Page images
PDF
EPUB

Nachrichten kamen, daß die Türken bei Rafa die Grenzsteine entfernt und Truppen bei El-Arîš und Aqaba versammelt hatten. Daraufhin entschloß sich Lord Cromer im Anfang Mai, die englische Garnison in Ägypten zu verstärken und energische Schritte zu ergreifen. Am 3. Mai 1906 wurde der Pforte eine heftige Note überreicht (s. Anhang Nr. 4), in der kategorisch die Grenzregulierung auf der Linie Rafa-Nordpunkt 'Aqaba Golf und die Räumung von Taba verlangt ward. Man forderte eine Entscheidung binnen zehn Tagen.

Am folgenden Tage ging die englische Flotte unter Admiral Lord Charles Beresford nach dem Piräus. Es ist charakteristisch, daß schon damals die französischen und russischen Vertreter in Kairo die englischen Schritte billigten, während sie den deutschen, österreichischen und italienischen nur mitgeteilt wurden. Da man einen türkischen Raid" nach el-Nachl auf der Sinaï-Halbinsel und infolgedessen einen Ausbruch von Fanatismus in Ägypten fürchtete, unternahm die englische Flotte es, alle Vorbereitungen für die Verteidigung des Kanals zu treffen, während die Armee bereit war, nach den Umständen zu handeln (S. 28 der englischen Denkschrift). Große Mengen von Truppen wurden für Ägypten bereitgestellt, ein Geschwader unter Rear-Admiral Sir Henry Hedworth Lambton in den ägyptischen Gewässern versammelt. Außerdem benachrichtigte man gewisse Mächte" von allen Anordnungen, um Verzögerungen zu vermeiden, die sich aus. den durch die Suezkanal - Konvention vorgeschriebenen Formalitäten ergeben könnten. Es wurde aber betont, daß die Flotte nichts unternommen haben würde, außer auf Requisition der ägyptischen Regierung also Englands selbst, die für die Neutralität des Kanals verantwortlich sei.

Eine türkische Note vom 13. Mai wurde für ungenügend erklärt. In der Antwort betonte Sir Edward Grey, daß England nie die Oberhoheit der Türkei gegenüber Ägypten bezweifelt habe, daß aber, wenn diese Oberhoheit unvereinbar mit der britischen Okkupation Ägyptens sei, die britische Stellung in Ägypten mit der ganzen Kraft des englischen Reiches aufrechterhalten werden würde.

Endlich, am 14. und 15. Mai, wurden Noten gewechselt (s. Anhang Nr. 5 und 6), nach denen die Türkei alle eng

lischen Bedingungen annahm, und England sich zufrieden erklärte. Der Zwischenfall war erledigt; aber Lord Cromer hielt es doch für geboten, eine starke Vermehrung der englischen Garnison in Ägypten zu beantragen, deren Kosten dem ägyptischen, nicht dem englischen Budget zur Last fallen sollten, denn die öffentliche Meinung war bei dieser Gelegenheit sehr stark erregt worden. 1 Eine Grenzkommission wurde ernannt, und deren Ergebnisse sind in dem Vertrage vom 1. Oktober 1906 (s. Anhang Nr. 7) niedergelegt, der die Grenze ganz nach englischem Wunsche regelte. Die Sinaï-Halbinsel war nun das Glacis für die Verteidigung von Ägypten geworden, ein neues Mittel für England, den Suezkanal und damit den Seeweg zum Osten zu beherrschen. Und die Pläne der Türkei, eine strategische Bahn wie England sie nannte zum Kanal zu bauen, waren verhindert.

Heute ist die Halbinsel das Gebiet, in dem sich ein Angriff auf Ägypten vorbereitet. Die damaligen Verhandlungen konnten nicht verhindern, daß die Türken am 10. November El-Arîš und am 18. November 1914 En-Nachl besetzten, und daß schon am 22. November die erste türkische Patrouille am Kanal erschien, der am 27. Januar und 26. März 1915 größere Gewalterkundigungen folgten. Diese Bedrohung hattte auf alle Fälle die sofortige Wirkung, daß eine bedeutende englische Truppenmacht in Ägypten von den anderen Kriegsschauplätzen abgezogen wurde. Die Streitfrage von 1906 aber zeigt uns, wie schon damals England auf eine Verteidigung durch englische Truppen auf ägyptische Requisition vorbereitet war, und welchen großen Wert es auf den unbestrittenen Besitz der Halbinsel legte, indem es bei der Durchsetzung dieser Ansprüche nicht vor der Eventualität eines Krieges mit der Türkei zurückschreckte. Wenn schon die Frage der SinaïGrenze eine derartige Aufregung veranlaßte, so kann man

