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keit und die stramme Organisation des Sanitätsdienstes der Staatsbahn ganz genau bekannt sind."

Die grosse Wichtigkeit, welche den Keller'schen Daten und zwar mit um so grösserem Rechte zuerkannt werden musste, als dieselben durch das Vertrauen in den wohl disciplinirten Geschäftsgang der grössten Eisenbahngesellschaft Oesterreich-Ungarns gehoben werden, führte mich zu dem Entschlusse, diesen merkwürdigen Ergebnissen näher zu treten. Ich schrieb vor Allem an Keller selbst, musste aber erfahren, dass derselbe vor Kurzem in Klosterneuburg gestorben sei. Darauf begab ich mich nach Wien, um mir bei der Direction die Erlaubniss zu erwirken, in das Urmaterial Einsicht zu nehmen und die Berechnungen zu überprüfen. Hier erfuhr ich aber zu meiner unangenehmen Ueberraschung, dass Keller, als er vor mehreren Jahren aus seinem Amte schied, diese Daten unrechtmässiger Weise mit sich genommen habe. Der Nachfolger Keller's, Chefarzt Reumann, hatte dieselben vor Jahren wohl zu Gesichte bekommen, konnte aber über deren Inhalt nur so viel angeben, dass soweit ihm die Begleitschreiben der Bahnärzte erinnerlich seien, manche derselben sich in entschiedenster Weise für den günstigen Einfluss der Impfung aussprechen ein Umstand, der weiter unten noch seine Bestätigung finden soll. Da schliesslich auch die Recherchen die ich in Klosterneuburg und bei den Erben Keller's in Prag unternahm, zu keinem Resultate führten, es also scheint, dass das Keller'sche Material nicht mehr existirt, versuchte ich schliesslich den letzten Weg, nämlich mich direct an die aus dem Jahre 1872 noch am Leben befindlichen Bahnärzte mit der Anfrage zu wenden, ob nicht etwa Copien ihrer seinerzeitigen Blatternberichte vorfindlich wären. Auf solchem Wege war doch die Möglichkeit geboten, wenigstens Bruchstücke dieses wichtigen statistischen Materials zu retten, beziehungsweise mit jenen Angaben zu vergleichen, die Keller für die Jahre 1872 und 1873 nach Bahnstrecken veröffentlicht hatte. Von neunzehn Strecken- beziehungsweise Werksärzten, die die Güte hatten, auf mein Ersuchen einzugehen, waren nun acht in der Lage, mir Copien ihrer Originalberichte einzusenden; auf solche Weise wurde es mir möglich, einen insgesammt 644 Erkrankungsfälle umfassenden Theil der Keller'schen Arbeit zu reconstruiren und zu revidiren.

Ich komme sogleich auf die Ergebnisse dieser Reconstruirung zurück, muss aber vorher eine allgemeine Bemerkung über die Beschaffenheit der Quelle und des Materials vorausschicken.

Das Directionscircular Nr. 50393 der österreichischen Staatsbahngesellschaft, durch welches die Bahnärzte zur Veranlagung der mit dem 1. Januar 1872 anzuhebenden Blatternstatistik aufgefordert wurden, datirt nicht etwa vom Ende des Jahres 1871, sondern vom Ende 1872; es trägt das Datum des 19. November 1872, gelangte also erst zu Jahresschluss in die Hände der Bahnärzte. Wenn nun die Bahnärzte im December 1872 darüber Auskunft zu geben hatten, ob ein im Januar Erkrankter geimpft, ungeimpft oder revaccinirt gewesen, so konnte eine verlässliche Antwort hierauf nur erfolgen, wenn entweder die Krankenprotokolle die hierauf bezüg lichen Aufzeichnungen enthielten, oder aber seitens der Bahnärzte alle Erkrankten noch einmal aufgesucht und über ihren Impfzustand befragt wurden.

Was nun die Protokolle betrifft, verdanke ich der Güte des Herrn Dr. Borbély, Chefarzt der ungarischen Linien der Staatsbahngesellschaft, die Copie beziehungsweise den Auszug des betreffenden Protokolles der Pester Bahnärzte und ist hieraus ersichtlich, dass dasselbe nur die folgenden Rubriken enthält:

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Wie man sieht, enthält das Protokoll keinerlei Vormerk über den Impfzustand der Erkrankten. Aus dieser Quelle konnten also die betreffenden Angaben nicht, oder nur für den Fall geschöpft werden, als der Bahnarzt den Impfzustand aus freien Stücken notirt haben sollte. Dies erfolgte z. B. in Anina durch Dr. Kicska; doch ist dies nur als Ausnahme zu betrachten. Die Pester Protokolle z. B. enthalten nicht den geringsten Anhaltspunkt über den Impfzustand.

