zu berichten, um von daher den Spruch einzuholen **). - Der Staatsrath (le conseil d'état) resp. der aus 7 Staatsräthen und 8 Requetenmeistern zusammengeseßte comité de justice administrative ***) (vormals comité du contentieux genannt) bildet die zweite und leßte Instanz

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*) Vgl. Merlin repert. IX. p. 393.

**),,La justice administrative, réside toute entière dans cet admiministrateur (le préfet). C'est lui seul, qui la distribue. Les membres du conseil de préfecture n'agissent que d'après son impulsion et la plupart du temps ils se bornent à signer les arrétés, qui leur sont présentées. Berenger, de la justice criminelle pag. 349.

***) S. die ordonnance du roi vom 2. Febr. und 12. März 1831.

der Verwaltungsjustiz *). Auch ist es der Staatsrath - also gleichfalls eine Administrativbehörde welche über die Gränzverwirrungen und Gränz streitigkeiten (conflicts d'attribution) zwischen der administrativen und gerichtlichen Justiz zu entscheiden hat. Glaubt nämlich ein Präfect, daß eine Sache, die bei den Gerichten anhängig gemacht wor den ist, in das Gebiet der Verwaltungsjustiz gehöre, so kann er, nachdem er die forideclinatorische Einrede vergebens vorgebracht hat, einen Conflict erheben, über welchen vom Staatsrathe entschieden wird **). Diese Conflicte waren zur Zeit der

*) Ueber die Competenz der Administrativbehörden in Civilsachen s. die loi v. 24. Aug. 1790. loi v. 6.-11. Sept. 1790. loi v. 28. Pluviose VIII. art. 4. Reglement v. 5. Nivose VIII. art. 11. loi v. 29. Floréal X. Literatur der Administrativjustiz: Des tribunaux administratifs etc. Par Macarel. Paris 1829. Du conseil d'état selon la charte. Par Sirey. Paris 1818. Questions de droit administratif. Par de Cormenin. Paris 1826. III. edit. II. Vol. Esprit de la Jurisprudence inédite du conseil d'état sous le consulat et l'empire. Par Pétit des Rochettes. Paris 1827. II. Vol. Recueil des arrêts du conseil d'état ou ordonnances rendus au conseil d'état sur toutes les matières du contentieux de l'administration. Par Macarel. Paris 1821-1830. XI. Vol. (Fortgesezt von Deloche). Jurisprudence administrative ou récueil complèt et méthodique, par ordre alphab. des arrêts du conseil d'état en matière contentieuse. Par Chevalier. Paris 1836. II. Vol. Merlin repertoire universel et raisonné m. acte administratit. m. agent du gouvernement. m. contentieux des domaines nationales. Dalloz dictionn. de jurisprud. du roy. m. administration.

**) S. loi 7. 14. Oct. 1790. loi v. 21. Fruct. III. art. 27. Arrêtè du 13. Brumaire X. Ordonnance v. 1. Juni 1828. Literatur: Les conflicts ou empiétemens de l'autorité administrative sur l'autorité judiciaire. Par Bavour. II. Vol. Paris 1828. Commentaire sur l'ordonnance des conflits. Par Taillandier. Paris 1829. Commentaire sur l'ordonn. des conflits. Par Duvergier. Paris 1828. De la législation en matière des conflits. Par

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