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Zehntes Kapitel.

Von der innern Organisation der französischen

Gerichte.

Im Allgemeinen.

Bisher war die Rede von der äußern Organisation der französischen Gerichte oder von der französischen Gerichtsverfassung im Ganzen. Nun folgt die Darstellung der innern Organisation der Gerichte, oder die Gerichtsverfassung im Einzelnen. Was umfaßt diese innere Einrichtung? Sie begreift die amtliche Wirksamkeit, oder den Geschäftskreis derjenigen Personen, welchen das Gefeß in irgend einer Weise die Concurrenz bezüglich der Verwaltung und Handhabung der Justiz übertragen hat. Die Personen, welche auf die eine oder die andere Art in die Gerichtsverfassung eingreifen, sind: 1) die Richter, 2) die Beamten der Staatsanwaltschaft oder des öffentlichen Ministeriums, 3) die Gerichtsschreiber, 4) die Huissiers, 5) die Anwälte, 6) die Advocaten, 7) die Notarien, 8) die Hypothekenbes wahrer und 9) endlich der Justizminister. Die amtlichen Attribute, die Stellungen dieser verschiedenen Personen, bilden den Gegenstand der folgenden Kapitel.

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Von der absoluten Reinheit ihrer Attribute
überhaupt.

Den großen Gedanken der Reinheit richterlicher Attribute hat der französische Gesetzgeber mit einer anerkennungswürdigen Folgerichtigkeit und Schärfe durch den ganzen Rechtsorganismus, d. h. die ganze Gerichtsverfassung, die Civil- und Strafproceßordnung durchzuführen gewußt. In Civil- und Criminalsachen sind nämlich die französischen Richter, ihrem Grundcharacter nach, ausschließlich nur die

Finder der Urtheile. In Civilsachen instruiren nicht die Richter, sondern die Anwälte (les avoués) den Proceß, nicht die Richter expediren die Urtheile, sondern die Gerichtsschreiber, nicht die Richter, sondern die Gerichtsboten (les huissiers) vollziehen auf Betreiben der obsiegenden Partheien die gesprochenen Urtheile. — In Criminalsachen verklagen und verfolgen nicht die Richter, sondern die Staatsanwälte, ingleichen haben nicht die Richter im Schlußverfahren die Anklage'zi zu begründen, sondern die Staatsanwälte, endlich haben nicht die Richter die gesprochenen Strafurtheile zu vollziehen, sondern die Staatsanwälte. Wie strenge der französische Gefeßgeber an diesem Grundsage

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einer möglichst vollkommenen richterlichen Attributenreinheit festhält, geht am schlagendsten daraus hervor, daß er dem franzöfischen Untersuchungsrichter nur gestattet hat, Befehle zu erlaffen, nicht aber auch sie zu vollziehen. Der Untersuchungsrichter erläßt zwar die Erscheinungs-, Verwahrungs-, Vorführungs- und Verhaftsbefehle (vgl. Code d'instr. crim. art. 91 ff.), allein er ist nicht befugt, selbst diese Befehle zu vollziehen, sondern er hat sie dem Staatsanwalte zum Vollzuge zu übergeben. Die Einrichtung, daß die französischen Richter in Civil- und Straffachen die Urtheile schlechthin nur zu finden haben, ist jedenfalls ein guter legislativer Griff, zumal wenn man erwähnt, daß eine möglichst vollkommene Reinheit der richterlichen Attribute viel dazu beitragen dürfte, das Vertrauen in die richterliche Unabhängigkeit und Selbstständigkeit bis auf das höchste zu steigern. Daß in Civilsachen hie und da vom Gerichte noch besondere Instructionen, Berichterstattungen und Commissionen angeordnet werden, oder daß in Straffachen eines seiner Mitglieder als Untersuchungsrichter aufgestellt ist, das widerspricht dem Grundsaße jener absoluten Reinheit richterlicher Attribute in keiner Art. Denn derlei ist ja nur darauf berechnet - in Civilsachen

die von den Partheianwälten instruirten Processe zu vervollständigen, zu berichtigen, die etwa gelassenen Dunkelheiten aufzuklären und die entstandenen rechtlichen und faktischen Bedenken zu beseitigen, in Criminalsachen - die von den Staatsanwälten erhobenen Anklagen näher zu prüfen, sowie die Wahrheit oder Falschheit derselben genauer zu untersuchen. Alles das geschieht demnach vom Gerichte, nur um die Gründlichkeit und Gerechtigkeit seiner Urtheile vorzubereiten, von Urtheilen, die das Gericht nie von Amtswegen, sondern schlechthin immer nur auf Partheibetreiben auszusprechen hat, von Urtheilen, die sehr oft nicht auf bloße Parth ei angaben hin, sondern im Interesse der materiellen Gerechtigkeit, in Erwägung der Wichtigkeit, Schwierigkeit und Weitläuftigkeit einer Proceßsache, erst nach voraus-, gegangener eigener nähern Prüfung der von den Partheien

vorgebrachten Civil- oder Criminal materialien ausge sprochen werden können.