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Bliebe also anzunehmen, dass der Impfzustand der im Jahre 1872 Erkrankten durch nachträgliche Befragung im Laufe des Jahres 1873 festgestellt worden sei. Wie sollte aber eine derartige nachträgliche Erhebung namentlich dort möglich sein, wo es sich um das stets wechselnde Personal der Arbeiter, Wagenschieber, Tagelöhner und dergleichen einer Bahnunternehmung handelt? Selbst für den Fall, als bei allen Bahnärzten die immerhin noch zweifelhafte gute Absicht vorhanden gewesen wäre, der Statistik zu Liebe die der langen Bahnstrecke entlang wohnenden Bediensteten in strenger Winterszeit aufzusuchen, wäre dieselbe an der Unmöglichkeit der Ausführung gescheitert 1). Eine gewissenhafte Beantwortung der Keller'schen Fragen für 1872 ist also von vornherein ausgeschlossen. Wenn trotzdem Daten einliefen und die Rubriken der Tabellen des Chefarztes alle ausgefüllt wurden, so mag dies theilweise wohl in Bestätigung der altbewährten bureaukratischen Maxime geschehen sein,

1) Auf meine an die Herren Bahnärzte gerichtete Rundfrage, ob eine solche nachträgliche Erhebung bei dem grossen Wechsel der Bediensteten möglich gewesen wäre, erhielt ich zum Theil namentlich von Werksärzten, die es mit einer ständigeren Arbeitsbevölkerung zu thun haben, sowie von kleineren Strecken, oder solchen, die wenige Fälle hatten bejahende, zumeist aber doch verneinende Antworten. So schreibt mir z. B. Dr. Kicska, seinerzeit Werksarzt zu Anina, am 18. December 1886: „Ich bin der Ansicht, dass eine solche nachträgliche Erhebung bei dem steten Ortswechsel der Bahn-, Bergwerksund Hüttenarbeiter und Angestellten auf unüberwindliche Schwierigkeiten stossen müsste." Es möge hierbei erwähnt sein, dass Dr. Kicska im Jahre 1874 im Budapester Orvosi Hetilap im Nachtrage zu Keiler's Arbeit einen entschieden impfgegnerischen Artikel zur Vertheidigung der Keller'schen Ergebnisse veröffentlichte; seine obige Aussage, welche den Werth der Keller'schen Daten so erheblich devalvirt, fällt also besonders schwer ins Gewicht.

dass die vorgesetzte Behörde irgend eine Statistik nur ernst zu wollen braucht, um sie auch zu haben! Dahin läuft wohl auch die Bemerkung eines alten Bahnarztes hinaus, der mir in dieser Angelegenheit schreibt: „Unter uns gesagt, wusste man doch sehr gut, dass der Chefarzt ein Impfgegner sei; die Ausweise waren also seinem Geschmacke nach zubereitet und verdienen desshalb kein volles Vertrauen.“

Aus solcher trüben Quelle fliessen also jene Beobachtungen, die man als die einzig verlässlichen und richtigen auf dem grossen Gebiete der Blatternstatistik hinzustellen liebte und denen man zumuthet, alle bisherige, unverlässliche Impfstatistik über den Haufen zu werfen. Doch nehmen wir die Quelle, die nun heute nicht mehr geklärt werden kann, so wie sie ist und sehen wir, was die hieraus geschöpften Beobachtungen eigentlich besagten. Wir können uns hierbei mit dem Gedanken beruhigen, dass einige Aerzte denn doch in der Lage waren, verlässliche Angaben einzusenden. Auf Grund der mir über die Beobachtungen in Anina, Brünn, Budapest, Dognácska, Grussbach, Monor, Olmütz, Raudnitz, Steierdorf und Szegedin gütigst gemachten Mittheilungen, beziehungsweise auf Grund der mir zugesendeten Duplicate der an Dr. Keller seinerzeit eingesendeten Originaltabellen, lässt sich für die Jahre 1872 und 1873 (1874 unterbleibt, weil Keller's Tabellen die Controle der einzelnen Strecken nur für die genannten zwei Jahre ermöglichen) die hier folgende Tabelle, die sich in ihrer Einrichtung genau an die Keller'sche anschliesst, zusammenstellen.

Diese theilweise Reconstruction der Keller'schen Statistik führte nun zu folgenden, in ihrem impfgünstigen Inhalte nicht wenig überraschenden Resultaten, wobei wir schon von vornherein nur die Ueberzweijährigen ins Auge fassen.

Es starben von den überzweijährigen Erkrankten

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36 zweifelhaften Fällen 6 (= 16.66 Proc.).

Also trotz der Unverlässlichkeit, welche den Keller'schen Angaben von Hause aus anhaftet, ergaben dieselben noch immer einen 211⁄2 fach grösseren Schutz für die Geimpften als für die Ungeimpften! Man mag ferner auch noch in eine weitere Auftheilung des Alters nach kleineren Altersclassen eingehen, überall findet man, dass die Geimpften besser daran gewesen, dass die Impfung dieselben geschützt habe.