1 Interessant ist der Brief eines Ägypters, den Lord Cromer in der erwähnten Denkschrift veröffentlicht. Zu Aufständen in Ägypten fehle jede Organisation, und wenn ein Krieg zwischen England und dem Sultan ausbräche, dann würde jeder Mohammedaner nur auf den Chalifen hören. Die Ägypter liebten die Türken nicht, aber der Sultan sei Chalif und sein Ruf der des Glaubens, die Stimme des Propheten. Dem siegreichen Chalifen würde ganz Ägypten zur Seite stehen (siehe auch Schweinfurth im „Berl. Tageblatt" vom 11. Nov. 1914).

ermessen, daß England den Besitz von Ägypten selbst als eine Lebensfrage betrachtet, daß es aber dort auch am verwundbarsten ist.

Dem Kulturhistoriker würde die Halbinsel die interessantesten Probleme bieten. Nicht nur durch Erforschung der sogenannten Gebalîa-Leute am Sinaï-Berge, die man vielfach für Reste der von Kaiser Justinian im Anfang des 6. Jahrhunderts dorthin gebrachten Truppen oder Sklaven hält, die aber vielleicht auch alte Berberstämme sein können

denn man hat doch auf der Halbinsel Inschriften in der libyschen Tamazigh - Sprache gefunden. Viel interessanter würde die Erforschung der alten Kulturreste sein, die weit über die Grenzen von Palästina hinaus die frühere Besiedlung des Landes mit einer seßhaften Bevölkerung zeigen, welche den Weinbau betrieb, und endlich als Wichtigstes die genaue Untersuchung von 'Ain Qadeš, wo wahrscheinlich das Hauptheiligtum des Jaweh stand, und wo Moses seine Inspirationen erhalten haben soll. Dies Quellengebiet, das dicht an der damals festgestellten Grenze liegt, ist heute noch einer der wenigen Punkte, wo dauernd Wasser zu haben ist, und wo ohne weitere Vorbereitungen Menschen längere Zeit sich aufhalten können. Vielleicht veranlassen diese Zeilen einen Herrn, der dorthinkommt, wenigstens vorläufige Feststellungen zu machen, um eine spätere Untersuchung vorzubereiten.

Die

6. Kapitel

Die Provinz (Hedschas) Hiğâz

ie Städte Mekka und Medîna wurden zu „Heiligen Orten" (Ḥarâmên) erklärt. Nach der Übersiedlung der Chalifen nach Damaskus blieben viele Leute in diesen Heiligen Orten Anhänger der Blutsverwandten des Propheten, und zwar besonders der Nachkommen des Ḥasan, die von den Arabern verehrt wurden. Dadurch kamen sie in Gegensatz zu den 'alîdischen 'Abbâsiden-Chalifen, die ihren Sitz in Baghdâd hatten. Mekka wurde sogar von 'alîdischen Heeren um 815 geplündert. Die Chalifen hatten immer ihren Vertreter in Mekka. Seit 891 kam die Sekte der Qarmaten auf, die sich gegen den offiziellen Islam und das 'Abbâsiden

chalifat wendete. Von ihrem in Bahrain aufgerichteten Reich aus überfielen sie Mekka 930, wo gerade nicht einmal ein offizieller Vertreter vom Chalif anwesend war. Der heilige schwarze Stein" wurde nach Bahrain fortgeschleppt. Da ihr Plan, den Chalif durch Plünderung zu treffen, nicht geglückt war, sandten sie den schwarzen Stein 950 zurück.

Bei der Zerstückelung des Chalifats wurde der Ḥiğâz wie fast ganz Arabien als herrenloses Gebiet betrachtet, das nichts einbrachte. Nur in den Heiligen Orten blieb die Ausübung gewisser Rechte für die islamischen Fürsten von Bedeutung. Wer hier kein Ansehen hatte, verlor es im ganzen Gebiet des Islam. Die Pilgerkarawanen wurden durch Heere begleitet, um den betreffenden Herrschern Ansehen in Mekka zu verschaffen. Seit 969 erlangten die kräftigen 'alîdisch-ismâîlitischen Fâțimiden von Ägypten in Mekka das Übergewicht gegen die machtlosen 'Abbâsiden. Teils erreichten sie dies durch Bestechung, teils infolge der wirtschaftlichen Abhängigkeit des Ḥiğâz von Ägypten, besonders in bezug auf die Lebensmittelversorgung.