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Von den Richtern an den Tribunalen der ersten Instanz.

Die Richter und nur diese sind befugt, urtheile zu fällen. Beim Finden derselben ist ein Richter dem andern vollkommen gleich. Das Votum des einen Richters gilt soviel als das Votum des andern. Es treten jedoch in gewissen Bezies hungen unter den Richtern Ungleichheiten ein, und zwar nur in sofern, als bestimmte Richter befugt sind, gewisse Amtshandlungen ausschließlich und kraft eines besonderen Vorrechtes auszuüben. Diese bevorrechteten, mit größerer Amtsgewalt bekleideten Richter heißen - Präsidenten.

Die einfachen Erstinstanzgerichte haben nur einen Präsidenten. Die zusammengefeßten Tribunale erster Instanz haben außer dem Präsidenten noch einen Vicepräsi denten. Die Stellung eines französischen Gerichtsvorstandes ist von hoher Bedeutung. Einmal wegen des Einflusses, den er auf seine Collegen gewöhnlich ausübt, und dann wegen der Wichtigkeit der ihm übertragenen Amtsverrichtungen. Abgesehen davon, daß der Präsident, gleich wie die übrigen Richter, berechtigt und verpflichtet ist, zum Urtheile mitzustimmen, so sind dem Präsidenten folgende Attributionen ausschließlich vorbehalten. Der Präsident hat die Leitung des geschäftlichen Mechanismus. Er besorgt die Vertheilung der Sachen, die Firation des Tages der gerichtlichen Verhandlungen. Er unterzeichnet die Urtheilsconcepte im Gerichtsjournal (Register). Er hat den Vorsiß zu führen, und die Umfrage zu halten. Er leitet in der öffentlichen Audienz die Proceßverhandlungen. Also er vernimmt die Partheien, verhört die Zeugen, verliest die Urkunden, ertheilt das Wort und verkündiget das Urtheil. Außerdem haben die Präsidenten der Tribunale erster Instanz das

nur ihnen*) zustehende Recht in gewissen Fällen allein, d. h. ohne Zuziehung ihrer Collegen, zu entscheiden, zwar nicht durch ein Urtheil (dieß kann nur das Collegium), sondern durch Ordonnanzen. Sie dürfen nämlich 1) die geseßlichen Vorladungsfristen wegen Gefahr auf dem Verzuge verkürzen (ordonnances à brèf délai). 2) Sie dürfen in dringenden Fällen, jedoch immer mit Vorbehalt der Entscheidung in der Audienz, provisorische Verfügungen erlassen. So können fie z. B., wenn das Recht der Versiegelung, oder Entsiegelung streitig ist, einstweilen die Versiegelung oder Entsiegelung verordnen. Sie können in Schuldsachen die provisorische Freilafsung des Schuldners befehlen. Sie können bei Auspfändungen, wenn sich ein Dritter als angeblicher Eigenthümer der Sachen der Pfändung widerseßt, die einstweilige Beschlagnahme bis zur gerichtlichen Entscheidung über das Recht der révendication verfügen. Sie können endlich, wenn bei Gelegenheit der Vollziehung eines executorischen Litels, oder eines Urtheils fich Schwierigkeiten erheben, bis zur Entscheidung in der Audienz provisorische Verfügungen erlassen u. f. w. Solche Ordonnanzen, die von den Präsidenten der Tribunale erster Instanz erlassen werden können, heißen „ordonnances sur référés.“ Zur Annahme der Gesuche um eine ordonnance sur référe haben die Präsidenten besondere Audienztage und Stunden durch öffentliche Bekanntmachungen anberaumt (audiences des référés). Diese audiences des référés werden gewöhnlich im Gerichtsgebäude gehalten **). Der Präsident kann jedoch in sehr dringenden Fällen, auf eingereichtes Gesuch sogar in seinem Hause, selbst an Sonn- und Feiertagen, référés annehmen ***). Zum Schlusse sind noch einige untergeordnete Functionen der Präsidenten anzuführen. Sie haben nämlich

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*) Denn den Präsidenten an den Appellhöfen eben so wenig, als den Präsidenten an den Handelsgerichten steht dies Recht zu.

**) In Paris im palais de justice Mittwochs und Freitags um 12 Uhr. ***) Vgl. Code de proc. civ. art. 806-811.

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