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Begreiflicher Weise muss man nun staunen und mit berechtigter Neugierde zu erfahren wünschen, wieso denn Keller dazu gekommen sei, impffeindliche Resultate zu gewinnen. Seine ganze Arbeit zu reconstruiren, ist heute leider eine Sache der Unmöglichkeit. Die hier geretteten Reste sind aber genügend, um uns ganz deutlich erkennen zu lassen, in welcher Art und Weise Keller gearbeitet hatte und so den Stab über diese Arbeit brechen zu lassen. Keller hat nämlich keinen Anstand genommen, die ihm eingesendeten Tabellen zu verändern! Wie sich aus der durch Keller's Stationstabelle ermöglichten Vergleichung der auf jede einzelne Strecke bezüglichen Angaben herausstellt, hat Keller ausnahmslos in jeder der reconstruirbaren Bahnstrecken die Originaltabellen abgeändert, und zwar sind diese Abänderungen consequenter Weise in der Tendenz erfolgt, die Mortalität der Geimpften zu erhöhen, jene der Ungeimpften zu vermindern und so die Schutzkraft der Impfung zu compromittiren.

Eine so schwere Beschuldigung muss erwiesen werden, und ich trete hiermit auch den Wahrheitsbeweis an, indem ich Ihnen, geehrte Herren,

1) Bedienstete, also über 2 Jahre alt.

einerseits die Daten, wie diese von Keller veröffentlicht wurden, andererseits so wie sie ihm von den Streckenärzten eingesendet wurden, vorlege. Ich unterbreite Ihnen zugleich die ganze Correspondenz, die ich in dieser Angelegenheit führte. Sie können sich mit eigenen Augen von der Richtigkeit

oder Unrichtigkeit meiner Behauptungen überzeugen.

Was vor Allem die Strecke Pest betrifft, so theilten sich seinerzeit drei Bahnärzte in dieselbe. Von den drei Protokollen ist eines seither verbrannt; wir können solcherart nur zwei Drittheile der Statistik dieser Strecke reconstruiren. Nach den Mittheilungen der Herren Borbély und Boleman, betrug die Anzahl der Erkrankten 29, der Verstorbenen 2; wie viele hierunter geimpft, wie viele nicht geimpft waren, können die Herren nicht angeben, weil, wie erwähnt, das Protokoll dessen Excerpt ich Ihnen hier vorweise hierüber gar keinen Vormerk enthält. Diese Fälle mussten also als zweifelhaft betrachtet werden, während Keller für Pest nur vier Zweifelhafte ausweist. Unter den obwaltenden Umständen lässt sich übrigens auf die Pester Aufzeichnungen kein besonderes Gewicht legen. Desto mehr aber auf die nachfolgenden.

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Dr. Gailly, Bahn- und Gemeindearzt in Grussbach, berichtet unterm 14. December v. J., dass er insgesammt vier Blatternkranke gehabt habe; hiervon einer geimpft und genesen, hingegen drei Ungeimpfte, von denen zwei richtig starben. Keller führt statt dessen nur einen Todesfall an, setzt aber diesen Verstorbenen fälschlich unter die Geimpften, während derselbe ungeimpft war! Dr. Gailly erinnert sich daran, dass Keller in seiner Broschüre seine Angaben verkehrt wiedergegeben habe. „Dr. Keller war eben Impfgegner", fügt er gleichsam entschuldigend hinzu.

In Olmütz erkrankten laut Mittheilung des Herrn Dr. Brecher fünf Geimpfte und alle genasen; Keller hat diese Daten unterdrückt. Sie suchen die Station Olmütz vergeblich in dessen hier vorgelegtem Separatabdruck. In Raudnitz (Dr. Eisler vom 20. December 1886) erkrankten vier geimpfte Personen, alle genasen: Keller führt bloss zwei an.

In Szegedin erkrankten nach brieflicher Mittheilung von Dr. Machold vom 27. December v. J. vier geimpfte Personen und genasen alle. Diese vier Personen waren: ein Schlosser, ein Weichensteller und zwei Tagelöhner. Diesen, in ihrer Präcision allen Irrthum ausschliessenden Angaben gegenüber behauptet Keller, dass in Szegedin sechs Personen erkrankten, eine gestorben, und dass diese eine geimpft gewesen wäre!

Dr. Pichler sendet mir am 21. Februar d. J. die hier vorgewiesene Originaltabelle über die Blatternstatistik der 5800 Seelen zählenden Colonie Steierdorf. Wie sie aus derselben ersehen, sind daselbst bei den Geimpften nur einer von je 25 Kranken, bei den Ungeimpften aber einer von je dreien gestorben. Nach Keller hätte aber die Sterblichkeit der Ungeimpften nur 1/ betragen; dieses Resultat erreichte Keller, indem er die Anzahl der ungeimpften Kranken von 38 auf 68 corrigirte1)! In Folge dieser auffälligen Verschiedenheit schrieb ich am 1. März nochmals an Herrn Dr. Pichler, und indem ich die Wichtigkeit seiner für Keller gravirenden Aussage

1) Es waren also nach dem Originalbericht von 38 Ungeimpften 13 gestorben; bei Keller heisst es, dass diese 13 auf 68 Erkrankte entfielen.

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