Bei der allgemeinen Anarchie in den inneren Zuständen von Mekka erlangten allmählich die 'Alîden das Übergewicht, die unter den Beduinen viele Verwandte hatten. Die Nachkommen von 'Alî wurden allmählich allein als Scherifen (Šerîf, pl. Šorfâ) bezeichnet, womit man früher die Häupter aller edlen Araberstämme benannt hatte. Seit etwa 961 aber gewinnt die Hasanidenfamilie der Mûsâwî die Oberhand, ihr Vertreter Dja'afari (Ğa far) eroberte um 960 Mekka und war dort bis 980 der erste Großscherif, das heißt einheimischer Fürst, welcher die innere Verwaltung führte, bei den Beduinen der Umgegend Ansehen hatte, und neben dem der Vertreter des Chalifen oder Sultans meist nicht viel Einfluß besaß.

Die Geschichte von Mekka unter den Großscherifen ist von Snouck Hugronje in seinem Buche „Mekka" (Haag 1888) ausführlich beschrieben. Ich gebe hier nach ihm nur wenige Daten. Unruhen und Anarchie hörten nicht auf, die Großscherifen waren bald von Ägypten, bald von Baghdâd abhängig, je nach den Geldern, die sie von einem oder dem anderen Orte bezogen. Durch die Abgaben der Pilger, Besteuerung und Zölle war die Stellung der Großscherifen

Hamburgische Forschungen. Heft 1.

3

ganz einträglich. Das Heilige Gebiet war ein Ausbeutungsgegenstand, dessen Besitz natürlich den Neid vieler erregte. Immerhin hatten die Ägypter großen Einfluß aus wirtschaftlichen Gründen. In Mekka hatte man aber auch die Getreidezufuhren aus dem Jemen nötig, und durch diese Beziehungen kamen Ende des 12. Jahrhunderts auch zaîditische Einflüsse nach Mekka. Das Scherifat war an die 'Alîdenfamilie der Hawâšim gekommen. 1147 hatte Saladin von Ägypten Teile von Jemen erobern lassen. Sein dortiger Statthalter galt gewissermaßen auch als Hüter der Heiligen Orte; Saladin schaffte die Kopfsteuer ab, welche durch die Scherifen von den Pilgern erpreßt wurde. Als Entschädigung aber gab er ihnen eine Geld- und Getreidesubvention. Viel kümmern konnte auch Saladin sich nicht um Mekka; er hatte mit Ägypten genug zu tun.

In der Gegend von Janba saß ein Zweig der Ḥasâniden, dessen Haupt Ende des 12. Jahrhunderts Qatâda war. Dieser entriẞ um 1202 den Ḥawâšim die Herrschaft über Mekka und wurde so Großscherif, der Stammvater der noch heute regierenden Fürsten von Mekka. Sein Ziel war, mit allen Mitteln ein möglichst unabhängiges Fürstentum des ganzen Ḥiğâz zu gründen, ein Unternehmen, das wegen der Zersplitterung der Bevölkerung in zahllose Parteien und wegen der Einflüsse fremder Staaten nicht ganz glückte. Immerhin dehnte er seine Herrschaft aus von Janbu und Medîna im Norden bis Hâlî in Jemen im Süden. Er interessierte sich sehr für die hasanidischen Zaîditen in Jemen, doch traten die Scherifen bald zum šâfi'itischen orthodoxen Bekenntnis über. Als ein Heerführer der ägyptischen Aijûbiden, Nûr ed-Dîn, sich 1232 in Jemen selbständig gemacht hatte, kämpften in Mekka Ägypten und Jemen um die Vorherrschaft. Jemen hatte zeitweilig solchen Einfluß, daß sein Emir sogar 1240 die indirekten Steuern in Mekka abschaffte, die allerdings bald wieder eingeführt wurden. Bis 1254 stritten sich die Söhne und Enkel von Qatâda um die Herrschaft, Mord und Totschlag waren alltägliche Dinge.

Nachdem 1258 die Mongolen Baghdâd eingenommen, und das 'abbâsidische Chalifat dort bedeutungslos geworden war, hörte auch der Einfluß der Pilgerkarawanen aus dem Irâq in Mekka auf. Dagegen gewann Ägypten unter dem Mame

« PreviousContinue »